Читать книгу Die versunkene Hexe: Von Göttern und Hexen - Laura Labas - Страница 18

Kapitel 10

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Mithilfe von Jeriahs und Rheas Magie durchquerten sie das Meer in einer beständigen Geschwindigkeit und waren nicht abhängig von den sich ständig verändernden Windverhältnissen. Das Wetter verbesserte sich zusehends, je weiter sie Richtung Süden fuhren, und nach anderthalb Wochen auf See erreichten sie bereits die ersten Ausläufer der berüchtigten Knocheninseln. Der Sage nach waren dort am sechsten Tag der Schöpfungsgeschichte die ersten Menschen von Tujan, Gott des Lebens und des Todes, erschaffen worden.

In der anderen Schöpfungsgeschichte hatten die Schicksals­weberinnen ihre Hände im Spiel. Angeblich hatten sie vor Millionen von Jahren einen Teppich gewebt, den sie mit Erde füllten, sodass er sich zu einer Kugel formen ließ. Aus den blauen Fäden Mathas entstand zunächst die Diamantsee, die schließlich vom Gespiegelten Meer nachgeahmt wurde.

Land, Wald und Gebirge formten sich aus Grainnes Fäden, Wasser- und Landtiere weiterhin aus Mathas und der Mensch aus Clidnas.

Nachdem sie sahen, dass der Mensch Führer brauchte, um sich weiterzuentwickeln und glücklich zu werden, kreierten sie gemeinsam die alten Götter.

Selbstverständlich verleugneten die alten Gottheiten jene Geschichte, da es sie beinahe auf eine Stufe mit den Menschen herabsetzte. Sie waren keine Allmacht; genauso erschaffen wie der erste Mensch auf den Knocheninseln.

Morgan stand an der Reling, die sie mit klammen Fingern umfasst hielt. Der Wind hatte aufgefrischt und schob eine grün-graue Wolkenmasse an sie heran, die ihr Sorgen bereitete. Auch die Mannschaft hatte das anstehende Gewitter bemerkt und war gerade dabei, die Segel einzuholen und Kisten und Vorräte zu sichern. Es war der ungünstigste Zeitpunkt, um in einen Sturm zu geraten, da es auch unter besten Voraussetzungen schwierig war, zwischen den Knocheninseln zu navigieren, ohne auf einer der vielen Sandbänke aufzulaufen. Montean hatte am Abend zuvor die bevorstehenden Tage zusammengefasst, die wohl auch den erprobtesten Seefahrer fordern würden.

Erik hatte bloß geschnaubt. Mittlerweile ignorierte er seinen Vater und ging ihm aus dem Weg. Morgan hatte noch ein paar Mal versucht, mit ihm zu sprechen, aber er hatte abgeblockt; er müsse mit dem Schmerz allein zurechtkommen, wie er ihr mitgeteilt hatte.

Stirnrunzelnd beobachtete Morgan ein paar der Männer dabei, wie sie ein fremdartiges Konstrukt aus Eisen aus dem Bauch des Schiffes hochluden. Eine weitere Schutzmaßnahme gegen das Gewitter?

Montean erschien gerade als das Konstrukt am Bug positioniert und mit langen Ketten festgezurrt wurde, damit es nicht beim rauen Wellengang hin- und herschaukelte. Hinter ihm folgten Einauge und Goldzahn, wie Rhea sie im Spaß nannte, die mehrere mannshohe Stäbe aus Eisen mit gefährlich blitzenden Spitzen trugen.

»Was ist das?«, erkundigte sich Morgan, nachdem sie zu ihnen aufgeschlossen hatte. Die ersten Tropfen fielen auf ihre Wange und sie musste ihre Fersen fester auf den Planken aufsetzen, um nicht ihr Gleichgewicht zu verlieren, als sich das Schiff gefährlich neigte. Der Wind pfiff ihr um die Ohren und verursachte ihr eine Gänsehaut.

Schon vor drei Tagen hatte sie ihre lange Tunika und den Wollmantel gegen ein dünnes Leinenhemd austauschen können, das sie mit einem Gürtel um die Mitte gerafft hatte; doch nun bereute sie, dass sie sich heute Morgen nicht für einen Umhang entschieden hatte. Eigentlich wollte sie während des Sturms an Deck bleiben, da ihr in ihrer Kajüte nur übel werden würde, doch nun müsste sie dieser wohl einen Besuch abstatten.

»Eine Harpune«, erklärte Montean, bevor er seine Männer dazu delegierte, eine weitere Harpune ans Heck anzubringen. »Ich hatte gehofft, dass die Fahrt an den Knocheninseln vorbei ohne Hindernisse ablaufen würde, aber wie es aussieht, ist uns weder Venou noch Avel hold.«

»Ich verstehe nicht«, gab Morgan zu, auch wenn es ihr zuwider war, sich ihre eigene Unkenntnis einzugestehen und diese dann auch noch dem Kapitän mitzuteilen.

Er kratzte sich am Ohrläppchen, das in der Mitte gespalten war, als hätte ihm jemand einen Ohrring rausgerissen, und setzte zu einer Antwort an. Allerdings kam ihm Rhea zuvor. Wie aus dem Nichts war sie neben Morgan aufgetaucht. Gerade so konnte sie verhindern, dass sie vor Schreck zusammenzuckte.

Eine beeindruckende Wölfin war sie, wenn sie nicht mal bemerkte, wie sich ihr jemand näherte. Selbst wenn Rhea Magie benutzt hatte, um ihr Kommen zu verschleiern.

»Das Gewitter kündigt die Seeschlangen an, nicht wahr?«

»Seeschlangen?«, echote Morgan und sah von Rhea zu Montean, der ebenso erstaunt wirkte wie sie, aber aus einem anderen Grund.

»Du weißt von ihnen?«

»Ich habe über sie gelesen«, murmelte sie und blickte zum Horizont, an dem sich die dunklen Wolken auftürmten. »Sie werden stets von Gewittern begleitet und jagen immer zu dritt.«

»Das ist wahr.« Montean widmete sich wieder der Befestigung der Waffe. »Glücklicherweise müssen wir nur eine von ihnen erledigen. Sobald sie nicht mehr zu dritt sind, flüchten sie.«

»Nur eine?«, hauchte Morgan, die zum ersten Mal so etwas wie Angst verspürte, seit sie auf das Schiff geflohen waren.

»Selbst eine zu töten ist … Wahnsinn.« Rhea umfasste ihren Oberkörper. »Ich las, ihre widerstandsfähigen Schuppen schützen sie vor Magie aller Art.«

»Nun …«

Morgan stellte sich vor ihn, sodass er sich nicht länger mit den Ketten beschäftigen konnte und sie ansehen musste. »Ist das wahr?«

»Sie sind älter als wir Menschen, was hast du erwartet?« Er verzog den Mund. »Wir werden mit ihnen schon zurechtkommen. Dafür haben wir ja die Harpunen. Normalerweise wird nur eines von zehn Schiffen attackiert …«

»Habt ihr denn schon einmal eine erledigt?«, hakte Morgan argwöhnisch nach.

»Bisher sind wir noch nicht das zehnte Schiff gewesen.« Er zwinkerte ihr zu. »Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet, meine Damen, ich muss mich weiter um die Vorbereitungen kümmern. Solltet ihr an Deck bleiben, empfehle ich euch, euch an einem Mast festzubinden. Für den Fall der Fälle.« Damit ließ er sie stehen und bellte mehrere Befehle wie ein Kanonenfeuer, das über die Mannschaft hereinbrach.

»Er ist verrückt geworden«, murmelte Morgan, die Hände aus Frust zu Fäusten geballt.

»Vielleicht.« Rhea lächelte leicht. »Oder aber er versteht ganz genau, was auf dem Spiel steht.«

»Was meinst du damit?«

»Nun, er hat sich ja offenbar darauf vorbereitet, den Schlangen zu begegnen, und diese … Waffen an Bord gebracht. Ich denke, er hat sich sehr lange Gedanken darüber gemacht, wie er seine Mannschaft heil durch die Meere bringen kann.«

Morgan erwiderte nichts darauf.

Nicht, weil sie die Meinung nicht teilen würde, sondern weil sie Rhea nicht öffentlich zustimmen wollte. Montean konnte vorausschauend und bedacht agieren, um seine Männer zu retten, doch nicht, um seinen Sohn vor der Sklaverei zu beschützen.

Stattdessen ging sie unter Deck und holte ihren Umhang. Auf dem Weg zurück schlossen sich ihr Erik und Jeriah an. Magus half bereits der Mannschaft dabei, die Ladung festzumachen. In wenigen Worten weihte sie den König und dessen Leibwächter in das Kommende ein. Auch sie schienen wenig begeistert von der Aussicht, dass sie sich vollkommen ohne Magie gegen drei Meerschlangen zur Wehr setzen mussten. Erik erinnerte sich an seine eigene Überfahrt und die Anspannung, die über der Mannschaft gelegen hatte, als sie die Stelle passiert hatten. Damals war ihnen das Glück allerdings hold gewesen.

Anders als Rhea hatte Morgan noch nie etwas über diese Wesen gehört und so konnte sie sich nur auf ihre eigene Vorstellungskraft verlassen, die von der Wirklichkeit weit übertroffen wurde.

Der Sturm erreichte sie mit voller Wucht und blies ihnen Gischt und Wasser aufs Deck. Das Schiff schaukelte so heftig, dass Morgans Magen hochrutschte und sie sich beinahe übergab. Gleichzeitig war sie damit beschäftigt, nicht über die Planken zu schlittern und ins Wasser zu fallen.

Und dann sah sie eine der Seeschlangen und ihr Herzschlag stoppte.

Durch das Wasser brach als Erstes der dreieckig geformte Kopf, an dessen Seiten zwei geschwungene Hörner nach hinten ragten. Die Schuppen schimmerten erst blutrot und dann, je weiter der Hals rausragte, dunkelgrün. Mehrere, unterschiedlich große Flossen ragten aus der Wirbelsäule hervor und wogten leicht im Wind, als die Schlange ihr Maul aufriss und ein tiefes Brüllen ausstieß. Speichel und Gischt fielen auf sie nieder, während sie ins riesige Maul blicken konnten, in das problemlos ein ganzer Mensch stehend gepasst hätte. Die messerscharfen Zähne blitzten auf und versetzten die ganze Mannschaft für den Bruchteil einer Sekunde in Schreckensstarre.

Ein Blitz schlug in ihren höchsten Mast und das Krachen riss sie aus ihrer Lethargie. Die Welt drehte sich weiter und Morgan löste sich von dem Bann, den das Seemonster um sie geschlagen hatte, um einen Knochen auf ihre Zunge zu legen. Sie konnte ihre Magie zwar nicht gegen die Schlange verwenden, aber sie konnte versuchen, den Mast zu stützen und das Feuer zu löschen, das sich trotz des Regens auszubreiten drohte.

Erik zog an ihrer Seite das Schwert und mit Magus und Jeriah bildete er die erste Abwehrreihe. Sie hatten den Auftrag bekommen, eine der Schlangen zur nächstgelegenen Harpune zu lotsen. Das Gleiche versuchten Montean, Einauge und Goldzahn am Bug. Nur die dritte Schlange müsste erst einmal so in Schach gehalten werden, ohne eine der Harpunen zu besetzen. Wenn sie Glück hatten, tauchte sie gar nicht erst auf, da sie im besten Fall bereits eine der anderen beiden Schlangen erledigt hätten.

Natürlich konnten sie sich nicht darauf verlassen und so pochte Morgans Herz heftig vor Aufregung, Angst und auch Anstrengung. Sie konnte sich dieses Mal nicht in der Knochenhexe verlieren. Zwar hatte sie in den letzten Monaten gelernt, ihre Magie öfter zu nutzen und sich nicht von ihr überwältigen zu lassen, aber sie war in den vergangenen zwei Wochen auch nicht mehr in der Übung geblieben.

Dennoch, was blieb ihr anderes übrig?

Rhea befand sich auf der anderen Seite des Schiffes und half zumindest mit ihrer Webmagie den Männern beim Schöpfen des Wassers und Stopfen der Löcher. Morgan konnte nicht untätig herumstehen.

Sie stellte sich breitbeinig hin, hob ihre Arme und rief die Knochen­hexe. Erde flutete ihre Lunge, vergrub Morgan und grub sie tiefer, ehe Morgan den Schädel der Hexe vor ihrem inneren Auge sehen konnte. Dann wurde sie von so großer Macht ausgefüllt, die sie auf die Knie zwang. Der Knochen hatte sich aufgelöst, doch die Magie blieb und sie fragte sich, was für einen Knochen sie dem Fleischer in Siben abgekauft hatte.

Keuchend ballte sie die Hände zu Fäusten, dann riss sie die Augen auf und sah, dass ihre Haut wie auch die letzten Male schimmerte und die Knochen darunter offenbarte. Für einen Moment zögerte sie … Für einen Moment zweifelte sie an ihrem Vorhaben, einen weiteren Teil ihrer Seele zu verkaufen, doch dann knirschte der Mast und sie dachte nicht länger nach.

Sie schrie auf, als die Magie durch sie hindurchfuhr und sich um das brüchige, flackernde Holz legte. Wie eine Salbe drang sie in die Risse ein, beruhigte den Brand und fungierte als unzerstörbare Stütze.

Alles verlief nach Plan.

Die Seeschlangen wurden in Schach gehalten, schlugen zwar mit ihren massigen Schwänzen aus, trafen das Schiff aber nie richtig, da stets jemand da war, um sie mit Messern, Schwertern und Pfeilen zu stören.

Morgan hielt den Mast; Rhea stützte die Moral der Männer.

Dann traf die Harpune am Bug eine der Schlangen und Jubel wurde laut. Ganz kurz versagte ihnen allen die Konzentration. Ganz kurz kosteten sie den Triumph, der der ihre war.

Sie nahmen etwas, was noch nicht ihnen gehörte, und mussten dafür mit ihrem Leben zahlen.

Holz splitterte, das Schiff wankte und zwei Männer rutschten und rutschten über die Planken, ehe sie von der Reling empfangen und schließlich über sie hinweg katapultiert wurden. Die dritte Schlange, diejenige, die nicht zu den Harpunen gedrängt wurde, erwartete die Seefahrer mit offenem Maul und verschlang den ersten, noch bevor er das Wasser berührte. Morgan konnte sehen, wie das Monster den breiten Kopf herabsenkte und nach dem zweiten Mann suchte.

Die anderen Seeschlangen kreischten auf, als würden sie ihrem Gefährten die Nahrung neiden, und ihre Angriffe bekamen eine bösartigere Note. In rapider Geschwindigkeit hackten sie mit ihren Zähnen auf das Schiff ein und schlugen mit ihren mit Dornen besetzten Schwänzen weitere Löcher in ihre Flanken, die Rhea kaum alle gleichzeitig mit ihrer Magie zu stopfen vermochte.

Jeriah verlor kurzzeitig das Gleichgewicht und musste von Erik festgehalten werden, bevor er über die glitschigen Planken schlitterte. Er bewegte seine freie Hand und webte einen Zauber, um sich und Erik an der Harpune zu sichern. Dabei verloren sie die Seeschlange aus den Augen und Magus’ Aufschrei war das Einzige, was ihnen in letzter Sekunde das Leben rettete. Sie sprangen auseinander und entwischten gerade so den scharfen Zähnen der Schlange, die frustriert die Eisenwaffe vom Bug riss. Ein riesiges Loch klaffte dort, wo die Reling gewesen war, und ein gewaltiger Schwall Wasser schwappte aufs Deck.

Morgan musste etwas tun oder sie besaßen in wenigen Minuten kein Schiff mehr, mit dem sie Damari erreichen könnten.

Sie legte sich einen weiteren Knochen auf ihre Zunge, dann zog sie ihr Kurzschwert und kletterte auf die Reling, hielt sich mit der freien Hand an der Takelage fest. Die Knochenhexe flimmerte unter Morgans Haut und tat sich an dem Knochen gütlich, ehe sie Morgans Drängen nachgab und ein Leuchten so hell wie ein Blitz entließ. Es umhüllte Morgan und lockte die Seemonster auf die Luvseite des Schiffes. Der Wind lockerte ihren Zopf und peitschte ihr das nasse Haar ins Gesicht.

»Hier bin ich!«, brüllte sie dem Sturm entgegen und ignorierte damit die Rufe ihrer Kameraden, die sich ihr von hinten näherten.

Die verletzte Schlange hörte sie als Erstes und tauchte in die Wellen, ehe sie nur einen halben Meter vor ihr durch die Oberfläche brach und sie mit einer fließenden Bewegung attackierte. Ihr Kopf schoss vor wie ein aufgespannter Pfeil und krachte mit voller Wucht gegen den Wall aus Knochenmagie, den Morgan gerufen hatte.

Obwohl sie vor dem zweifellos tödlichen Angriff geschützt worden war, wankte sie ob des Aufpralls gefährlich auf der Reling. Sie sah sich schon ins Meer fallen, als eine unsichtbare Wand vor ihr sie zurück in die Senkrechte brachte. Aus dem Augenwinkel sah sie Rhea, die ihre Hände hektisch bewegte.

Morgan atmete tief durch.

Sie wusste, was nun kommen würde und dafür müsste sie den Schutzschild fallen lassen.

Die Seeschlange stürzte ein weiteres Mal auf sie nieder und als sie Morgan nicht erreichen konnte, senkte sie stattdessen ihre Zähne in das Holz unmittelbar neben ihr, löste damit den Stag, der den Mast, den sie gerade so mit ihrer Magie aufrechterhalten hatte, gefährlich ins Wanken brachte. Holz splitterte, und Morgan rutschte auf der Reling ab, bis sie gegen Rheas Wand schlug und sich dabei die Stirn aufschlug. Den Griff ihres Schwertes hielt sie weiterhin so fest, als würde ihr Leben davon abhängen und dann, als die Schlange drei Meter über ihr aufragte, mit dem Kopf wankte und das Maul öffnete, machte sich Morgan bereit. Ihr Herz klopfte lautstark und das Blut rauschte in ihren Ohren, während sie versuchte, nicht an all die Gründe zu denken, warum dieses Unterfangen schiefgehen würde.

Sie löste ihren Schild und spürte, wie Rhea sie nachahmte. Und dieses blinde Vertrauen in ihre Fähigkeiten und ihr Vorhaben gab ihr den letzten Anstoß, ihren Plan umzusetzen.

Sie sah das glänzende Rot der Schuppen, das sich mit dem Gelb der Zähne mischte, und dann wurde sie von stinkender Dunkelheit umfangen; doch bevor sich das Maul gänzlich um sie schließen konnte, stieß sie die Klinge in den Rachen der Schlange. Heißes Blut rann ihren Arm hinab und sie verlor den Halt nun vollkommen. Das Monstrum stürzte brüllend in die Tiefe und riss Morgan mit sich, obwohl es sein Maul nicht schloss. Morgan hielt sich mit aller Macht an dem Schwert fest, das vom Rachen zum Gaumen rutschte und der Schlange damit den Todesstoß versetzte.

Hart kamen sie beide auf dem Wasser auf und Morgan wurde aus ihrem Maul geschwemmt.

Dieses Mal verlor sie den Griff um das Schwert, konnte nicht einmal die Knochenhexe rufen, so schnell spielte sich das Geschehen ab. Angst versuchte sie zu lähmen, aber auf ihre Instinkte war Verlass.

Sie bewegte sich, schwamm und versuchte, sich an die Oberfläche zu begeben, als sie einen grausamen Schmerz an ihrem linken Bein verspürte. Die Luft wurde knapp und ihre Lunge brannte. Panisch blickte sie über ihre Schulter.

Das Seemonster hatte einen letzten Angriff gewagt und seine oberen Zähne in ihren Unterschenkel gegraben. Glücklicherweise verhinderte das Schwert das letzte Zuschnappen, sonst hätte sich Morgan sicherlich von ihrem Fuß verabschieden können. So wurde sie lediglich tiefer und tiefer gezogen.

Dann erinnerte sie sich an ihre Magie und das Gackern der Knochen­hexe war wie ein Anker, an dem sie sich festhalten konnte, ohne den Verstand zu verlieren. Eine Ironie des Schicksals, wenn es denn jemals eine gegeben hatte, da sie mit jedem weiteren Mal, mit dem sie die Magie nutzte, sich dem Wahnsinn annäherte. Diesem würde sie allerdings am heutigen Tag nicht nachgeben.

Mithilfe der Magie konnte sie das Maul der Schlange öffnen. Die Kieferknochen sprengten auseinander und das Blut des Monsters vermischte sich mit ihrem eigenen. Sie keuchte und verschluckte Wasser. Viel Wasser. Sie würgte und machte damit alles noch schlimmer. Überall war Wasser. Um sie herum und in ihr. Wie sollte sie seinem Griff jemals entkommen? Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Plötzlich saß ihr der Tod im Nacken. Sie konnte beinahe den Schleier sehen, durch den sie gehen musste, um auf die andere Seite zu gelangen, wenn sie nicht als Geist orientierungslos umherwandern wollte.

Schwärze fraß sich an den Rändern ihres Sichtfeldes satt und schon bald konnte sie nicht mehr bestimmen, wo oben und unten war. Ihr Körper zuckte unkontrolliert und die Knochenhexe tat nichts weiter, als den Tod zu begrüßen, als wäre er ein alter Freund …

Sie dachte an Erik und daran, wie er sich auf ihren Tod folgend Selbstvorwürfe machen würde. Aber er würde weitermachen. Würde für Jeriah und eine bessere Zukunft kämpfen, dessen war sie sicher, und es war das Einzige, was es ihr in dieser Sekunde einfacher machte, ihren Tod zu akzeptieren.

Ein letzter Schmerz, dann ergriff sie die Taubheit; wie eine Decke wickelte sie sich um sie und hüllte sie samt Finsternis ein.

Morgan starb.


Plötzlich füllte Luft ihre Lunge und sie hustete und prustete, drehte sich vom Bauch auf den Rücken und blinzelte gegen die unangenehme Helligkeit.

Für mehrere Momente konnte sie nichts anderes tun, als auf das grüne Blätterdach zu schauen, das sich über ihr ausbreitete. Die Sonne schimmerte dahinter und Schatten warfen sich auf Morgan, die mitten im Gras lag. Irgendwo plätscherte ein Bach oder ein Brunnen, mischte sich mit dem Vogelzwitschern und dem Rascheln des Waldes.

Stirnrunzelnd berührte sie ihre Wangen, hielt ihre Hände vor ihr Gesicht und sah, dass sie weder nass noch verletzt war. Aber das konnte nicht sein, oder? Selbst wenn sie irgendwo angespült worden war, müsste sie Zeichen des Kampfes aufweisen.

Verwirrt drehte sie sich zurück und erhob sich, die Hände ins warme Gras geschoben. Dann erst fiel ihr auf, dass sie nicht mehr ihre Tunika trug, sondern ein luftiges weißes Kleid. Sie betastete den weichen Stoff, während sie sich umsah.

Sie befand sich auf einer Lichtung inmitten eines Waldes. Vor ihr erstreckte sich ein leicht verwitterter Säulengang, der in einem großen steinernen Becken mündete, in das durch eine weibliche Statue Wasser sprudelte. Abgesehen davon gab es nichts, was auf jemanden hingewiesen hätte, der hier in der Nähe wohnte.

Sie schritt barfuß durch den Gang und suchte derweil nach der Präsenz der Knochenhexe, doch zum ersten Mal seit … einer gefühlten Ewigkeit konnte sie sie nicht spüren.

Morgan war allein.

Als sie das Becken erreichte, führte sie ihre Hand zu dem glitzernden Wasserfall, der sich aus den Falten des Kleides der Statue ergoss.

»Hallo, Morgan.« Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und blickte sich zu der Stimme um. Eine hochgewachsene, schlanke Gestalt schälte sich aus den Schatten der Bäume und betrat den Säulen­gang. »Schön, dich zu sehen.«

Die versunkene Hexe: Von Göttern und Hexen

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