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Angst bestimmt

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Eine gewisse Portion Angst sollte sicherlich immer zum menschlichen Leben gehören. Wir schützen uns so nicht nur vor unüberlegten Handlungen und gefährlichen Situationen. Das hat die Evolution schon ganz richtig gemacht. Sicherlich war Angst auch ein guter Berater (oder Beraterin?), als wir uns noch gegen wilde Tiere behaupten und jeder seine Nahrung selbst sammeln oder jagen musste. Diese Zeit ist jedoch vorbei. Diese Zeit, in der Angst aus gutem Grund die bestimmende Komponente im Leben war.

Bei Katrin und mir hat Angst eine andere Dimension erreicht. Ich glaube, ich kann ohne zu übertreiben sagen, dass Angst inzwischen alles in unserem Leben beeinflusst oder prägt. Jeder Handgriff wird von Angst begleitet oder wird aus Angst überhaupt durchgeführt. Jeder Ausflug bedeutet, Vorsicht walten zu lassen und aus Angst Schutzrituale zu befolgen. Jeder Besuch von draußen bedeutet Angst. Jeder Händedruck ist begleitet von Angst. Jede Kloschüssel, jeder Ast auf dem Boden, jeder Fleck auf der Kleidung. Jedes Vogelnest am Dach, jede Taube auf dem Gehsteig. Das Leben ist Angst. Für meine Frau Katrin. Und ich? Auch ich bin eine ständige Quelle für diese Angst. Verrückt.

Katrin hat unvorstellbare Angst davor, dass Niklas etwas Schlimmes zustoßen könnte. Etwas Schlimmes? Schlimm sind Dinge, die tödlich sind. Tödlich ist die Vogelgrippe. Über die Vogelgrippe wird dort „draußen“ gesprochen. Über die Medien kommt dieses gefährliche „Draußen” dann zu uns ins geschützte Heim. Die Medien berichten über Ausbreitungsfaktoren, Mutationen und Massentierkeulungen. Mitten in unsere doch eigentlich heile Welt treffen diese Berichte. Mitten hinein in Katrins Angst vor einer schweren Erkrankung.

Katrin wird im wahrsten Sinne des Wortes rund um die Uhr von einer ihren ganzen Körper ergreifenden Angst gesteuert. Regelrecht greifbar wird diese Angst vor der Ansteckung eines engen Familienmitglieds mit der Vogelgrippe. Dieser Angst ordnen wir mehr und mehr unser gemeinsames Leben unter.

Die Angst bestimmt alles. Sie bestimmt jeden Ausflug. Jedes Anziehen. Jedes Ausziehen. Jeden Gang nach zum Einkaufen. Jeden Gang in den Garten. Jede unbewusste Berührung. Jedes Streicheln. Jeder Kuss wird von dieser Angst bestimmt. Ja, auch unseren Sex bestimmt die Angst. Die Angst bestimmt wo, wann, wie und nach welchen Säuberungsritualen Katrin und ich uns berühren dürfen. Die Angst bestimmt, unter welchen Bedingungen, wo, nach welchen Ritualen wir miteinander schlafen dürfen. Es gibt keine spontane Freude. Keine spontan erwiderte Erregung. Es muss alles kontrolliert ablaufen. Sauber. Klinisch sauber.

Die Angst bestimmt jede Handlung. Die Angst bestimmt jede Nacht. Jeden verdammten Tag. Jeden Tag, den wir doch so schön verleben könnten. Wenn draußen die Sonne scheint, unser Kind glücklich und gesund ist. Und doch geht es nicht. Als ob es dort draußen ständig blitzt und donnert. Unaufhaltsam kommt das imaginäre Gewitter näher. Bedrohlich. Jeden Tag. Weil unser Leben keinen Blitzableiter hat, müssen wir uns vor dem Gewitter wegducken. Längst ist nicht mehr klar, was schwerer wiegt. Die reale Gefahr oder die Angst vor ihr. Gefährlich scheint irgendwie beides. Vielleicht sogar tödlich.

Draußen war Sommer...

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