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Der Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion

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In jener schicksalsträchtigen Nacht vom 21. zum 22. Juni l941, als ein neues Kapitel des Krieges begann, hatte Karl wie ein Murmeltier im tiefsten Winter geschlafen. Was ihn aus dem Schlaf riss, wusste er später nicht mehr zu sagen. Aber auf dem Flur gab es ein lautes Poltern. Danach hörte er hastige Schritte und lautes Sprechen. Karl sah zum Fenster. Über den Wipfeln der Bäume begann der Tag zu leuchten. Tiefe Atemzüge vernahm er aus den Nachbarbetten.

Verschlafen lauschte er den Stimmen, konnte aber nichts verstehen. Er hätte die Süße des Schlafes mit seinem wundersamen Zustand der Ruhe auch weiterhin gern genossen. In dieser Sekunde wurde die Tür aufgestoßen.

Kraftvoll ertönte die Stimme des Gruppenführers von der Türschwelle:

„Nachtruhe beenden! – Herhören!”

Karl fuhr hoch. Auch die Kameraden richteten sich blitzschnell auf, rieben sich die Augen.

„Panzerschützen! Die wichtigste Meldung dieses Krieges”, rief der Gruppenführer und setzte leidenschaftlich und erregt fort: „Vor wenigen Minuten, Kameraden, meldete der Großdeutsche Rundfunk aus dem Führerhauptquartier den Einmarsch deutscher Heeresverbände in das bolschewistische Russland.”

Mit einem Schlag waren alle hellwach. Diese Nachricht versetzte Karl in einen seltsamen Zustand. Mit einem Angriff auf das perfide England hatte er jederzeit gerechnet, nicht aber mit dem Einmarsch ins russische Reich, mit dessen Führung Deutschland doch einen Nichtangriffspakt abgeschlossen hatte. War der Vertrag etwa gekündigt worden?

Schon aber drang die Stimme des Gefreiten Windmüller wie Flügelrauschen ekstatisch durch den Raum.

„Wie den Nachrichten zu entnehmen war, begann der Angriff heute früh drei Uhr fünfzehn mit einem gewaltigen Feuerschlag der Artillerie, der den Angriff der Panzerverbände und Infanterie-Divisionen vorbereitet hat. Gleichzeitig flog die Luftwaffe ins Hinterland des Feindes mit dem Ziel, Nachschubeinrichtungen, Waffendepots und militärische Objekte zu zerstören oder zu vernichten.”

Der Eifer und die Begeisterung für den Krieg gegen Sowjetrussland ließen den Gruppenführer die notwendigen Worte finden, um die Rekruten für den Russlandfeldzug zu begeistern. Der Führer in seiner Genialität habe rechtzeitig erkannt, wie am östlichen Himmel die düsteren Wolken eines gemeinen bolschewistischen Überfalls heraufzogen und wie Deutschland diesem hinterhältigen Plan begegnen konnte – nämlich mit dem eigenen überraschenden Angriff. Damit sei die Gier Stalins, seine Pranken nach unserem Vaterland auszustrecken, kühn und im rechten Augenblick durchkreuzt worden. „Mit der Gewissheit des absoluten Sieges, den wir erneut an unsere Fahnen heften”, sagte er vor seinem Abtreten, „bringen wir Tod und Verderben dem Bolschewismus.”

Vom Ehrgeiz und der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht durchdrungen, gab es an jenem Vormittag nur ein Thema in Karls Gruppe: Wann werden unsere Verbände in Moskau einmarschieren?

Daher verfolgten fast alle mit großem Interesse die Meldungen des Rundfunks über den zügigen Vormarsch der Waffengattungen ins bolschewistische Riesenreich. Zwischen den ständigen Siegesmeldungen dröhnte ununterbrochen Marschmusik aus den Lautsprechern, die viele jungen Soldaten mit Freude und Stolz erfüllte. Gott, so schien es Karl in jenen Stunden, stand in diesem Krieg auf des Führers Seite. Er musste alle Weisheit und Klugheit tief in das Hirn Adolf Hitlers gesenkt haben, damit die Fahnen des Dritten Reiches Sieg auf Sieg einfahren konnten. Mit dem Vordringen der deutschen Verbände werden die gottlosen Bolschewisten wie Schmeißfliegen von der Erde getilgt! Und mit dem siegreichen Vormarsch in die östlichen Weiten, wird Deutschland zum Erbauer einer neuen Weltordnung.

Gleich nach dem Mittagessen – die dritte Gruppe saß heftig diskutierend auf der Stube – betrat unverhofft Leutnant von Neckenstein das Zimmer. Er strahlte übers ganze Gesicht. Seine grüngrauen Augen blitzten voller Selbstbewusstsein. Er rief mit lächelnder Miene: „Weitermachen!” ging zum Fenster und nahm die Pose eines ehrgeizigen und hochmütigen Offiziers ein. Sofort nahm er das Wort. Leicht und locker, aber in überheblichem Ton, sprach er über sein bisheriges Leben in einer begüterten Aristokratenfamilie; er sprach über seinen Entwicklungsweg bis zur Offiziersschule, wo er auch sein Offizierspatent erhalten hatte. Und informierte über seine ehrgeizigen Pläne im Ausbilbildungsbataillon.

Die Hände vor der Brust gekreuzt, begann er sodann über den Russlandfeldzug zu sprechen. Nach seinen Worten – so jedenfalls verstanden es die Soldaten – entscheide im Osten einzig und allein die Panzerwaffe den Krieg. Er wolle, wie er betonte, keineswegs den Einfluss der Infanterie, der Artillerie oder der Luftwaffe schmälern, doch die Erfolge beim erfolgreichen Vormarsch in das gewaltige Russenreich hänge tatsächlich nur von den blitzschnellen Vorstößen der stählernen Kolosse ab.

Schon der schnelle Sieg in Polen und Frankreich hätte den grandiosen Beweis für die gewaltige Überlegenheit der Panzerwaffe, ihre Beweglichkeit und Feuerkraft bewiesen. Nur sie habe die Wehrmacht in die Lage versetzt, blitzschnell in die Tiefe der feindlichen Stellungen und Befestigungsanlagen vorzustoßen, sie aufzurollen und zu vernichten. Dies alles sei kein Zufall, erklärte er, sondern das Ergebnis weiser Politik. So habe der Führer weit vorausschauend mit der Schaffung von modernen Panzern der Wehrmacht eine Waffe in die Hand gegeben, die alle Widerstände feindlicher Heere niederringen werde. Auch das marode russische Heer.

Als Schlussfolgerung gab er den Rekruten mit auf den Weg, für den Ruhm der Panzerwaffe über das eigene Schicksal hinaus zu denken und mit großem Eifer, fanatischem Glauben und freudigem Ehrgeiz das Waffenhandwerk eines Panzersoldaten zu erlernen. An der Front habe jeder, egal ob als Richt-oder Ladeschütze, als Panzerfahrer oder Funker, zum Gelingen des Krieges beizutragen.

Er schwieg einige Augenblicke und suchte dabei in den Augen der gläubigen Zuhörer den Widerschein seiner Worte. Nun fragte er, seine Hand wies dabei auf Horst Fläming: „Na, Panzerschütze, wie denken Sie über den Krieg mit dem bolschewistischen Russland?”

Horst erhob sich lässig von seinem Schemel, überlegte kurz und antwortete: „Ich denke, Herr Leutnant, dass der heutige Tag für den Angriff auf Sowjetrussland unter einem ungünstigen Stern steht.”

Dem Leutnant verschlug es die Sprache. Ein böser Blick traf Horst. Nach mehrmaligem Schlucken fragte der Leutnant grollend: „Sie sind wohl das Orakel von Delphi und wollen Zweideutiges prophezeien?”

„Keinesfalls”, erwiderte Horst, „mir ist nur durch puren Zufall eingefallen, dass Napoleon I., heute vor einhundertneunundzwanzig Jahren die Kriegserklärung gegen Russland unterzeichnet hat. Ich wollte um Gottes Willen nicht mehr und nicht weniger sagen.”

„Panzerschütze Fläming”, zischte von Neckenstein, „Sie vergessen hoffentlich nicht die historische Größe unseres Führers. Er ist mit diesem Winzling von Franzosengeneral überhaupt nicht zu vergleichen. Dieser Napoleon war unfähig, das Kräfteverhältnis mit Russland einzuschätzen. Was dann auch zu seiner schmählichen Niederlage geführt hat. Unsere Erfolge, meine Herren Panzerschützen, sind kein Zufall, sondern das Ergebnis präziser strategischer Planung und vorzüglicher militärischer Organisation. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Und mit rücksichtsloser Entschlossenheit wird seit heute früh ein Überlebenskampf ausgefochten.”

Wohlgefällig hatte Beppo Kohl genickt. Er stand auf und sagte mit dem Pathos des überzeugten Hitlerjungen: „Herr Leutnant, es war tatsächlich höchste Zeit, dass der Führer dem jüdisch-bolschewistischen Ungeziefer in Russland gegenüber nicht mehr zauderte und zum entscheidenden Schlag ausgeholt hat. Endlich wird abgerechnet. Und ich wäre sofort bereit, Herr Leutnant, mich freiwillig an die Front zu melden, um beim Austilgen dieser Bolschewistenbrut und gottlosen Kommunisten mitzutun.”

Das Gesicht des Leutnants hellte sich sofort auf. „Zähmen Sie Ihren Kampfesmut, junger Kamerad, noch liegen fünf Wochen harte Ausbildung vor Ihnen. Aber danach kommt die Stunde der Bewährung, in der Sie die Feinde durch den Staub schleifen dürfen.”

Mit offenem Munde war Beppo den Worten des Leutnants gefolgt. Nun fragte er mit erhobener Stimme: „Herr Leutnant, was schätzen Sie, wie lange wird der Feldzug im Osten andauern? Und können Sie schon heute ungefähr den Zeitpunkt nennen, an welchem der Führer auf dem Roten Platz in Moskau die Siegesparade unserer siegreichen Truppen abnehmen wird?”

Der Leutnant trat mit leicht geröteten Wangen näher zum Tisch.

Er frohlockte. Er spürte, wie die Rekruten an seinen Lippen hingen und eine kluge Antwort von ihm erwarteten. Mit Vorbedacht aber antwortete er nicht kurz und bündig, sondern flüchtete erst einmal in die germanische Mythenwelt. Während er mit den Worten nur so wirbelte, trat in seine Augen ein beherrschtes Funkeln. Karl selbst folgte seinen Ausführungen mit großer Begeisterung, denn sie erinnerten ihn an die Nibelungensage und andere aufregende Geschichten aus der Kindheit.

Dieser ehrgeizige Offizier, so schien es, schöpfe jeden Satz vom Grunde seiner Seele. Hochsensibel erinnerte er an Episoden aus den Traditionen deutscher Vorfahren. Kein Volk des Erdkreises habe so verbissen für seine Ideen gekämpft wie die Germanen, und kein Volk überträfe sie in ihrer Treue, Waffenführung, Tapferkeit und Mut. Tief verwurzelt im germanischen Gefühlsleben sei auch der freiwillige, in feierlicher Form gegebene Eid. Die höchste Tugend des Soldaten sei daher die Ehre, für die Heimat und sein Volk zu streiten. Ohne zu klagen, zu jammern oder zu weinen, galt es auch Schmerzen und Wunden zu ertragen. Hier flocht er den abenteuerlichen Teil der Nibelungensage ein, wonach Hagen, als man ihm das Herz aus der Brust schnitt, noch gelacht haben soll.

Diese germanischen Tugenden habe der Führer zu neuem Leben erweckt, weil ein langer und blutiger Kampf um die Weltherrschaft bevorstehe, in dem sie tapfer und mutig wie die Helden der Vorfahren bis zum letzten Blutstropfen kämpfen müssten. Nuancenreich schilderte er dann den Sieg der Germanen im 9. Jahr nach Christus unter Armin im Teutoburger Wald. Es war der erste, aber nicht der letzte Schlag gegen das römische Imperium. Diesem Sieg folgten noch viele andere, die schließlich den Untergang Roms zur Folge hatten.

Jetzt erinnerte der Leutnant, ungezügelt in seinen Redetalent, Karl an einen Bühnendarsteller, der wie auf einer Bühne skandierte. Er hob und senkte seine Stimme, presste seine Hände zusammen, hob sie beschwörend, rollte mit den Augen, kokettierte mit den Rekruten wie mit jungen Frauen, die zu betören sind. Den Krieg und Feldzug gegen Russland versuchte er tiefsinnig wie einen leichten Sturm darzustellen, der über die Weiten des Russenlandes hinwegbrause, um das morsche Slawentum wie trockne Äste vom Baum zu reißen und in den Sumpf zu schleudern. Und nach diesem Sturm bleibe nur das Gesunde und Lebensfähige übrig. Ja, und das sei die germanische Rasse. Unaufhaltsam werde so die Germanisierung bis in die weiten asiatischen Steppen getragen. Sie, die Deutschen, in denen das arische Blut fließe, seien von der Vorsehung auserwählt, den Schicksalsweg der neuen Zivilisation in der Welt zu bestimmen.

Nur wir Auserwählten besäßen die Vision eines Tausendjährigen Reiches. Dieses Großreich werde nach den Willen des Führers so gestaltet, wie er es in „Mein Kampf” vorgezeichnet habe.

„Um auf Ihre Frage zu antworten”, sagte er danach zu Beppo: „In vier, spätestens in sechs Wochen steht der Führer auf dem Roten Platz in Moskau und wird den Helden, die den Osten Europas für das Vaterland in Besitz nahmen, seine Glückwünsche zum Sieg über die russischen Heere aussprechen. Von diesem Tag an, Kameraden, wird unser Leben einen höheren, überzeitlichen Sinn erhalten.”

Mit diesem Redeschwall endete aber immer noch nicht seine Ansprache. Sein Gesicht schien in Seligkeit zu schwimmen, als er dann vom ewigen Krieg sprach, der ein Lebenselement des menschlichen Daseins überhaupt darstelle. Wie Tiere tagtäglich ums Überleben kämpften, so sei auch der Mensch vom Schicksal dazu verurteilt, seine Lebensaufgabe im Kampf zu suchen, Schwächlinge und niedere Rassen niederzuwerfen, ja, wenn notwendig, sogar auszurotten, das heißt Anpassung an die moderne Lebensweise. So werde der russische Koloss auf tönernen Füßen in die Hölle geschickt.

Gebannt hatte auch Karl zugehört. Dennoch konnte er in jener Stunde nicht freudig zustimmen. Er erinnerte sich plötzlich daran, wie Onkel Hermann, ein Bruder seiner Mutter, nachdem der Nichtangriffspakt im August 1939 zwischen Moskau und Berlin abgeschlossen wurde, prophezeite, eines Tages werde Hitler Russland überfallen, und das führe Deutschland in die Katastrophe. Genauso hatte er sich zu Napoleons Untergang geäußert.

Karl Hellauers Wandlung im Zweiten Weltkrieg

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