Читать книгу Nice Girls - Louise Boije af Gennäs - Страница 39

1.

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Gunvor saß im Büro zwischen Bergen von Papier. Im Hintergrund spielte ihr kleines Transistorradio.

Im Moment lief Radio Stockholms ›Schmusestunde‹ mit Agneta Askelöf, eines von Gunvors absoluten Lieblingsprogrammen mit seinen sentimentalen Lebensgeschichten, dazwischen romantische Lieder und fröhliche Popmusik. Wie immer fühlte Gunvor, daß gerade diese Art Popmusik, die alten Schlager und Lieder, sie in Stimmungen und Gefühlslagen versetzten, die ihr sonst fremd waren. Erinnerungen brachen auf, Gefühle tobten in ihrem Inneren, und Farben, Formen und Geräusche schienen sonderbar verstärkt. Vielleicht waren es ja nur banale Kompositionen, war es nicht gerade große Kunst, mit der man etwas hermachen konnte, doch für Gunvor war es dennoch ein Kulturerbe, das ihr gehörte und ihr unglaubliches Vergnügen bereitete. Es war die Musikkultur, die ihre eigene Generation geschaffen hatte und die ihr Eigentum war.

Außerdem hatte das Programm noch in anderer Hinsicht einen Vorteil. Fast drei Stunden lang konnte es dich unentwegt von der Arbeit ablenken.

Im Büro roch es eigenartig, ein Geruch von Teppichreinigung und Schulbüchern in merkwürdiger Kombination. Deshalb hatte sie hinter dem Ständer mit den vielen Silberkulis eine kleine Flasche Parfüm stehen, und ein wenig davon sprühte sie sich auf die Handgelenke, wenn sie meinte, der Arbeitsgeruch werde zu stark. Vor ihr stand außerdem eine kleine Vase mit getrockneten Blumen.

Eigentlich ging Gunvor gern arbeiten. Nur die Leute und die Arbeitsaufgaben machten ihr zu schaffen.

Glücklicherweise hatte Gunvor ein eigenes Zimmer. Das hatten zwar fast alle in ihrem Büro, aber trotzdem. Wenn sie vom Stuhl aufstand und sich über die Telefonbücher auf dem Fensterbrett beugte, konnte sie direkt auf die Kungsgatan hinabsehen, wo die Autos in einem sonnenbeschienenen Streifen entlangfuhren und die Menschen in alle Richtungen eilten. Hier mußten sie am Tag des Friedens alle mit klopfendem Herzen gestanden haben, die gerade aus dem Fenster gekippten Papierkörbe in den Händen, und ihren Jubel herausgeschrien haben. Komisch, sich so für einen Krieg zu engagieren, an dem man nicht teilgenommen hatte. Vielleicht gerade deshalb; es ließ sich natürlich leichter jubeln, wenn Vater, Bruder oder Freund mit dem Abendzug nach Hause unterwegs waren, alle noch in einem Stück und mit beweglichen Armen und Beinen.

»Gehst du mit essen?«

Lotta stand in der Tür. Sie war eine typische Stockholmerin, genau von der Art, mit der Gunvor am schlechtesten zurechtkam.

Lotta hatte glattes, glänzendes Haar, das sie im Nacken mit einer Perlenspange zum kleinen, scheinbar lässigen, aber dennoch eleganten Pferdeschwanz zusammengenommen hatte. Sie trug stets frischgebügelte Blusen, im Sommerhalbjahr gern mit sportlich hochgekrempelten Ärmeln. Sie wurde rasch braun, was ihre hellblauen Augen zum Leuchten brachte. Lotta verbrachte den Urlaub auf dem Segelboot, ihr Freund pflegte bei der Regatta ›Rund um Gotland‹ mitzumachen, und sie hatten Bekannte mit flotten Sommerhäusern überall in den Schären. War doch wohl selbstverständlich; hatten das nicht alle?

Neben Lotta kam Gunvor sich immer zerknittert, altmodisch und absolut zu fett vor. In Lottas Augen gab es gewissermaßen keine Entschuldigung für Fettleibigkeit und Knitterfalten. Man brauchte sich doch wohl nur zusammenzureißen? Lotta hatte immer neue Sachen an, und ihre Einstellung zu sämtlichen Dingen war kühl. Träume, Gedanken, Überlegungen, Komplexe, Ängste, Phobien, all das gab es nicht in Lottas Welt. Gunvor wußte es, fühlte es instinktiv.

Einmal hatte sie Lotta auch zu Hause besucht, in der perfekten Dreizimmerwohnung oben in der Grevgatan, die sie mit dem Makler Niklas teilte. Selbst das ungemachte Bett sah einfach nur schön aus, als sei es ungemacht liegengeblieben, nachdem zwei ungewöhnlich perfekte Menschen ihr Bedürfnis nach einer kurzen gemeinsamen Ruhepause im Anschluß an einen innovativen und vollständig zufriedenstellenden Beischlaf gestillt hatten. Lotta und Niklas hatten sogar angefangen, Kunst zu sammeln, kleine Statuen und Gemälde, auf die Lotta nebenbei hinwies. Gunvor war sprachlos. In ihrer Welt erbte man Kunst. Mit dem Sammeln begann man demnach möglicherweise irgendwann um die Fünfzig. Im Vergleich zu Lotta und Niklas fühlte sich Gunvor stets als hoffnungsloses und unabänderlich zurückgebliebenes Landei.

Sie schaute Lotta ein paar Sekunden an. Wollte sie mitgehen oder nicht? Hinter Lotta war Eva aufgetaucht, groß und sommersprossig und genauso ›richtig‹ wie Lotta.

Warum fragten sie ausgerechnet sie?

Es war absolut nicht das erstemal, trotzdem bekam Gunvor Herzklopfen und spürte, daß ihr der Appetit verging. Auch gut, dann aß sie vielleicht weniger zu Mittag. Die Figur, man mußte immer dran denken. Vielleicht wurde man lottaähnlicher, wenn man mit ihr essen ging und dasselbe bestellte wie sie?

Gunvor errötete über ihre eigenen Gedanken. Wie konnte sie nur so hoffnungslos kindisch sein? Im Hintergrund trat Eva von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte das Warten satt.

»Ich glaube, ich kann nicht«, sagte Gunvor und wies mit dem Kopf auf den Rechner. »Muß bis fünf eine unheimlich schwierige Sache fertig haben.«

»Bis fünf?« fragte Lotta. »Aber dann hast du doch noch den ganzen Tag Zeit! Komm jetzt, du mußt was essen.«

Gunvor starrte auf den Bildschirm. Die Zahlen verschwammen zu einem grünschimmernden Wabern. Was sollten ihr Analysen bringen? Sie verstand ja nicht einmal ihre eigenen Gefühle. Wie sollte sie sich dann auf die Bonität einer fremden Firma verstehen?

»Wir wollen runter ins ›Fujiyama‹«, sagte Lotta. »Du magst doch bestimmt Sushi, na, komm schon.«

Eva war losgegangen. Lotta sah Gunvor an, zuckte mit den Schultern und zog die Augenbrauen hoch. Dann verschwand auch sie durch die Türöffnung. Gunvor starrte ihr hinterher. Plötzlich hatte sie es eilig.

»Wartet!« schrie sie, fuhr vom Stuhl hoch und wühlte rasch ihr Portemonnaie aus der Tasche. Sie stürzte aus dem Zimmer, Lotta und Eva hinterher, die wartend dastanden und sie kühl beobachteten.

Sie selbst war schon ganz außer Atem. Weshalb konnte sie nicht wie andere Frauen sein? Weshalb konnte sie nicht erwachsen werden, ganz kühl bleiben und mit einem Typen aus Östermalm zusammenleben, der Freunde in Galerien und auf den Schären hatte?

Lotta und Eva drehten sich um und gingen vor ihr den kühlen, dunklen Korridor zur Rezeption hinunter, und Gunvor fühlte, wie sie ins Wanken geriet und sich leicht an der Wand abstützen mußte, um die Balance und den Atem wiederzufinden.

Nice Girls

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