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Tag der Einberufung

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Karl erwachte nach einem kurzen, aber tiefen Schlaf. Er blickte an die nackte, kalkweiße Schlafzimmerdecke. Aus der Küche drang Geschirr klappern. Er streckte knackend die Glieder und gähnte. Es war kurz vor halb fünf.

Jäh kam die Erinnerung an die vergangene Liebesnacht, erregte ihn noch einmal der Zauber des Schäferstündchens, die heiße Umarmung mit Margot. Die Schwarze Rose, das wunderbare Mädchen mit den Brombeeraugen, hatte ihn mit warmer Zärtlichkeit umschmeichelt und damit erreicht, dass er ihr nicht widerstehen konnte. Ihr Werben und ihr anmutiges Drängen zur Laube und ihr liebestolles Plaudern hatten seinen Geist für Minuten eingehüllt, in dessen Folge er ihr bedenkenlos gefolgt war. Gleichzeitig war er von der Begierde beseelt gewesen, das geheimnisumwitterte Liebesspiel auszuprobieren und vom Baum der Erkenntnis zu naschen.

„Warum”, sagte er vor sich hin, „sollte ich mir dies nicht eingestehen. Es war faszinierend, die samtweiche Haut eines so jungen Weibes zu fühlen, ihren Leib in Begierde zu spüren und den Akt in höchster Lust und mit jeder Faser des Körpers zu genießen. Sollte ich diese Nacht mit der plötzlichen, unkontrollierten Eingebung bereuen; habe ich wider menschlicher Vernunft gehandelt, die uns Menschen zur Kontrolle über unser Handeln gegeben ist? Oder habe ich mich sogar mit Schimpf beladen, weil ich mit einer Jungfer geschlafen habe, die ich nicht liebe, aber gewiss sehr gern habe?”

Scham ergriff ihn plötzlich. Irgendwo rumorte es in ihm: ,Du hast schamlos an Margot gehandelt; du hast ihr etwas vorgegaukelt, was es deinerseits nicht gibt: die Liebe’. Beklommen dachte er an eine zukünftige Begegnung und auch an Briefe. In diesem Augenblick fiel Karl ein Spruch ein, den er einmal von Frauen der Konservenfabrik gehört hatte: „Unter dem Gürtel ist kein Verstand!”

Karls Mutter hatte auf Zehenspitzen das Schlafzimmer betreten. Geräuschlos zog sie den Fenstervorhang zurück. Bernsteinfarbenes Licht fiel herein. Karl richtete sich auf und rief leise: „Guten Morgen!” Seine Mutter setzte sich für einen Augenblick auf die Bettkante, strich über sein Haar und sagte im vertrauten Ton, aber mit gedämpfter Trauer in der Stimme: „Guten Morgen, mein Junge! Du bist heute Nacht spät nach Hause gekommen. Hast du denn schon ausgeschlafen?”

„Du hast recht, es war sogar sehr spät, aber meine innere Uhr hat die Zeit zum Aufstehen exakt gemessen, so dass ich pünktlich erwacht bin.”

„Und wer hat dich aufgehalten?”

„Margot Irrgang.”

Ein mildes Lächeln huschte über ihr Antlitz. Sie gab Karl einen sanften Stoß in die Rippen und meinte: „So so, mit der Margot warst du noch zusammen. Hoffentlich kommen mir keine Klagen ins Haus, du Milchbart, du!”

„Klagen – warum?” Da begriff er, was sie meinte.

„Um Gottes willen, male den Teufel nicht an die Wand!” Um seine Verlegenheit zu überspielen, glitt er schnell aus dem Bett und hatte sich bald gewaschen.

Am Frühstückstisch verspürte Karl zum ersten Mal keinen Hunger. Während er sich die einzelnen Bissen in den Mund schieben musste, stand die Mutter am Fenster. Ihr Gesicht verriet ihren Schmerz. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Daraus sprachen die Angst und die Bitternis des Abschieds.

Karl hatte Mitleid mit ihr. Die Frauen hatten ein bitteres Los gezogen. Sie wurden auf eine verdammt harte Probe gestellt. Die Männer zogen in den Krieg, vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Die Frauen aber sollten in Demut alle Lasten des harten Lebens und der Familie tragen. Wer tröstete die Mütter und Frauen? Wer gabt ihnen in dieser Kriegszeit inneren Halt und Liebe?

Karl starrte verlegen und nachdenklich vor sich hin. Das Schicksal und das Vaterland forderten die Männer zum Handeln heraus; das war Gesetz. Und er vertraute auf Mutters Kraft, ihren Fleiß und ihre Energie, während Vater und er im Krieg die vaterländische Pflicht erfüllten.

Die Zeit war herangekommen. Karl musste sich verabschieden. Er ging zu den Geschwistern ins Schlafzimmer. Plötzlich standen Tränen in Mutters Augen. Axel, das vierjährige Brüderchen, schlug die Augen auf und blickte verwundert hoch. Schon streckte er seine Ärmchen der Mutter entgegen. Sie hob ihn hoch, presste ihn an sich. Axel drückte ihr ein Küsschen auf die Wange. Erstaunt verzog er sein Mündchen und fragte: „Warum weinst du?”

„Weil dein Bruder in den Krieg muss”, entgegnete die Mutter mit gebrochener Stimme. Axel verdrehte die Äuglein und überlegte.

„Da geht unser Karli ja zum Papa”, platzte er stolz heraus.

Verdutzt blickte Karl zur Mutter. Sie zuckte mit den Schultern. Plötzlich begriff Karl die Logik des kleinen Burschen. In seiner Vorstellung war der Papa im Krieg – so wurde ihm die Abwesenheit des Vaters erklärt, und wenn auch der große Bruder in den Krieg muss, geht er zum Papa. So einfach war das.

Karl packte danach seinen Persil-Karton mit den persönlichen Sachen und rief den Geschwistern „Auf Wiedersehen” zu. Die Mutter begleitete ihn mit finsterer Miene bis zum Hoftor. Dort umarmte sie ihn noch einmal. Karl spürte das Zittern ihrer Glieder, als sie sagte: „Hör zu, Karl, sei niemals waghalsig. An der Front kann das tödlich sein. Und komm zurück!”

Wehmütig verließ Karl mit gesenktem Kopf die Mutter. Jeder Schritt die Straße entlang wurde zur Qual. An der oberen Ecke der Allee drehte er sich noch einmal um und winkte.

Mit Herzklopfen durchschritt er seinen Heimatort. Im Tal zwischen den Hügeln, dem Grün der Bäume und den fruchtbaren Feldern, lagen die Wurzeln seines bisherigen Lebens. Hier erfuhr er Schmerz und Leid, hier erlebte er Frohsinn und das Glück seiner Jugend; hier wurde sein Fühlen und Denken durch das Elternhaus, die Schule, das Evangelium, die Hitlerjugend und die Lehre geprägt. Noch einmal blickte er auf die hellen und dunklen Häuser, auf die liebevoll gepflegten Gärten und auf die lichten Gehölze. Hier hatte er als Knabe Bäume erklettert, Schluchten abenteuerlustig durchstöbert oder im Hochsommer in verbotenen Wasserbecken gebadet. Hier hatte er oftmals barfuß und glücklich die Feldwege im schnellen Lauf durchmessen. So war er zu einem jungen Mann herangereift, der nun seine sorglose Kindheit hinter sich ließ und einem neuen Lebensabschnitt entgegen ging. Wird er die wunderbare Heimat in ihrer einzigartigen Vielfalt noch einmal erblicken? Wird er vom Grund des Tales in klaren Nächten jemals wieder am samtenen Nachthimmel das Sternenglühen, ihr Funkeln und Glitzern erschauen dürfen?

War es nicht erstaunlich und voller Zauber, wie in den Gärten oder am Bachesrand ungezählte Blumen in ihrer Vielfalt erblühten und sich dort Bienen, Hummeln, Schmetterlinge und Käfer am Nektar erfreuen. Ja, die Natur hielt Wundervolles für das Auge und das Herz bereit. Unsere heilige Mutter Erde ist wirklich schön und voller zauberhafter Überraschungen. Überall auf den Hügeln oder im Tal findest du beim Spazierengehen oder Wandern Erbauliches für Geist und Seele.

Mit einem tiefen Seufzer verließ Karl das Dorf, ging über den Anger und erreichte ein Stück Erde, das im Dorf liebevoll die „Volkstedter Schweiz” genannt wird und romantische Gefühle hervorzauberte. Es ist ein malerischer, erhabener Winkel, wo mitten durch einen bergigen Höhenzug, sich ein Bach und ein Weg entlang schlängelt. Dort zu verweilen, gleicht einer himmlischen Lust. Im besonderen Glanz stellte sich die „Schweiz” dar, wenn unter einem blauen Frühlingshimmel die Obstbäume mit ihren zart weißen Blüten inmitten des kräftigen Grüns Wiesen und Hänge ihre Pracht entfalten. Am Bachufer erhob sich rechts ein Gehölz aus Holunder, Flieder, Rüstern und Hasel, das fest ineinander verwachsen war und der Vogelwelt ein Wohnparadies darbot.

Am Grunde des Baches und an den flachen Uferzonen hüpften, im höchsten Grade unruhig, Bachstelzen. Ihnen zuzuschauen brachte Gewinn. Beständig waren sie auf Futtersuche; dabei hüpften sie leicht und schnell umher. Oder sie flogen immer kurz über dem Wasserspiegel, steigend und fallend im Bogen oder Schlangenlinien ziehend, von Stein zu Stein, wobei ihr schwarzgrauer Schwanz ständig wippte.

Die Hauptstraße erreichend, die von Kirschbäumen umsäumt war, strebte Karl mit schnellen Schritten der Stadt entgegen. Sein Blick hing an den fernen Kirchtürmen und Gebäuden, die von der immer höher steigenden Sonne angestrahlt wurden.

Vorbei an hastenden Menschen durchstreifte er neugierig und hoffend den Park. Aber auch dieses Mal war der Wunsch, dem Traummädchen zu begegnen, vergebens.

Pünktlich achtzehn Minuten nach sieben Uhr verließ der Personenzug den Bahnhof. Karl saß am Fenster in der dritten Klasse. Dicke schwarze Rauchschwaden ausstoßend, zuckelte der Zug voran. Unten in der Ebene verschwand die Stadt im grauen Ascheregen und glühenden Funkenflug der Lokomotive.

Halle an der Saale. Hunderte Menschen rannten überstürzt von einem zum anderen Bahnsteig. Über allem Bremsenkreischen, Lokomotivpfiffe, Lautsprecherdurchsagen, Rufe von Reisenden. Endlich stand Karl im Gang des überfüllten D-Zuges Hof – Berlin. Ein alles durchdringender Pfiff verkündete die Abfahrt. Stampfend, polternd und keuchend fuhr der Zug aus dem Bahnhof. Das Tempo der rollenden Räder erhöhte sich. Kühlend strömte der Fahrtwind durch die offenen Fenster. Eingeklemmt zwischen den Reisenden, blickte Karl sehnsüchtig auf die vorbeihuschenden Getreidefelder, Dörfer, Gärten, Waldstücke und Straßen. Vor ihm herrschte redselige Lustigkeit. Am Ende des Waggons tranken vier Unteroffiziere der Luftwaffe Cognak und brüllten: „Denn wir fahren gegen Engeland!”

Unbarmherzig brannte die Sonne auf den dahin rasenden Zug. Schweiß brach aus allen Poren. In Wittenberg, wo mehrere Landser und Frauen mit Kindern den Zug verließen, suchte sich Karl einen Platz an einer offenen Abteiltür.

Ein Gefreiter, Mitte zwanzig, gut aussehend, kraushaarig und mit dem Band des Eisernen Kreuz II. Klasse am offenen Uniformrock, unterhielt die Mitreisenden des Abteils mit Witzchen, Anekdoten und Zoten. Ein älterer Herr verbarg sein Gesicht hinter einer Zeitung. Der Gefreite bot eine Runde Zigaretten an. Karl lehnte ab. „Nichtraucher!”

Der Gefreite blickte auf Karls Karton und fragte lachend: „Aha, Anreise zum Barras, was?”

„Erraten”, erwiderte Karl, ohne sich weiter zu äußern. In der Fensterecke, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, saß eine junge Frau mit einem Baby in den Armen. Es schlief bis kurz vor Jüterbog. Dann fing es plötzlich an zu schreien, kräftig und laut. Das sanfte Hin-und Herschwingen half so wenig wie leises Einreden. Da öffnete die junge Mutter, einer Bäuerin gleich, ohne Scham ihre Bluse und schenkte dem Kind die Brust. Wie verdurstet, sog das kleine Wesen hochzufrieden an der Quelle des Lebens die ihm zustehende Mahlzeit.

Beim Anblick des trinkenden Kindes stieg dem Gefreiten ein hemmungloses Flackern in die Augen. Sich vorbeugend, fragte er die stillende Mutter hinterhältig: „Ist das süße Kind ein Knabe?”

„So ist es”, bestätigte sie lächelnd und ohne Argwohn. Darauf der Gefreite im unerhört frechen Ton: „Wären Sie, junge Frau, auch noch bereit ihre zweite Brust frei zu machen? – Ich möchte nämlich zu gern mit ihrem lieben Buben Brüderschaft trinken.”

Gespannte Stille trat ein. Alle blickten versteinert auf den Gefreiten, in dessen Gesicht nur ein boshaftes Grinsen stand. Karl hielt angesichts der bodenlosen Frechheit die Luft an. Auch erwartete er einen Ausbruch von Beschimpfungen von der jungen Mutter. Doch nichts dergleichen geschah – aber nur für wenige Augenblicke. Zuerst errötete die Frau, und sie schien auch für Momente verwirrt zu sein. Doch flink setzte sie das Kind ab, knöpfte die Bluse zu, senkte die hellen Lider über den graugrünen Augen, so dass nur ein glitzernder Spalt blieb. Sie fixierte den Unhold in heiliger Unschuld. Danach hob sie unendlich langsam ihr Gesicht dem Unhold entgegen und schleuderte ihm eine gepfefferte Antwort entgegen: „Sie, Herr Gefreiter, sind ein Dummkopf mit Spatzenhirn, würde man bei uns im Dorfe sagen, dessen Verworfenheit einem blökenden Ziegenbock gleich kommt!”

Bevor jedoch die Frau noch weiter reden konnte, war der Gefreite aufgesprungen und verließ wie ein begossener Pudel fluchtartig das Abteil. Bis Berlin ließ er sich nicht mehr blicken.

Langsam näherte sich der Zug der Hauptstadt. Die Vororte mit ihren Villen, Gärten, Parks, Anlagen, Straßen und den S-Bahnhöfen zogen vor Karls Augen wie eine Traumerscheinung vorüber.

Die Geschwindigkeit stark verringernd, rollte der Zug langsam in den Anhalter Bahnhof ein. Plötzlich knirschten und quietschten die Bremsen, und ruckartig, Menschen und Gepäck wild durcheinanderwirbelnd, blieb der Zug stehen. Krachend flogen Türen auf. Nun entstand ein einmaliges Geschiebe und Gehetze. Wie planlos schwirrte alles durcheinander. Unfassbar für Karl war das hektische Treiben. Rufe hallten laut über die Menge; Hände winkten, Zeitungsverkäufer schrien; Kofferträger boten ihre Dienste an; Elektrokarren mit Koffern, Kisten und Postsäcken beladen, fuhren die Bahnsteige entlang. Dazwischen lebhafte Begrüßungen, Leute fielen sich Tränen überströmt um den Hals.

Fasziniert und hingerissen vom unbekannten Fluidum eines Großstadtbahnhofs, folgte Karl der Menge zum Ausgang. Einen Bahnbeamten bat er um Auskunft, wie er nach Neuruppin gelange.

Endlich stand Karl im Herzen des Vaterlandes. Von hier aus, so glaubte er, sollte nach des Führers Willen die Welt neu geordnet. werden. Nur die göttliche Vorsehung konnte Adolf Hitler auserwählt haben, damit er die Geschicke Deutschlands in die Bahnen eines triumphalen Aufstiegs lenke. Vor Aufregung klopfte Karls Herz plötzlich heftiger. Für einen Augenblick rührte er sich nicht von der Stelle. Er genoss das Gewimmel der Straße, genoss die brausenden Geräusche der Busse und Personenkraftwagen, genoss das Rumpeln und Quietschen der Straßenbahn; schaute entzückt auf das gewaltige Häusermeer, über dem sich ein strahlend blauer Himmel erhob.

Langsam ging er nach rechts, bestaunte prächtige Bauwerke aber auch plumpe Häuser mit verschmutzten Fenstern, die lehmfarben vor sich hindröselten. Zitternd stand über dem Häusermeer die Luft wie in einem brodelnden Kessel. Karl aber ließ sich treiben. Noch hatte er Zeit. Ab und zu blieb er stehen, betrachtete die Fülle der Auslagen in Geschäften. Vor dem Portal eines großen Hotels erstaunte er beim Anblick eines älteren Portiers, weil der in seiner Uniform mit den goldenen Schnüren und der Prunkmütze einem Operettengeneral glich. Mein Gott, dachte er, was muss dieser Mensch wohl erleiden.

Im gemäßigten Tempo ging Karl weiter, schritt über den Potsdamer Platz und erreichte die Straße Unter den Linden. Pfeilgerade führt sie zum Brandenburger Tor. Karl bestaunte die Schönheit der Gebäude, ihre Architektur, die Feinheit und Eleganz. „Überwältigend”, dachte er. Ein wenig närrisch folgten seine Augen den flanierenden Frauen und Mädchen, die in leichter Sommerkleidung den schönen Sonnentag genossen. Er spürte in allem den einzigartigen Charme dieser Stadt. Alles war umduftet von den Linden. Und er wünschte sich in jener Stunde, öfter in Berlin weilen zu dürfen.

Auf die Uhr blickend, stellte Karl fest, dass er sich sputen musste, um den Lehrter Bahnhof zu erreichen. Kurz davor, im Schatten einzelner Bäume, erreichte er einen jungen Burschen seines Alters, der wie Karl einen Persil-Karton unter dem Arm trug. Dieser wendete den Kopf und fragte, das sächsische nicht verleugnend: „Entschuldige, Kamerad, wo gehst’n hin? Auch zu den Soldaten?”

Seinen Schritt verkürzend, antwortete Karl: „So ist es! Ich habe mich in Neuruppin bei den Panzern zu melden.”

„Herrjemine”, rief der Junge Mann aus, „da muss ich ja auch hin. Gönmer da nich zusammen fahr’n?” Karl lächelte und sah auf den Einmetersechzigburschen herab, und sagte seinen Namen. So lernte er den achtzehn Jahre alten Harry Kleinschmidt aus Dresden kennen, der sich nicht freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hatte, sondern gezogen wurde. Sein feines Gesicht trug die Spur einer Blässe, die Karl auf Blutarmut zurückführte. Über den schönen blauen Augen des Dresdners wölbten sich geschwungene Augenbrauen, die einem Mädchen zur Zierde gereicht hätten. Er trug sehr kurz geschnittenes blondes Haar. Im Zug sich gegenüber sitzend, kamen sie sich näher. Auch wenn die körperliche Konstitution Harrys schwächlich wirkte, so besaß er doch eine Stimme, die hell und kräftig war. Harry plauderte ununterbrochen. Und er besaß das einzigartige Talent, seine Heimatstadt, die Herder einst „Elb-Florenz” genannt hatte, in den schillerndsten Farben darzustellen. Große Freude hatte Harry erfasst, als Karl stumm, aber höchst interessiert seinen Worten lauschte.

Zuerst zeichnete er in groben Zügen das Bild der glanzvollen Geschichte Dresdens bis ins 19. und 20. Jahrhundert. Dabei hob er besonders das Wirken August des Starken in der Entwicklung von Kunst und Kultur hervor. Förmlich in Verzückung war er geraten, als er vom Kunstgenuss berichtete, den der Besucher erlebe, wenn er den Zwinger, die Brühlschen Terrassen, das Grüne Gewölbe, die Semperoper, die Gemäldegalerie und die großartigen Kirchen besichtige.

Und sein Schwärmen fand kein Ende. Schon erzählte er verzückt von Raffaels Gemälde: der Sixtinischen Madonna. Er mochte nicht aufhören, die Schönheit, Harmonie und den ausgewogenen Bildaufbau zu erklären, der die Seele wie kaum ein anderes Gemälde zum Schwingen bringe.

Auf Karls Frage, woher sein phänomenales Wissen stamme und welchen Beruf er habe, antwortete er: „Von Beruf bin ich Bau-und Maschinenschlosser; und meine bescheidenen Kenntnisse habe ich über das Elternhaus, die Schule, durch unermüdliches Lesen und nicht zuletzt durch den Besuch der Museen, der Kunstsammlungen, der Schlösser, der Galerien, sowie beim Studieren der Architektur der einzelnen Kunstepochen erworben.”

So war die Zeit schnell vergangen. Der Bahnhof von Neuruppin kam in Sicht. Sie stiegen erwartungsvoll aus.

Auf dem Weg zur Kaserne fragte der Dresdener zaghaft, ob er weitere Details seiner Stadt Karl darlegen dürfe. Karl war damit einverstanden.

Karl Hellauers Wandlung im Zweiten Weltkrieg

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