Читать книгу Die versunkene Hexe: Von Göttern und Hexen - Laura Labas - Страница 7
Prolog
ОглавлениеCáel spürte die Kälte wie ein lebendiges Wesen, das seine Wirbelsäule hinaufkroch. Vor Stunden waren er und seine Mutter aufgebrochen, hatten sich einen Weg durch den dichten Wald erkämpft, während sich der zugezogene Himmel schälte. Dicke weiße Schneeflocken schlüpften durch das kahle Geäst und landeten um ihn herum auf dem gewundenen Pfad, der sich endlos weiterschlängelte. Cáels Füße, nur halb so groß wie die seiner Mutter, fühlten sich an wie der zugefrorene See, an dem sie vor ein paar Tagen vorbeigewandert waren.
»Warum kannst du uns nicht mit deinem Feuer wärmen?«, nörgelte er; beschwerte sich, weil ihm sonst die Kälte den Verstand raubte. Die Stille, die sich wie ein unüberwindbares Hindernis zwischen Themera, Göttin des Feuers, und ihm, Gott des Nichts, aufgebaut hatte.
»Ich habe es dir bereits erklärt, Cáel«, sagte sie mit deutlicher Ungeduld in der Stimme; doch sie antwortete und hielt nicht an diesem nagenden Schweigen fest.
»Erklär es mir noch einmal«, bat er, ruhiger dieses Mal und mit mehr Zuversicht in der Stimme. Als würde durch die Antwort seiner Mutter die Welt weniger grausam, der Wald weniger dunkel und die Jahreszeit weniger kalt werden. Ein Traumgespinst, aus dem er schon sehr bald gerissen werden würde, doch noch klammerte er sich mit seinen kleinen, blutigen Händen daran.
Stirnrunzelnd betrachtete er die aufgerissene Haut, das Blut, das seines und nicht seines war. Monster hatten sie verfolgt. Monster hatten sie gefunden. Sie hatten fliehen müssen. Wieder einmal. Laufen. Immer weiter.
»Die Schergen der neuen Götter können es spüren, wenn wir unsere Magie zu oft einsetzen. Eine Flamme schadet uns vielleicht nicht, doch je länger sie brennt, je heller sie wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie uns finden.« Er stolperte über eine tückische Weidenwurzel und fiel der Länge nach hin.
Themera drehte sich abrupt zu ihm um, der Saum ihres langen Umhangs wischte über den Boden, wirbelte Schmutz und Blätter auf, als sie sich vor ihn hinkniete. Mit ihren ebenfalls blutbesudelten Händen umfasste sie seine Schultern, schenkte ihm Kraft und half ihm beim Aufstehen.
Eine Träne kullerte ungebeten aus seinem Auge und er wischte sie sich grob von der Wange. Er durfte nicht weinen. Musste stark sein.
Fast … Fast wären sie wie Wildschweine ausgeweidet worden, bereit für das nächste Göttermahl. Fast wäre Cáel gestorben, bevor er herausfinden konnte, was für ein Gott er war. Fast wäre er niemals groß und stark geworden, um seine Mutter zu beschützen – so wie sie ihn seit seiner Geburt beschützte.
»Du bist so mutig«, wisperte sie mit einem Kratzen in der Stimme. Seine Mutter war wunderschön, besaß langes schwarzes Haar und stechend grüne Augen. Hell und doch voller Tiefe. Gleich den seinen. »Und tapfer, aber ich verspreche dir, es wird bald vorbei sein. Kein Davonlaufen mehr. Keine Kälte mehr. Halte noch ein bisschen länger durch.«
Er traute seiner Stimme nicht, war sicher, sie würde zittern und zerbrechen wie Glasscherben unter den Schmerzen seines Körpers, deshalb nickte er. Presste die Lippen zusammen und reckte das Kinn, ehe er nach Themeras ausgestreckter Hand griff und ihr durch den düsteren, düsteren Wald folgte.
Die Äste über ihnen ächzten unter der Last des Schnees, während Mutter und Sohn weiter voranschritten, und Cáel fühlte sich, als würde die Seele des Waldes, die Seele seiner Tante Maelis, direkt in seine eigene sehen. Würde erkennen, dass Mut und Tapferkeit nur etwas Dunkles kaschierten, das er seiner Mutter niemals zeigen dürfte.
Feigheit.
Kaum gelang es ihm, einen Schritt vor den anderen zu setzen, so lähmend war die Furcht tief in seinen Knochen. Die kalte Hand der Vorahnung und der Erinnerung legte sich um seinen Nacken, drückte immerfort zu, damit er sie nie vergaß.
Damit er nie die Angst vergaß.
Themera merkte nichts von seinem inneren Zwiespalt. Sie sah bloß den Sohn, den sie glaubte, erzogen zu haben. Stark und den Feinden trotzend, die sich enger um sie schlossen.
Ganz gleich, was sie versprochen hatte, es würde nie ein gutes Ende für sie geben. Niemals Wärme. Niemals ein Bett zum Schlafen und niemals eine Zukunft, in der ihre Familie vereint war.
»Garvan«, flüsterte er. »Lesha, Tujan …«
»Was sagst du da?«
»Maelis, Avel, Jestin, Karel …«, setzte er die Aufzählung der Götter fort. Der einzig wahren Gottheiten. »Themera.«
Er fing den Blick seiner Mutter auf. Ein sanftes, beinahe trauriges Lächeln zupfte an ihren roten Lippen. »Cáel«, raunte sie und gab ihm damit das größte Geschenk, das er sich hätte vorstellen können.
Schweigend wanderten sie weiter. Ihre Hände fest miteinander verbunden.
»Wir sind da, mein kleiner Gott«, weckte ihn Themera. Er hatte im Gehen gedöst, war seiner Umgebung kaum gewahr gewesen, doch nun blinzelte er heftig gegen den Schnee an, bis er die dunklen Umrisse eines riesigen, seltsamen Tempels ausmachen konnte.
»Was ist das?«, fragte er, als sie vor dem gusseisernen Zaun hielten und die tanzenden Lichter hinter den bleiernen Fenstern betrachteten.
»Ein Kloster.« Themera drückte einmal seine Hand, die er kaum noch spürte. »Hier leben Mönche, die ihr Leben der Huldigung der Götter widmen. Sie werden dich warm halten. Mit ihrem Glauben. Mit ihrem Feuer.«
Zunächst überstrahlte die Vorfreude auf ein warmes Bett alles andere und Cáel konnte es kaum erwarten, den Zaun zu überwinden und durch das Tor zu schreiten. Als er jedoch Themera vorwärtsziehen wollte und sie sich dagegen wehrte, prasselten die Worte ein weiteres Mal, stumm und nur in seiner Erinnerung, auf ihn ein. Sie werden dich warm halten.
»M-Mutter?«, stotterte er und die Feigheit und die Angst und die Furcht und alles, was er zurückgehalten hatte, brandeten gegen die Klippen seines Verstandes und der Stein bröckelte. Das Herz wurde ihm schwer und die Luft setzte sich in seinem Hals fest, während die kalte Hand erneut drohend in seinem Nacken lag.
Themera ging vor ihm in die Hocke, streckte ihre freie Hand aus und strich ihm das dunkle Haar aus dem Gesicht. Seine Ohren brannten, als sie schutzlos dem Wind ausgesetzt wurden.
»Du musst mich vergessen, mein kleiner Gott«, erklärte sie ihm. »Hier beginnt dein neues Leben und du musst vergessen, was war und wer wir sind, hast du verstanden?«
»Das will ich nicht«, widersprach er und verfluchte innerlich seine bebenden Lippen. Aber an seinem Körper gab es nichts mehr, was nicht zitterte, und vielleicht konnte Themera die Schwäche in den dunkelsten Tiefen ja doch nicht erkennen. Vielleicht sah sie in ihm wirklich einen Gott. Ihren kleinen Gott.
»Du musst«, betonte sie, unnachgiebig, und in ihren Augen brannte ein Feuer, das ihn zu verletzen drohte.
Normalerweise wandte sie sich stets ab, wenn das passierte. Wenn sie ihre Gefühle nicht im Zaum halten und ihre Macht ausbrechen konnte, aber nicht dieses Mal. Dieses Mal ließ sie seine Hand los und packte ihn stattdessen an den Oberarmen, sah ihn mit dem aufwallenden Feuer an.
»Ich verfluche dich, mein Sohn. Mit der Kraft einer Mutter und der Macht einer Göttin verfluche ich dich. Unschuldig, schwach und allein wirst du sein. Ein Gott nicht länger, ein Mensch für immer.«
Ein brennender Schmerz schoss durch ihn hindurch, konzentrierte sich auf seine Brust, direkt über seinem Herzen und jedes weitere Wort seiner Mutter ging in dem Rauschen in seinen Ohren unter. In der Panik, die ihn erfasste, als er sich nicht mehr wie er selbst fühlte.
Als wäre ein Teil seiner Seele abgerissen und ihm entwendet worden.
»Sei ein guter Junge«, flüsterte sie, bevor sie sich abwandte und im Schneesturm davonschritt. Eine dunkle, fremde Gestalt. Er wollte ihr hinterherlaufen. Musste ihr nachgehen, doch er konnte sich nicht bewegen. Seine Füße klebten auf dem gefrorenen Boden fest.
Junge.
Junge.
Kein kleiner Gott mehr. Nunmehr ein Junge.
Dieses Mal wischte er die Tränen nicht weg, als sie über seine bleichen Wangen rannen. Er sagte nichts, als die Mönche ihn fanden und in ihr Heim brachten. Er fühlte nichts, als er in ihrer Mitte erwachsen wurde.
Immerzu sah er nur die schwindende Gestalt im Schnee, die einst seine Mutter gewesen war.