Читать книгу Die versunkene Hexe: Von Göttern und Hexen - Laura Labas - Страница 10
Kapitel 2
ОглавлениеEriks Vater blickte seinen verloren geglaubten Sohn an, als würde er sich jede Veränderung einprägen, um nichts zu vergessen. Um Erik für immer in seinem Herzen zu tragen.
Ein sentimentaler Gedanke, gegen den sich Morgan nicht vollkommen wehren konnte, als sie die beiden beobachtete. Sie versuchte, das zu sehen, was der Kapitän sah. Nicht mehr den kleinen schlaksigen Jungen, von dem nur noch die blauen Augen und das hellbraune Haar zurückgeblieben waren. Ein muskulöser Körper, Narben auf seinen gebräunten Armen, die unter der zerfetzten Jacke hervorlugten, und eine verheilte Wunde auf seiner rechten Wange durch verschmierte schwarze Schminke schimmernd. Der dunkle Fünftagebart, den sich Erik erst seit seiner Rückkehr aus Idrela hatte stehen lassen, und die zusammengepressten Lippen, die weder von Wiedersehensfreude noch von Erleichterung sprachen.
»Du«, presste Erik schließlich hervor und zog sein Schwert mit dem Hirschkopf als Knauf. Morgan konnte nicht sagen, ob sie wirklich davon überzeugt gewesen war, dass er seinen Vater hier und jetzt auf dem schwankenden Schiff angriff, doch sie würde es nicht riskieren. Nicht, als sie die kleine, schmale Person unmittelbar hinter dem Kapitän wahrnahm.
Morgan sprang auf und stellte sich zwischen Vater und Sohn, erntete einen ungläubigen und einen wütenden Blick, dann trat das Mädchen hervor und Eriks Blick klärte sich.
»Vater?«, wisperte es, aber diesem blieb keine Zeit zum Antworten, als der Sturm an Stärke dazugewann und einen Teil der Mannschaft von den Füßen fegte.
Morgan selbst wurde von Erik aufgefangen und Rhea hielt Jeriah und Magus mit ihrer Magie an Ort und Stelle. Es gab eindeutig bessere Momente, um dieses Wiedersehen zu besprechen. Jetzt galt es, sich darum zu kümmern, es heil aus dem Schneesturm zu schaffen, ohne erneut in den Hafen Yastias getrieben zu werden. Dort warteten bloß Tod und Verderben auf sie.
Und Cáel.
Nein, an ihn durfte sie nicht denken, sonst würde sie von einer so bodenlos tiefen Wut beherrscht werden, dass sie sich selbst verlieren würde.
Sie löste sich von Erik und legte den einzigen Knochen, der ihr noch geblieben war, in den Mund, rief die Knochenhexe, die auf sie gewartet hatte. Innerhalb eines Wimpernschlags nutzten sie ihre Macht, um sich gegen den rauen Wellengang zu behaupten. Rhea webte ein Netz, mit dem sie verhinderte, dass jemand über Bord fiel, während sich Morgan weiterhin auf das Stillhalten konzentrierte.
Als sie den Blick eines Freibeuters auffing, sah sie die Angst in ihm. Knochen flackerten durch ihre Haut hindurch und offenbarten ein grausiges Bild, das Morgan selbst nicht begreifen konnte. Für sie existierte nur die Macht der Knochenhexe. Die Aufregung und die Sucht nach mehr.
Sie konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, als die Magie allmählich versiegte und das Schiff nicht länger wankte. Nur noch einzelne Schneeflocken fanden ihren Weg durch Rheas gesponnenes Netz und der Wind ließ nach, jaulte nicht mehr wie ein verwundetes Tier.
Für den Moment waren sie in Sicherheit.
Mit zittrigen Gliedmaßen sank sie auf die feuchten Planken, ignorierte die Fremden und ließ sich stattdessen von Erik aufhelfen. Es fiel ihr unglaublich schwer, die Augen geöffnet zu halten, als er sie durch die Tür in den Bauch des Schiffes führte. Rhea und die anderen folgten, was Morgan erleichterte. Sie wollte nicht, dass ihre Gruppe unter den Freibeutern getrennt wurde, nachdem sie so viel ihrer Kräfte verbraucht hatten. Die Knochenhexe war so erschöpft, dass sie sogar freiwillig die Klauen von Morgans Seele löste. Nichts war mehr übrig und sie brauchte Zeit, um sich zu erholen.
»Hier durch«, hörte sie die Stimme des Kapitäns und wenig später erreichten sie seine Kajüte, die gemütlich und vor allem geräumig war. Jemand entzündete Kerzen, sodass die Schatten des grauen Tages vertrieben wurden.
Ein paar Gegenstände waren in dem Sturm zu Boden gefallen, Becher und Bücher, eine Messingwaage und anderes Zeug, das Morgan bloß mit ihrem Blick streifte. Ein auf dem Boden verankerter Schreibtisch beherrschte den Raum neben Stühlen, Regalen, einem Konferenztisch und einem riesigen Bett vor einer Kommode. Auf der anderen Seite gewährte ihnen eine beeindruckende Fensterfront den Blick auf das sich beruhigende Meer.
Erik führte Morgan bis zu einem gepolsterten Stuhl, auf dem sie sich niederließ. Jeriah setzte sich neben sie, ohne Regung und ohne Gefühl. Es schien, als wäre er mit seinen Gedanken in einer anderen Welt, in der er sich vor dem Schmerz der Wirklichkeit flüchtete. Zu gern würde sie sich ihm anschließen.
Nein. Nicht mehr. Sie hatte nun endlich ein Ziel vor Augen, wusste, warum sie hier war und wohin sie früher oder später gelangen musste. Zurück nach Yastia. Zur Dreischicksalsstatue, um ihrer aller Schicksal zu verändern. Mit ihrem Blut auf dem immerwährenden Stein würde sie das Tor öffnen, das sie schließlich zu den Moiren bringen würde. Davon war sie überzeugt. So hatte sich dieses Wissen doch all die Zeit in ihr befunden und mit einem Mal waren die Schatten verschwunden; hatten den Blick auf den Ort freigegeben, der sie direkt zu den Schicksalsgöttinnen führen würde.
»Macht es euch gemütlich«, durchbrach der Kapitän die Stille. »Mein Name ist übrigens Erik Montean, aber um jedweder Verwechslung entgegenzuwirken, dürft ihr mich Montean nennen. Ich bin sicher, das ist es, was mein Sohn bevorzugt.«
»Und ich bin sicher, dass niemand hier im Raum deinen Humor zu schätzen weiß«, erwiderte Morgan, während Erik eisern schwieg. Wahrscheinlich hing seine Selbstbeherrschung am seidenen Faden und Morgan wollte vermeiden, dass es auf dem Schiff zu einer Konfrontation kam, die in einer noch heikleren Lage mündete.
Monteans Mundwinkel zuckten, doch die Botschaft hatte er verstanden, da er kein weiteres Wort verlauten ließ. Sie selbst zwang sich, nicht nach dem Nachnamen zu fragen, der sich ganz offensichtlich von Eriks unterschied. Wie hatte sie nicht wissen können, dass er diesen geändert hatte?
Kopfschüttelnd versuchte sie, Müdigkeit und Zweifel zu vertreiben. Ihre Freunde wirkten in sich selbst verschlossen und niemand riss sich darum, die Zügel in die Hand zu nehmen. Selbst Jeriah nicht, um den es hauptsächlich in ihrer unmittelbaren Zukunft gehen würde.
Er war die Hoffnung Atheiras, aber gerade in diesem Augenblick sah er vermutlich nur den Tod seiner Familie vor Augen.
Morgan verübelte ihm die Starre nicht und so übernahm sie die Rolle der Anführerin, um zumindest ihren Kurs zu bestimmen.
»Mein Name ist Morgan«, stellte sie sich schließlich vor. »Das sind Rhea Khemani, Magus und … Jeriah Cerva.« Monteans einzige Reaktion auf den Namen des frisch gekrönten Königs bestand aus einem Augenbrauenheben. Morgan holte tief Luft. »Ich habe herausgefunden, wie ich das Schicksal verändern kann«, wiederholte sie ihren Ausruf, den sie entlassen hatte, kurz nachdem sie das Schiff erreicht hatten. Allmählich schienen ihre Gefährten aus ihrem Schock zu erwachen und ihren Worten zu lauschen, also sprach sie weiter. Eriks Hand lag auf ihrer Schulter, was ihr genug Kraft gab, um gegen die Müdigkeit anzukämpfen. »Zumindest weiß ich, wie ich die Insel erreiche, aber dafür müsste ich nach Yastia zurückkehren.«
»Das ist unmöglich«, warf Erik prompt ein und sie neigte den Kopf.
»Für den Moment, ja«, stimmte sie zu. »Wir müssen uns an einen sicheren Ort zurückziehen, uns sammeln und einen Plan schmieden, wie wir Aithan bekämpfen können.«
»Was ist mit Brimstone? So weit ist die Stadt nicht entfernt und ich bin erst vor wenigen Monaten dort gewesen. Es wäre ein guter Ort, um sich versteckt zu halten«, überlegte Rhea laut, während sie sich von Jeriahs Seite wegbewegte, um sich gegen die Schreibtischkante zu lehnen.
»Ich hörte, die Ältesten haben sich auf die Seite des verbannten Prinzen gestellt«, ertönte es von Montean, den Morgan beinahe wieder vergessen hatte. Er hatte sich vor der Fensterfront positioniert und ihnen nur leicht den Kopf zugeneigt. »Euch dort verstecken zu wollen, wäre vermutlich Selbstmord. Sie würden Cerva fassen und ausliefern.«
Morgan belohnte ihn nicht mit einer Antwort, obwohl sie dankbar war, diese Information erhalten zu haben.
»Bleiben noch Vinuth und Idrela«, fasste Morgan zusammen. Alles andere wäre zu weit entfernt und würde sie zu viel Zeit kosten.
»Lohnam ist eine wunderschöne Hafenstadt«, versuchte Montean ihnen seine Heimat schmackhaft zu machen.
»Ich werde keinen Fuß in die Stadt setzen«, knurrte Erik kompromisslos und die Hand auf Morgans Schulter verkrampfte sich. »Niemals.«
Ob das nun weise war oder nicht, war Morgan gleich. Sie würde Erik in keine Position zwingen, in der er sich derart unwohl fühlte. Er musste schon mit dem harten Schicksal zurechtkommen, die nächsten Wochen auf einem Schiff mit seinem Vater zu verbringen.
»Dann werden wir uns nach Idrela aufmachen. Osten oder Westen?« Morgan blickte in die Runde. Erik schwieg, Jeriah sah zu Boden und Magus hielt Stellung an der Tür.
»Osten«, antwortete Rhea und fing Morgans Blick ein. Ihr Gesicht war verschmutzt, das rote Haar zerzaust, aber in ihren grünen Augen herrschte wilde Entschlossenheit. »Nach Damari. Jeriah kann Sultana Beatrice um Unterstützung in diesem Krieg bitten.«
»Was für ein Krieg?« Jeriah machte ein abfälliges Geräusch und breitete hilflos die Arme aus; verzog das Gesicht, als er vermutlich seine Wunde spürte, die Rhea notdürftig geheilt hatte. »Aithan hat gewonnen, bevor der Krieg überhaupt beginnen konnte. So wie es bei meinem Vater vor fast zehn Jahren gewesen war. Bedauerlich, dass er schon tot ist und die Ironie nicht mehr anerkennen kann. Ich schätze, das muss ich wohl für uns beide tun.«
Morgan wollte ihn schütteln. Wollte ihn umarmen und ihm Trost spenden und sah all dies in Rheas Gesicht gespiegelt, doch niemand von ihnen rührte sich. Jeriahs Trauer und Selbstmitleid waren wie eine Mauer, die er um sich gezogen hatte, und noch war nicht der richtige Moment gekommen, um sie einzureißen. Zu groß war die Gefahr, ihn noch mehr zu verletzen.
»Gut, wir fahren nach Damari und versuchen, die Sultana von unserer Sache zu überzeugen.« Morgan hob eine Schulter. »Und wenn sie uns keine ihrer Ressourcen zur Verfügung stellt, dann finden wir einen anderen Weg, den Palast zu infiltrieren und Aithan zu zerstören.«
Jeriah beugte sich langsam zu Morgan vor, die Stirn gerunzelt. »Warum bist du plötzlich bereit, mir zu helfen, Wölfin? Muss ich dich daran erinnern, dass du Monate damit zugebracht hast, die alten Götter zu erwecken und damit gegen mich zu arbeiten?«
»Ich verstehe, warum du das denken könntest, ja.« Sie neigte leicht den Kopf.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er leise. Der alte Jeriah hätte seine Stimme erhoben und ein Respekt einflößendes Bild abgegeben. Dieser Jeriah hier konnte kaum genügend Kraft aufbringen, um überhaupt die Worte zu formen. »Hast du oder hast du nicht Cáel dabei geholfen, die alten Götter zu erwecken?«
»Das habe ich.«
Er sah von ihr zu Erik, der seine Hand nicht zurückgezogen hatte. Ein Hinweis darauf, dass Morgan Jeriah eine wichtige Information vorenthielt. »Erklär dich mir. Ich bin gerade wirklich nicht in der Stimmung, das Rätsel einer Knochenhexe zu lösen. Insbesondere dann nicht, wenn ich sie hätte hängen lassen, hätte ich die Chance gehabt.«
»Jeriah«, warnte ihn Erik.
»Schon gut«, sprach Morgan eilig in den angespannten Raum hinein. »Ja, ich half Cáel, doch nur weil ich sein Vertrauen brauchte. Ich wusste, dass sich die Möglichkeit nicht noch einmal ergeben würde. Natürlich hätte ich das Ende unserer Zusammenarbeit nicht vorhersehen können und sie hat recht unglücklich geendet, lass dir das gesagt sein, aber ich glaubte, dass es wichtig war, alles über die alten Götter herauszufinden. Zumindest so viel wie möglich. Sie wären mit oder ohne meine Hilfe erweckt worden. Cáel hätte schon eine andere Knochenhexe aufgespürt, wenn es darauf angekommen wäre. Aber dadurch, dass er mir vertraut hat und mich die Gottheiten kaum beachtet haben, konnte ich sie beobachten und fand ihre Schwächen heraus. Eine nach der anderen. Sie sind nicht unzerstörbar. Nicht unsterblich, wie sie uns sicherlich glauben machen würden.«
»Erzähl es uns«, verlangte Jeriah, in dessen Augen sie ein kurzes Aufblitzen wahrnahm. So ganz tot und fertig mit seinem Leben, wie sie gedacht hatte, war er wohl doch nicht.
»Nicht mit ihm hier.« Sie deutete auf Montean, der mit dem Finger auf seine eigene Brust deutete und besonders unschuldig dreinschaute. »Oder auf diesem Schiff. Diese Informationen sind zu wertvoll und wir können nicht riskieren, dass sie heraussickern.«
»Ich werde jedenfalls nicht gehen. Das hier ist mein Schiff und ich befehlige die Mannschaft«, entgegnete Montean beinahe trotzig, als sich hinter ihnen die Tür öffnete. Morgan hatte jedoch nur Augen für ihn und den Schmerz, den er seinem Sohn zugefügt hatte.
Wut, die sie bis dahin nur als schwachen Schimmer wahrgenommen hatte, brodelte nun an die Oberfläche und sie riss die letzten Fetzen Macht der Knochenhexe zusammen, um ihm zu zeigen, was sie von ihm hielt.
Sie schüttelte Eriks Hand ab und erhob sich vom Stuhl, spürte, wie sich der Schädel der Knochenhexe über sie senkte und ihre Erscheinung veränderte. Ihre Augen leuchteten weiß und die Knochen flackerten unter ihrer verrottenden Haut hervor.
»Du wirst das tun, was wir dir befehlen«, knurrte sie mit dunkler Stimme, die nicht gänzlich ihr gehörte. »Oder du wirst dir wünschen, es getan zu haben. Eine zweite Chance wird es nicht geben.«
»Bitte tu ihm nichts«, flüsterte das Mädchen, das Morgan zuvor an Deck gesehen hatte. Es hatte sich in die Kajüte geschlichen und überbrückte nun den Abstand zwischen sich und Montean, um sich vor den Kapitän zu stellen.
Ihr schwarzes Haar war zu einem unordentlichen Zopf geflochten, der über ihrer zierlichen Schulter lag. In hauptsächlich Lumpen gekleidet wirkte sie klein und unscheinbar, aber in ihren dunklen Augen fand Morgan eine beeindruckende Stärke. Zu dieser mischte sich Angst.
Angst vor dem Monster, als das sie Morgan in diesem Moment sah.
Morgan schämte sich. Ganz langsam löste sie den Griff der Knochenhexe, richtete ihren Blick wieder auf Montean.
»Ich weiß, was du Erik angetan hast, und das werde ich dir niemals vergeben«, presste sie hervor. »Aber es liegt an ihm, dich auf die Art zu bestrafen, die er für angemessen hält.«
»Was für eine liebenswürdige Frau du dir ausgesucht hast, mein Sohn.«