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Der Gestellungsbefehl

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Nach Monaten vergeblichen Wartens und der Musterung wenige Wochen nach der freiwilligen Meldung, erhielt Karl am 23. Mai 1941 den Gestellungsbefehl.

Am Abend, von der Arbeit nach Hause kommend, überreichte ihm die Stiefmutter unter Tränen das Schriftstück.

Herrgott, war er aufgeregt! – Sollte er jubeln? Ihm wurde ganz heiß. Er setzte sich still auf die Bank am Hauseingang und blickte versonnen auf das Dokument. Seine Glieder waren plötzlich wie gelähmt. Mit trockener Kehle las er Wort für Wort der Einberufung. Er begriff: Er hatte sich am 3. Juni 1941 in Neuruppin bei der Panzer-Ersatzabteilung 5 zu melden.

Die Abendsonnenstrahlen fielen auf sein heißes Gesicht. Langsam ließ er das Papier sinken. Nun war die Zukunft klar. Mutter setzte sich stumm neben ihn. Tränentau glitzerte in Ihren Wimpern.

Seine leibliche Mutter war 1927, kurz nach seinem dritten Lebensjahr, gestorben. Ein Jahr später hatte Karls Vater eine Frau neu gewählt und ins Haus genommen. Seit jener Zeit war Karls Schicksal mit dem der Stiefmutter fest verbunden. Sie war ihm wie seiner vier Jahre älteren Schwester und den drei nach ihm geborenen Kindern eine vorbildlich sorgende und zärtlich liebende Mutter, an Fleiß, Umsicht und Willenskraft nicht zu übertreffen. Sie hatte starke Arme, ein gutes Herz und einen respekteinflößenden Charakter. Und neben der Kindererziehung und der Arbeit im Haushalt, dem Strümpfe stopfen, dem Nähen und dem Bügeln, rackerte sie sich vom frühen Morgen bis Mitternacht ab. Dazu musste sie auch noch auf dem Rittergut arbeiten. Mutterliebe – plötzlich wusste Karl, das ist ein göttliches Geschenk, wie ein blinkender Lichtstrahl in dunkler Nacht, der das Herz eines dankbaren Kindes höher schlagen lässt. Und er war ihr unendlich dankbar für ihre Liebe, die sie ihm zeitlebens geschenkt hatte.

In jenem Augenblick; da Karl in den Abendhimmel wie gedankenversunken blickte, begriff er plötzlich Mutters große Unruhe, ihre quälende Angst. Sie glaubte, ihn in diesem Krieg zu verlieren. Siebzehn Jahre hatte er in der Geborgenheit der Familie gelebt, davon umgab ihn die Stiefmutter zwölf Jahre mit ihrer sorgenden Hand. Sie hatte ihm Nestwärme und vieles mehr geschenkt. Nun wollte er, kaum flügge geworden, in die Welt hinaus fliegen, ohne zu bedenken, dass dort der unselige Krieg tobte und dort täglich abertausend Menschen gnadenlos gemordet wurden.

Vier Tage später – Karl war sehr spät nach Hause gekommen, die Geschwister lagen schon im Bett – saß seine Mutter mit verweintem Gesicht in der Wohnküche am Tisch. Bei seinem Eintreten schnäuzte sie sich und hob ihre Augen wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln. Sie litt unter der schrecklichen Angst, ihren Mann, der seit dem 28 August 1939 Soldat war, und auch Karl zu verlieren.

Er fragte: „Warum machst du dir das Leben so schwer?” Liebevoll strich ihr übers Haar. „Mich, Mutter, wird der Krieg nicht verschlingen. Ich komme zurück! Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.”

Mit seiner Beteuerung wiederzukommen, versuchte er ein paar helle Strahlen auch in den letzten Winkel ihres Herzens zu tragen. Doch die Mutter hatte anderes im Sinn. Sie sprach mit leidenschaftlicher Stimme: „Weißt du, Karl, dass uns Hitler die besten Lebensjahre stiehlt, dass er alle Hoffnungen und Träume der Menschen in diesem blutigen Krieg ertränkt!”

„Mutter!” Karl war entsetzt, „was dichtest du dem Führer an? Er will doch nur das Beste für unser Volk. Er hat den Krieg doch nicht angefangen. Die ausländischen Feinde haben uns den Krieg aufgezwungen … Um meines Vaters Willen, versündige dich nicht!”

Doch in ihrer Empörung entstanden plötzlich Sätze, die groben Stichen im Brokat glichen. „Dein Vater, mein Sohn, wurde am 28. August 1938 in der Nacht eingezogen. Aber an jenem Tag war in Polen noch kein Schuss gefallen. Das heißt, Hitler hatte alles militärisch vorbereitet, um am 1. September 1939 in Polen einzufallen. Er hat den Krieg bewusst begonnen, auch wenn er sagte: ,Ab fünf Uhr fünfzehn wird zurück geschossen!’ Das war eine Lüge! Gott sei Dank, Vater lebt! Aber seit zwei Jahren gewährte ihm die Wehrmacht keinen Urlaub, obwohl sein Regiment in Frankreich liegt.”

Karl stimmte ihr zu. Dem Vater Fronturlaub zu verwehren, war eine Schikane der Offiziere, aber keineswegs Schuld des Führers.

Einmal in Fahrt geraten, äußerte seine Mutter Gedanken, die Karl nie zuvor von ihr vernommen hatte. Selbstbewusst erklärte sie: „Seit zwei Jahren lastet nun schon die gesamte Arbeit im Haushalt, im Garten, im Stall und in der Erziehung der drei Gören auf meinen Schultern. Hinzu kommt die Schinderei auf der Domäne zur Versorgung der Kriegsgefangenen. Ohne Krieg und mit eurem Vater wäre alles entschieden leichter – und schöner. Und ich frage dich, Karl, wen kümmern die Sorgen und Nöte einer Frau und Mutter – etwa den Führer? – Nein, Karl, den interessieren nur Schlachten zu seinem Ruhm. Er braucht Siege über andere Völker, weil er sich im Erfolg sonnen möchte. Die Frau wird in diesem Staat nur als Arbeitstier und Gebärmaschine benötigt.”

Karl hatte mit Verwunderung den Worten der Mutter gelauscht. Er war wie betäubt und fragte sich, woher kamen diese Ansichten so plötzlich? Wenn sie sich in ihrer Erbitterung in der Öffentlichkeit so äußerte! – Nicht auszudenken! Das wäre nicht nur ihr Verderben, sondern auch das der Familie. Denn überall lagen Leute auf der Lauer, die nicht genehme Ansichten der NSDAP zutrugen.

Sonderbar! Hatte ihr Bruder, Hermann, der vor wenigen Tagen zu Besuch gewesen war, ihr diesen Unsinn vermittelt. Warum nicht. Der Onkel hatte Hitler und das Dritte Reich bei jedem Besuch verurteilt. Hatte er nicht vor Jahren zum Vater gesagt, Hitler sei das größte Unglück für den kleinen Mann, da er ihm Lügen wohl dosiert ins Hirn träufelt.

„Hat dir dein Bruder vor ein paar Tagen diesen Hohn auf den Führer eingeblasen?”

Jäh funkelten die Augen der Mutter vor Zorn. „Erlaube, wie sprichst du von Hermann! Niemand außer mir weiß, dass er in allen Fragen der Politik recht hatte. Er hat vorausgesagt, Hitler wird den Krieg auslösen. Aber niemand wollte ihm glauben. Bisher, Karl, habe ich es vorgezogen zu schweigen, das war falsch. Stumm und mit zusammengebissenen Zähnen anderen zuzuhören ist so, als wäre man ein Krüppel. Für mein Schweigen musste ich, um des lieben Friedenswillen, mit bitteren Tränen zahlen. Die Zeit des Mundhaltens ist vorbei. Ab sofort werde ich meine Stimme gegen das Sklavenleben der Frauen erheben.”

„Mutter!” Karl wurde richtig böse, „lass bitte die Kirche im Dorf. Ich verstehe deine Klage über bestimmte Dinge, die nicht in Ordnung sind, aber du hast keinen Grund, den Führer zu verunglimpfen.”

Karls Mutter seufzte, faltete die Hände und betete flüsternd, hob ihre Augen und sagte mit Tränen in den Augen: „Karl, einmal läuft einem das Herz und der Mund über. Nie hatte ich Gefallen an einer Lüge oder an Unaufrichtigkeit. Auch heute nicht. Versteh, es gibt für mich nichts Schlimmeres als den Krieg, der mir den Mann und euch den Vater raubt. Und jetzt gehst auch du in eine ungewisse und gefahrvolle Zukunft … Auch wenn ich nicht deine leibliche Mutter bin, bist du für mich wie ein echter Sohn. Die Trennung zerreißt mir fast das Herz.”

,Gewiss’, dachte Karl, ,tut es gut die Liebe der Mutter, ihre Sorge und ihre Herzenswärme zu spüren’. Auch hätte er ihr gern eine Nettigkeit gesagt, doch als kerngesunder Hitlerjunge, bestand seine Pflicht darin, dem Vaterland treu zu dienen und nicht mit gebundenen Händen zuzusehen, wie an der Front verantwortungsbewusste Soldaten für ein neues Deutschland und für eine neue Weltordnung kämpften. Der Militärdienst ist und bleibt eine heilige Sache.

„Und noch eins”, sagte Karls Mutter in seine Gedanken hinein: „In ein paar Tagen wirst du die Uniform tragen, das ist nun unabänderlich, zugleich aber unheilvoll. Deine Entscheidung für den freiwilligen Kriegsdienst hat dein Vater befürwortet – leider! Heute weiß ich, es war falsch, dazu zu schweigen. Immer habe ich mich untergeordnet, getan, was der Vater wollte. Was er sagte, war Gesetz.”

In ihren Augen blitzte jäh ein Feuer auf, das lange in ihrer Seele, tief verborgen, geglimmt haben musste. Die Frau, die sich untergeordnet hatte und ohne aufzumucken von früh bis spät die Familie umsorgte, alle Schmerzen und Leiden erduldet hatte, warf ihre Duldsamkeit jäh ab. Selbstbewusst fuhr sie fort: „Die Bibel, Karl, schreibt vor, dass die Frau dem Mann untertan sei. Dasselbe fordert auch die Männergesellschaft, in der wir leben. Und wenn es nach den Herren von der Wirtschaft und der Politik geht, dann soll es bis in alle Ewigkeit so bleiben. Es steht mir nicht zu, dir oder Vater die Leviten zu lesen, doch in Zukunft werde ich mit meiner Meinung nicht mehr hinter dem Berg halten.”

Lange saßen beide noch beisammen, doch als ein kühler Luftzug durchs offene Fenster drang, wünschten sie sich Gute Nacht. An diesem Abend konnte Karl lange nicht einschlafen. Wie benommen ging er zum Fenster, blickte zur Sichel des Mondes. Ein undefinierbares Gefühl stieg in ihm auf, das bohrte und biss. ,Wo ist nur der Ursprung für die Gefühle und Gedanken, welch geheimnisvolles Gesetz der Verquickung zwischen Schein und Wirklichkeit gibt es. Wo ist der Keim des neuen Willens der Mutter’, fragte er sich. Was wusste er schon mit seinem siebzehn Lenzen. Obwohl er noch lange grübelte – Erkenntnisse oder eine Offenbarung erlangte er an diesem Abend nicht. Sein Schlaf wurde von Alpträumen zerrissen.

Karl Hellauers Wandlung im Zweiten Weltkrieg

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