Читать книгу Die versunkene Hexe: Von Göttern und Hexen - Laura Labas - Страница 15

Kapitel 7

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Minst war eine vergleichsweise kleine Stadt, die hauptsächlich von ihrem Walnussertrag lebte. Die Haine waren landesberühmt und auch Morgan hatte ihnen mit Larkin einen Besuch abgestattet. Abgesehen davon lockte Minst Seefahrer auf der Durchreise an, die vor Yastia noch einen kurzfristigen Halt einlegten, um entweder die letzten Waren zu verkaufen oder um sich bereits mit den ersten Händlern in Verbindung zu setzen, wenn man mit Gütern aus Idrela oder Vinuth anreiste.

Unglücklicherweise hatten sich Morgan und ihre Gruppe auf Monteans Schiff begeben, bevor dieser die Möglichkeit gehabt hatte, die Kisten mit Nahrung zu füllen. Minst war ein Halt, der sich nicht umgehen ließ, wenn sie während der wochenlangen Reise nach Damari nicht verhungern wollten. Sie könnten zwar auch erst in vier Tagen im ehemaligen Eflain in einen Hafen einlaufen, doch die Nähe zu Brimstone, das nun in Aithans Händen lag, machte sie alle nervös.

Auf mehrere Beiboote verteilt, erreichten sie schließlich den Hafen von Minst. Magus hatte sich damit einverstanden erklärt, zurückzubleiben, um mit ein paar wenigen Piraten auf das Schiff aufzupassen. Rhea hatte ihm einen Faden gegeben, in den sie Flüche hineinge­knotet hatte, mit denen er sich notfalls zur Wehr setzen konnte. Sie rechneten zwar nicht damit, dass sich Montean ihnen jetzt in den Weg stellte, allerdings trauten sie ihm dennoch nicht. Gerade weil Erik nur seine schlechten Seiten kannte.

Es war windig und kalt, doch es schneite nicht. Sie bezahlten den Hafenmeister und schlenderten anschließend durch die Straßen. Scheinbar ziellos bog Montean ab, begrüßte hier und dort Männer und Frauen in der nachmittäglichen Sonne, ehe er vor einem wenig beeindruckenden Gebäude stehen blieb. Ein paar Walnussschalen, die zu einem Windspiel zusammengesetzt worden waren, hingen von der Decke und klimperten fröhlich. Die Ruhe vor dem Sturm.

Noch hatte niemand von dem Kampf in Yastia gehört. Sie waren die Ersten, die die Strecke überwunden hatten, und Morgan war alles andere als erpicht darauf, die Neuigkeiten zu teilen und Jeriahs Ruf zu verschlechtern. Der König selbst hielt den Kopf gesenkt, die Kapuze tief. Morgan konnte nicht sagen, ob er nicht gesehen werden oder selbst nicht sehen wollte.

Rhea lief an Morgans Seite und lächelte sie sanft an, als sie ihren musternden Blick auffing.

»Die Stadt gefällt mir«, sagte sie, bevor sie ins Gasthaus traten, um für die Nacht ein paar Zimmer zu buchen. Erik hatte zu seinem Vater aufgeschlossen. Wahrscheinlich nicht, um mit ihm zu sprechen, sondern um sicherzugehen, dass er sie nicht übers Ohr haute.

»Wirklich?«, entgegnete die Wölfin erstaunt und blickte sich in der Schenke des Hauses um. Gut besucht für einen Nachmittag und kaum anders als der Rest, den sie bisher gesehen hatten. Die Menschen wirkten weder arm noch reich, lachten hin und wieder und teilten Geschichten ihres Tages.

»Sie ist so ruhig. So normal«, murmelte Rhea und fasste damit Morgans Eindruck perfekt zusammen. »Manchmal hilft es, alles noch mal ins rechte Licht zu rücken.«

Erstaunt sah Morgan sie an, da sie sich zu gut an ein ähnliches Gespräch erinnerte, das sie allerdings mit dem Hauptmann geführt hatte. Vor einer gefühlten Ewigkeit, als sie auf dem Weg gewesen waren, Rhea zu retten und vor der Gärtnerin zu beschützen. Damals hatte Erik gesagt, dass es ihn beruhigte, wenn er in einem Gastlokal saß und die Menschen beobachten konnte. Als wäre der Rest nicht mehr ganz so schlimm.

»Huh, es ist teurer als das letzte Mal«, hörte sie Monteans lautstarke Stimme.

Stirnrunzelnd drängte sich Morgan zwischen den Piraten hindurch nach vorn, Jeriah direkt neben ihr.

»Nachfrage ist gestiegen«, brummte der Gastwirt und stemmte die Hände in die Seiten. »Wenn du damit nicht einverstanden bist, such dir was anderes.«

Montean blickte über seine Schulter zurück und traf Morgans Blick. »Ich hab nicht mit so viel Geld gerechnet.«

Sie war froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, und hatte sich bereits auf eine Nacht in einem richtigen Bett gefreut. Nun mit der Möglichkeit konfrontiert zu werden, wieder aufs Schiff zu müssen, weckte vielleicht ein ganz kleines bisschen ihre Verzweiflung.

Also griff sie an ihren Zopf und holte die Manschettenknöpfe hervor, die sie Jeriah vor so langer Zeit gestohlen hatte. Bevor sie diese jedoch von dem Lederband lösen konnte, legte ebenjener eine Hand auf ihre. Die Kapuze fiel von seiner Stirn und sie fing den Blick aus seinen sanften braunen Augen auf.

»Behalte sie, bis du sie wirklich brauchst«, flüsterte er so leise, dass nur sie ihn verstand; dann, an den Wirt gewandt: »Ist das ausreichend?« Er hielt zwei Goldknöpfe in die Höhe, die er von seiner königlichen Tracht entfernt haben musste, bevor er sie gegen unscheinbar wirkende Hosen und ein Hemd ausgetauscht hatte.

Der Wirt nickte.

»Danke, alter Freund«, grunzte Montean, lachte und schlug Jeriah gegen die Brust. Zumindest hatte er dies vorgehabt, doch bevor seine Hand auf Jeriahs Körper landen konnte, hatte Erik sie in der Luft gepackt und festgehalten.

»Fass den König nicht an«, zischte er, ehe er das Handgelenk seines Vaters abrupt losließ. Morgan hatte unwillkürlich nach ihrem Dolch gegriffen, da sie Eriks Ton in Alarmbereitschaft versetzt hatte.

Montean zog seine Hand jedoch ohne großes Aufheben zurück und entfernte sich.

Jeriah nickte dem Hauptmann zu und sie verteilten sich auf die freien Tische, um vor ihrem Besuch im Sündenpfuhl der Stadt ihren Hunger zu stillen.

Morgan setzte sich zwischen Erik und Rhea. Jeriah ließ sich ihr gegenüber nieder, doch obwohl sie zusammen waren, war ihnen nicht nach Reden zumute. Sie befanden sich in einer Welt, in der sich jeder von ihnen zurechtfinden musste. Jeriah ohne seinen Thron und seine Familie, Erik ohne seine Männer, Rhea in Freiheit und mit einer unfassbaren Macht und Morgan ohne die Wölfe, ohne Aithan und ohne die Verbindung zu Cáel.

Es war ein Wunder, dass sie überhaupt weitermachen konnten.


Nachdem sie ihren Eintopf schweigend gegessen hatten, suchten sie das Viertel von Minst auf, in dem sich die zweifelhaften Eta­blissements befanden. Spielhöllen, Bordelle, kuriose Gasthäuser, die Morgan nicht mal für hundert Kronen betreten würde. Durch die geöffneten Fenster winkten ihnen seltsame Gestalten zu, Frauen und Männer in verschiedenen Kostümen, mit klirrenden Ketten und Halsbändern. Rhea erschauerte neben Morgan und drängte sich enger an sie. Wahrscheinlich wurde sie an ihre eigene Zeit als Sklavin erinnert.

Morgan warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu, das zurück­haltende Erwiderung fand. So ganz konnte Morgan die Webhexe noch immer nicht einschätzen. Ihr Verhalten war so widersprüchlich, mal sanft und schüchtern und dann wieder stur und aufbrausend. Vielleicht hatte sie sich in ihrer Freiheit noch nicht selbst gefunden, aber Morgan hoffte, dass sie die Zeit dafür haben würde.

Sie betraten die größte Spielhölle, die Minst zu bieten hatte, jedoch kein Vergleich zu der Brimstones oder Yastias. Zwei Lagerhäuser waren miteinander verbunden, wirkten, als würden sie beim nächsten Sturm davongeweht werden, und beherbergten scheinbar jeden Seemann und jede Seefrau, die gerade mit ihren Schiffen vor Anker lagen. Breitschultrige Männer in dunklen Kluften bewachten die Eingänge, sackten sich bereits die ersten Kronen ein und öffneten dann die Türen, die sie in das dunstige Innere führten. Es roch nach Schweiß und anderen menschlichen Ausdünstungen, der sandige Boden war übersät mit Essensresten und Dingen, denen Morgan keine zu große Aufmerksamkeit schenken wollte.

Mehrere verstaubte und wenig beeindruckende Leuchter hingen von den Deckenbalken und heißes Wachs tropfte in unregelmäßigen Abständen auf die Leute, die bereits im Rausch waren und es nicht mal bemerkten.

Es gab mehrere runde und lange Tische, an denen Pech & Krone sowie anderen Glücksspielen nachgegangen wurden. Montean löste sich mit seinen Männern von Morgans Gruppe, um mit ihrem übrig gebliebenen Geld eine größere Summe zu erspielen, damit sie genug Vorräte kaufen konnten.

Jeriah nickte Erik zu, ehe er Rhea an die Hand nahm und von ihm wegführte.

Morgan hakte sich beim Hauptmann ein und sah zu ihm auf. »Ich könnte was zu trinken vertragen. Was ist mit dir?«

»Bin dabei.« Er nickte Richtung Treppe. »Lass uns nachschauen, was es da oben so gibt.«

Nachdem sie sich den Rachen beinahe mit Branntwein verbrannt hatten, stiegen sie die gewundene Holztreppe in den ersten Stock hinauf, der sich hauptsächlich auf der zweiten Halle ausbreitete. Die Fenster waren hoch und so schmutzig, dass sie die heranbrechende Nacht dahinter kaum erkennen konnten. Anstatt Kronleuchter gab es funkensprühende Fackeln und hin und wieder auch ein leuchtendes Hexenlicht.

Spieltische suchte man hier vergebens. Man fand dagegen Käfige, in denen Hunde, Hühner und Ziegen eingepfercht waren. Manche von ihnen schliefen tief und fest, andere jaulten und knurrten, flehten, herausgelassen zu werden. Diese Art von Grausamkeit hatte Morgan noch nie verstanden. Die Faszination von Menschen, die Tieren dabei zusahen, wie sie sich gegenseitig zerfleischten, weil es ihnen so beigebracht worden war.

»Das gefällt mir nicht«, murmelte sie. Er schob sich zusammen mit ihr durch die Menge, die sich um mehrere Kampfkreise schloss, in denen die Tiere gegeneinander antraten.

Morgan sah nicht hin, aber allein die Geräusche ließen einen Schauder ihren Rücken hinabrinnen.

»Lass uns weitergehen«, stimmte Erik zu und sie erreichten einen anderen, halb offenen Raum. Dort fanden kleinere Wettbewerbe mit weniger Zuschauern statt. Kugelstoßen, Bogenschießen und schließlich auch … Messerwerfen.

Zögerlich blieb sie stehen, beobachtete eine Frau mit einem dicken blonden Zopf, die vier der sechs Messer in den äußeren Kreis warf. Grinsend hob sie die Arme, verneigte sich vor den wenigen Stehengebliebenen, bevor sie sich das Geld einsackte, das sie auf sich selbst gewettet hatte.

Morgan spürte Eriks bohrenden Seitenblick. »Was?«

»Warum versuchst du es nicht einfach, hm?«

»Ich bin längst nicht mehr so gut, wie ich einst war«, murrte sie, aber die Aufregung blieb. Ihre Fingerspitzen kribbelten und sie spürte das Jucken unter ihrer Haut.

»Komm schon. Niemand kennt dich hier«, versuchte er sie zu überzeugen und löste ihren Arm von seinem. »Ich wette, sie wird mindestens vier Messer in den inneren Kreis versenken«, sagte er zu dem Buchmacher und legte drei Silberlinge in dessen ausgestreckte Hand.

»Du kennst mich«, erinnerte sie ihn.

Erik grinste sie an, bevor er sich hinter sie stellte, gegen die Balustrade gelehnt, von der man hinab auf die Spieltische blicken konnte.

Nervös wog sie das erste Wurfmesser in ihrer Hand. Sie versuchte abzuschätzen, mit wie viel Kraft sie es werfen musste, um ihr Ziel zu treffen. Gleichzeitig dachte ein Teil von ihr an die Beile zurück, die Aithan ihr geschenkt hatte. Auch wenn sie ihn mittlerweile mit jeder Faser ihres Herzens hasste, sehnte sie sich nach den Beilen zurück. Es hatte Spaß gemacht, mit ihnen zu kämpfen. Unglücklicherweise hatte sie die Waffen verloren, als Larkin sie gefangen genommen hatte.

Tief atmete sie ein und wieder aus, dann entließ sie das erste Messer aus ihrem Griff und … verfehlte ihr Ziel. Die Klinge bohrte sich in das unbehandelte Holz, fernab des Bullauges. Hitze stieg in ihre Wangen und sie traute sich kaum, den Blick des Buchmachers zu erwidern. Er dachte wahrscheinlich, dass er mit ihr an diesem Abend das am leichtesten verdiente Geld gemacht hatte.

»Konzentrier dich«, hörte sie Eriks Stimme über das Rauschen in ihren Ohren hinweg. »Du schaffst das.«

Sie versuchte, die Stärke zu finden, die er in ihr sah und die nicht von der Dunkelheit der Knochenhexe verhüllt wurde. Denn so ging es einem Großteil in ihrem Inneren. Etwas, über das sie mit niemandem sprach, weil sie sich vor der Wahrheit fürchtete.

Die Wahrheit, dass die Knochenhexe allmählich überhandnahm und sie in nicht mehr allzu weiter Ferne vollkommen verschlingen würde.

Das zweite Messer bohrte sich in den äußeren Kreis; das Heft zitterte noch, als sie die nächsten vier Messer warf und jedes von ihnen ins Bullauge versenkte. Plötzlich hatte sie nicht mehr nachdenken müssen. Plötzlich war sie wieder die Wölfin, die jeden Tag über die Dächer Yastias jagte und ihr Können an beweglichen und unbeweglichen Zielscheiben erprobte.

Grinsend wandte sie sich zu Erik um, der sie bereits mit einem Leuchten in den Augen erwartete und einen Arm um ihre Mitte legte.

»Ich wusste, du kannst es«, flüsterte er an ihr Ohr und sie streckte sich, um sein bärtiges Kinn zu küssen.

»Lust auf eine weitere Runde?«, unterbrach sie der Buchmacher mit einem gezwungenen Lächeln. Offenbar mochte er es nicht, nach der so großen Hoffnung doch noch zu verlieren.

Morgan lächelte. »Warum nicht? Gleicher Einsatz?«

»Wie wäre es mit dem doppelten?«, fragte er gierig, sein linkes Auge zuckte.

Anscheinend hatte er irgendeinen Weg gefunden, um sich sein verlorenes Geld zurückzuholen. Sie war neugierig auf das, was ihm eingefallen war und mit welchem Trick er aufwartete, also willigte sie ein.

Das Brüllen der Menschen um sie herum vermischte sich mit dem Knurren und Blöken der Tiere zu einem schwammigen Hintergrundgeräusch, als sie nach dem ersten Messer griff, das der Buchmacher auf einem Tablett zu ihrer Rechten abgelegt hatte. Augenblicklich bemerkte sie den Unterschied zu den Messern davor. Dieses war weitaus schwerer und unhandlicher, vielleicht mit einem mit Blei versetzten Griff.

Sie unterdrückte ein triumphierendes Grinsen. Wenn das alles war, was der Buchmacher auf Lager hatte, dann würde sie ihn ganz schön alt aussehen lassen.

Eins.

Zwei.

Drei.

Sie warf und … wurde brutal von der Seite angerempelt. Schreie wurden laut und sie konnte sich gerade so, bevor sie der Länge nach auf dem schmutzigen Boden aufschlug, an einer Tischkante abstützen.

Stirnrunzelnd blickte sie sich um, als Erik sie am Arm packte und von dem Stand weglotste. Geld und Wette verloren und vergessen. Hier ging es um Leben und Tod.

»Was ist geschehen?«, keuchte sie, folgte Erik jedoch Richtung Ausgang, während um sie herum die Hölle ausbrach. Die Leute wandten sich von den Tierkämpfen ab und der Balustrade zu. Manche schrien, reckten ihre Fäuste in die Luft, andere sprangen und rannten nach unten, um bei etwas viel Spannenderem Zeuge zu werden. Um sich in Kämpfe zu mischen und das Geld zu vergessen, das nicht mehr ihnen gehörte. Hunde preschten aus ihren Gehegen, bissen sich einen Weg zwischen den Leuten hindurch. Hühner gackerten.

»Montean wurde beim Schummeln erwischt«, zischte Erik und führte sie die überfüllte Treppe nach unten, die unter dem Gewicht der rennenden Masse laut knarzte. Somit war es keine Überraschung, als die ersten Risse im Holz entstanden und sie schließlich auseinanderbrach. Morgan packte Eriks Arm mit der einen Hand und hielt sich mit der anderen an der Fensterbank fest.

Einige Männer und Frauen fielen mit den Trümmern zu Boden. Das Geschrei schmerzte in ihren Ohren und als schließlich Panik ausbrach, sich mit den Leuten mischte, die Montean vermutlich eine Abreibung verpassen wollten, glaubte sie, diesen Ort nicht mehr heil verlassen zu können.

»Wo sind Jeriah und Rhea?«, fragte sie, sich neben Erik an die Wand drängend. Die Überreste der Treppe hielten gerade so ihrem Gewicht stand, aber sie trauten sich nicht, sich zu bewegen. Die meisten Stufen waren in der Mitte durchgebrochen, sodass sie nicht die Einzigen waren, die zwischen den zwei Stockwerken gefangen waren.

Staub rieselte von der Decke und von irgendwoher drang Rauch in ihre Nase, brannte in ihren Augen. Dann fand sie den Flammenherd. Jemand musste im Durcheinander eine Fackel fallen gelassen haben und diese hatte einen Spieltisch in Brand gesetzt. Ein paar Leute versuchten vergeblich, ihn mit Bier zu löschen, doch die meisten wollten sich einen Weg nach draußen erkämpfen. Etwas, das auch sie tun sollten.

»Ich sehe sie nicht«, gab Erik deutlich frustriert zurück.

»Ich könnte sie mit meiner Magie suchen«, schlug sie vor.

Der Hauptmann zögerte einen Moment, ließ den Blick über die Menge schweifen, als sich eine Frau von oben an ihnen vorbeischob. Sie trat auf Morgans Füße, hielt sich an Eriks Schultern fest und riss einer anderen Frau am Haar, als sie das Gleichgewicht verlor und schließlich rücklings zu Boden fiel. Morgan wandte den Blick ab.

»Nein.« Er drehte sich ganz langsam um, sodass er mit dem Gesicht dem Fenster zugewandt stand. Morgan legte eine Hand an seinen Rücken, damit ihn nicht das gleiche Schicksal ereilte wie der Frau. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass sich bereits weitere Besucher daranmachten, an ihnen vorbeizuklettern, um der Flammenhölle zu entkommen. Sie konnte es ihnen nicht verdenken, aber sie würde ihr eigenes Leben und das von Erik nicht riskieren. Also wehrte sie den ersten Mann mit einem gezielten Schlag ihres Ellbogens mitten in sein Gesicht ab und trat dem Nachrückenden zwischen die Beine, hielt allerdings seinen Arm fest, damit er nicht herabstürzte. Wütend schüttelte er sie ab, wodurch er die Stufe jedoch zu sehr beanspruchte, und als sie unter ihm versagte, rutschte er nach unten.

Während Erik das Fenster mit dem Schwertgriff zerschlug, beugte sich Morgan hinab und umfasste in allerletzter Sekunde das Hand­gelenk des Fallenden. Mit angsterfülltem Gesicht sah er zu ihr hoch. Ihr Gelenk wurde ihr beinahe aus der Schulter gerissen.

»Lass mich nicht los«, wimmerte der zweihundert Pfund schwere Mann.

Sie biss ihre Zähne zusammen, stöhnte vor Anstrengung, als sie versuchte, ihn hochzuziehen, aber sie war nicht stark genug. Die Knochen­hexe gackerte, lockte sie mit ihrer Magie und Morgan war bereit, nachzugeben. Ein bisschen mehr von ihrer Seele, ihrem Verstand zu verkaufen, als der Mann durch ihren Griff hindurchrutschte und mit einem lauten Krachen auf einem der brennenden Tische aufkam. Reuevoll schloss sie die Augen, wurde jedoch sofort von Erik nach oben gezerrt.

»Wir müssen los«, raunte er und überließ ihr den Vortritt.

Noch nicht ganz bei der Sache, schnitt sie sich an den übrig gebliebenen Scherben die Schienbeine auf, doch der Schmerz drang nicht ganz bis zu ihr durch. Stattdessen sah sie erneut den Mann vor ihren Augen fallen. Wäre sie nur schneller gewesen. Hätte sie ihr eigenes Wohl nicht vor das seine gestellt, dann wäre er noch am Leben.

Wie in einem Traum handelte ihr Körper ohne ihr eigenes Zutun. Draußen hangelte sie sich von dem hervorstehenden Fensterbrett zum nächsten und sprang schließlich auf einen Wagen hinab, der dort abgestellt worden war. Erik kam neben ihr auf und brachte die Ladefläche zum Schaukeln. Leider waren keine Pferde angespannt, die sie sich hätten ausleihen können. Allerdings folgten bereits die Ersten aus der Scheune, die ihre erfolgreiche Flucht bemerkt hatten.

»Was jetzt?«

»Zum Schiff. Ich denke nicht, dass Montean, falls er es nach draußen geschafft hat, länger als nötig in Minst herumlungern wird.« Erik schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass er unser Vorhaben derart leichtsinnig riskiert hat. Er hatte doch das, was er wollte. Er hätte mit unserem Geld an den Spieltischen gewinnen können.«

»Ich glaube nicht, dass er wirklich darüber nachgedacht hat«, meinte Morgan, bevor sie sich in Richtung Hafen in Bewegung setzten.


Am Hafen trafen sie auf Jeriah und Rhea, denen es gut ging. Sie teilten sich eines der Beiboote und ruderten zurück zum Schiff, das dunkel und scheinbar verlassen vor Anker lag. Magus half ihnen hinauf und trat schließlich mit düsterer Miene zur Seite, als Montean sich ihnen zu erkennen gab. Morgan hatte keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, noch vor ihnen aufs Schiff zu gelangen, und sie war noch so in ihrem Erstaunen gefangen, dass sie Erik nicht zurückhalten konnte, als er auf seinen Vater zutrat und ihm mit der geballten Faust ins Gesicht schlug. Bevor er jedoch einen weiteren Treffer landen konnte, fror sein Arm mitten in der Bewegung ein und Jeriah legte beschwichtigend eine Hand auf die Schulter seines Freundes. Kurzzeitig blitzten die Fäden um Eriks Arm auf, dann verschwanden sie und er konnte ihn wieder bewegen. Langsam senkte er ihn, der Blick lag weiterhin vor Zorn glühend auf Montean. Jener rieb sich das wunde Kinn, wirkte aber nicht im Geringsten beeindruckt.

»Du konntest einfach nicht anders, oder?«, knurrte Erik. »Du musstest einfach wieder betrügen!«

»Sohn …«

»Ich bin nicht mehr dein Sohn!«, kam es von Erik zurück, bevor Montean überhaupt eine Chance hatte, sich zu erklären. Er schüttelte Jeriah ab und packte den Kapitän der Piraten am Kragen. »Du hast mich einfach wie einen Köter verkauft und jetzt tust du das Gleiche Elida an! Schämst du dich nicht? Hasst du deine Kinder … deine Tochter so sehr?«

»Von was redet er da, Vater?« Elida hatte sich ungesehen angeschlichen, wirkte verwirrt und ängstlich, wusste nicht, wie sie ihrem Vater und ihrem Halbbruder helfen sollte. Morgans Herz schmerzte bei dem Anblick, denn auch sie fühlte ein Echo davon.

»Er denkt, ich habe die Kronen verloren«, erklärte Montean so ruhig, als würde er nicht von seinem eigenen Sohn gewürgt werden. Natürlich würde Erik ihn nicht töten, aber ein bisschen mehr Aufregung in seiner Stimme hätte Erik vermutlich nicht ganz so sehr provoziert wie die Ruhe, die er ausstrahlte.

»Oh«, stieß Elida hervor und dieses Geräusch war das einzige, was Erik innehalten ließ. Er sah von ihr zu seinem Vater.

»Hast du das etwa nicht?«, zwang sich Morgan zu fragen, um die Konfrontation zu einem Ende zu führen.

Sie schritt näher heran, damit sie Eriks Gesicht sehen konnte, das zu einer starren Maske versteinert war.

»Ehrlich, ich dachte, ich hätte mich bereits als vertrauenswürdig erwiesen, als ich euch auf meinem Schiff aufgenommen habe«, grummelte Montean mit einem Zwinkern in den Augen.

Erik ließ ihn endlich los und angewidert schob er ihn von sich.

»Hör auf mit dem Scheiß«, zischte Morgan mit ihrer eigenen Geduld am Ende. »Wir haben dir erlaubt zu bleiben und nicht andersherum.«

Montean verneigte sich spöttisch und als er wieder aufrecht stand, holte er wie aus dem Nichts einen prall gefüllten Beutel hervor. »Ist es mir also erlaubt, die Kronen mit euch zu teilen?« Erik entriss ihm den Beutel und öffnete ihn. Glänzende goldene Kronen blendeten sie. »Anders als mein … als Erik glaubt, habe ich weder unseren Einsatz verloren noch den Gewinn. Nun ja, ich habe betrogen, allerdings aus Berechnung. Ich wollte erwischt werden. Das Durcheinander ist zwar ein bisschen aus dem Ruder geraten, aber alles in allem hat meine Schauspielkunst genau das erreicht, was sie sollte: Die Betreiber der Spielhölle haben sich allein auf mich konzentriert, während meine Männer den richtigen Preis besorgten. Sie verschafften sich Zugang zu ihrem Versteck und leerten den Tresor.« Montean bewegte seine Hand und Einauge und Goldzahn traten hervor mit jeweils zwei weiteren Beuteln voller Kronen. »Ich denke, das reicht, um unsere Reise nach Damari angenehm zu gestalten. Wir segeln noch während der Ebbe aus und ankern vor Siben, um unsere Vorräte nun wirklich aufzustocken. Alles zu Eurer Zufriedenheit, Eure Hoheit?«

Jeriah überbrückte langsam den Abstand zwischen sich und dem Kapitän. Morgan hörte nicht, was für Worte gewechselt wurden, doch Monteans ernüchterndes Nicken machte sie neugierig.

Ihr Blick wurde von Erik angezogen, der sich abrupt abwandte und unter Deck verschwand. Seufzend sah sie ihm hinterher, während die Knochenhexe gackerte.

Die versunkene Hexe: Von Göttern und Hexen

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