Читать книгу Religionsgeschichte Anatoliens - Manfred Hutter - Страница 12
1 Bestattung und Gesellschaft in Alaca Höyük
ОглавлениеDer Ort Alaca Höyük liegt etwa 160 Kilometer östlich von Ankara, wobei der Höyük einen Durchmesser von 250 Metern und eine Höhe von 15 Metern hat. Seit Beginn der Ausgrabungen im Jahr 1935, die bis zur Gegenwart andauern, konnten vier Kulturperioden mit insgesamt 14 archäologisch zu unterscheidenden Schichten1 identifiziert werden. Die dritte Periode gehört der Frühbronzezeit an und umfasst die archäologischen Schichten 5–8. Aus dieser Zeit stammen die vierzehn innerhalb der Stadtmauern liegenden, reich ausgestatteten Gräber, die meist ins 23. Jahrhundert datiert werden, aufgrund neuerer naturwissenschaftlicher Untersuchungen organischer Funde in den Gräbern wahrscheinlich aber bereits aus der Zeit knapp vor der Mitte des 3. Jahrtausends stammen.2 Die Größe der Gräber3 variiert, wobei Grab H mit 8,9 Metern mal 3,4 Metern die größten Ausmaße hat; die Tiefe der Gräber liegt zwischen 0,5 und 1 Meter. In den meisten Gräbern wurden die Toten in Hockerstellung als Einzelgrablege bestattet, wobei der Kopf nach Westen und das Gesicht nach Süden ausgerichtet war; in Grab D war eine Frau bestattet. Mit den Toten waren Prestige-, Kult- und Gebrauchsgegenstände aus Metall (Zinnbronze, Silber, Gold, Elektron) deponiert; bei letzteren handelt es sich unter anderem um Äxte, Bohrer, Dolche, Schwerter oder Nadeln sowie um Gefäße, wobei diese Beigaben Gebrauchsspuren zeigen und wohl dem oder der Bestatteten persönlich gehört haben. Die Gräber waren durch Holzbalken abgedeckt. Auf diesen Holzbalken lagen Rinderschädel und Rinderhufe, was auf die Durchführung von Totenopfern und -ritualen hinweist.4 Wahrscheinlich wurden die Rinder bei einem Mahl im Rahmen des Bestattungsrituals verspeist. Neben den Rinderköpfen wurden in den Gräbern auch Knochen von anderen Tieren gefunden – Ziegen, Schafe, Hunde, Schweine und Esel. Die Auffindungssituation in Grab R lässt darauf schließen, dass dort Ziegen und ein Schaf als Opfer(rückstand) deponiert wurden, während bei anderen Tieren teilweise die Möglichkeit besteht, dass auch sie im Zusammenhang mit den Begräbnissen (rituell) verzehrt wurden.
Die vielfältigen und hochwertigen Grabbeigaben haben Ünsal und Gönül Yalçın unlängst erneut einer Interpretation unterzogen, wobei die Qualität der Beigaben auf das Prestige und den sozialen Status der Toten verweist. Neben anscheinend hochqualifizierten Handwerkern sind aufgrund der Grabbeigaben andere Bestattete dem herrschaftlichen bzw. religiösen Feld zuzuordnen, wobei eine klare Trennung zwischen einzelnen sozialen Rollen eher unwahrscheinlich ist. Neben den schon erwähnten Gebrauchsgegenständen kann man einen Teil der Beigaben als Herrschaftssymbole5 bezeichnen. Dazu gehören Schmuckstücke, Diademe, Gefäße aus Edelmetall und Prunk- oder Zeremonialwaffen (Keulenköpfe, Eisendolche). Diese Waffen waren nicht für den Gebrauch bestimmt, sondern ihre aufwändige Gestaltung bzw. das teilweise weiche Metall lässt einen symbolischen Charakter vermuten.
Zu den Objekten, die mit religiösen Kontexten zu verbinden sind, gehören kunstvoll gestaltete Standarten,6 die entweder auf oder in einen anderen Gegenstand gesteckt werden konnten oder die auf Holzstangen montiert waren, um sie z. B. bei Prozessionen mitzutragen. Insgesamt 39 Sonnenstandarten aus Bronze oder Silber sind in den Gräbern gefunden worden, sowie tierförmige Aufsätze, die einen Stier oder einen Hirsch bzw. eine Tiergruppe zeigen; die Tierstandarten sind aus Bronze, mit Metalleinlagen aus Silber oder Elektron. Da diese Standarten Gebrauchsspuren aufweisen, ist anzunehmen, dass es sich bei diesen Beigaben um Kultgegenstände handelt, die als Besitz des Bestatteten auch Rückschlüsse auf seine kultischen Aktivitäten erlauben. Auch wenn die Grabfunde in Alaca Höyük am bedeutsamsten sind, ist erwähnenswert, dass vergleichbare Standarten an anderen Orten Zentralanatoliens jener Zeit, z. B. in Horoztepe7 oder Mahmatlar, gefunden wurden, was die Vermutung von gemeinsamen Vorstellungen in diesem Raum zulässt. Neben diesen Standarten stammen auch sechs anthropomorphe Figurinen aus Edelmetall (und stilistisch vergleichbare Tonfigurinen) aus den Gräbern, die ebenfalls kunstvoll gestaltet sind.8 Manche von ihnen zeigen eine detaillierte Gestaltung des Gesichts und des Kopfes, so dass eine Interpretation als Darstellung einer individuellen Göttin denkbar ist. Bei anderen Figurinen, bei denen die Brüste, die Hüften bzw. die Scham besonders hervorgehoben sind, lässt sich eher an Figurinen denken, die allgemein den Wunsch nach Fruchtbarkeit ausdrücken sollen. Dass auch solche Frauenstatuetten nicht auf Alaca Höyük beschränkt sind, zeigt z. B. die jüngere Figur einer stehenden Frau, die ein Kind stillt, aus einem Grab in Horoztepe, oder die Figur einer sehr schlanken Frau mit detailliert gestaltetem Schambereich aus Hasanoğlan.
Was kann man aus solchen (Be-)Funden eventuell hinsichtlich religiöser Vorstellungen ablesen?9 Dass es sich bei den Gräbern, die sich über einen Zeitraum von rund zwei Jahrhunderten erstrecken, um Zeugnisse für Bestattungen der Oberschicht handelt, ist unbestritten. Möglich, aber unbeweisbar ist die Annahme von Tahsin Özgüç, der damit rechnet, dass die hier bestatteten Prinzen bzw. Prinzessinnen gleichzeitig auch priesterliche Aufgaben ausübten. Weil manche Grabbeigaben Gegenstände mit religiöser Verwendung bzw. Symbolik sind, vertritt z. B. Volkert Haas die Meinung, dass man die hier Bestatteten als »Träger höchster priesterlicher Funktionen« oder vielleicht sogar als Priesterkönige bzw. -königinnen verstehen darf. Einen Schritt weiter geht Maciej Popko, der die gesicherte Kontinuität der Siedlung von Alaca Höyük bis in die hethitische Großreichszeit in die Überlegungen mit einfließen lässt. Da Popko die seit der althethitischen Zeit wichtige Kultstadt Zippalanda in Alaca Höyük lokalisiert,10 erwägt er, dass dieser Ort schon in der Bronzezeit ein bedeutsames Kultzentrum mit hattischen religiösen Vorstellungen gewesen sein könnte. Auch wenn die Identifizierung mit Zippalanda eher unwahrscheinlich ist, ist seine vorsichtige Erwägung, dass man auch die Gräber bereits der (frühen) hattischen religiösen Tradition zuweisen könnte und die Bestatteten möglicherweise hochrangige Kultspezialisten – und nicht »weltliche« Machthaber oder Eliten – waren, möglich. Dafür kann dabei auch sprechen, dass abgesehen von Grab F in allen Gräbern Beigaben gefunden wurden, die man mit religiöser Symbolik verbinden kann.11 Im Detail lässt sich keine der Interpretationen beweisen, doch dürfte außer Zweifel stehen, dass die reichhaltige Ausstattung der Gräber auf die Bestattung höherstehender Personen hinweist.
Die Lebensgrundlage der Gesellschaft in Alaca Höyük beruhte auf Landwirtschaft und Viehzucht,12 wobei man Alaca Höyük (und andere Fundorte) häufig als dem kulturellen Gebiet der Hattier zugehörig betrachtet. Diese Annahme stützt sich auf ethnische, kulturelle und geographisch-»politische« Bedingungen, die uns aufgrund schriftlicher Zeugnisse ab den altassyrischen Urkunden des 20. bis 18. Jahrhunderts und der späteren hethitischen Texte relativ gut rekonstruierbar sind. Da sich in Zentralanatolien vom 3. zum 2. Jahrtausend archäologisch kein kultureller Bruch nachweisen lässt,13 bleibt eine hattische Kontinuität von der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausends in die erste Hälfte des 2. Jahrtausends durchaus plausibel.
Hinsichtlich der Funktionen der Standarten gehen die meisten Forscher davon aus, dass es sich um Götter(symbole) handelt, wobei diese Deutung wiederum auf einem Vergleich bzw. einer Homologie14 beruht. Denn im KI.LAM-Fest, das zu den Festen der hattischen Religion gehört und als solches zu Beginn des Hethiterreiches rezipiert und weiter gefeiert wurde, gibt es Beschreibungen15 von Prozessionen mit Göttertieren. Diese waren aus wertvollem Metall verfertigt und wurden wohl als Standarten bei den Prozessionen mitgetragen, so dass ein Vergleich mit den Standartenaufsätzen mit Tierfiguren aus den Gräbern möglich ist. Dementsprechend versucht man – als Deutung des Beigabenbefundes der Gräber – die Standarten einzelnen Götter(type)n zuzuschreiben:16 Hinsichtlich der Interpretation kann man jene Standartenaufsätze, die (halb)kreisförmige Scheiben darstellen, als Sonnensymbole deuten und damit eine Verbindung zu der hattischen Sonnengottheit oder eventuell auch zur so genannten »Sonnengöttin von Arinna« herstellen, die in hethitischen Texten genannt werden. Genauso kann man die Stierfiguren als symbolische Repräsentanz des Wettergottes und die Hirschfiguren als Darstellungsform einer Schutzgottheit deuten. Während solche Interpretationen durchaus plausibel sind, bleiben andere Darstellungen schwieriger zu interpretieren. So lässt sich die Tiergruppe, bei der ein Hirsch im Zentrum und zwei ihn flankierende Feliden (Löwe, Leopard) innerhalb eines strahlengeschmückten Bogens stehen, in ihrer Zusammengehörigkeit nicht mit aus späteren Texten bekannten Götterzusammenstellungen verbinden. Neben den Standarten, die bei der Begräbnisprozession verwendet wurden, dürften auch die Sistren und Zimbeln bei den Prozessionen als Klang- und Schallinstrumente verwendet worden sein. Man kann ferner vermuten, dass diese Begräbnisse auch mit einem Festmahl der geschlachteten Tiere verbunden waren.
Hält man sich (trotz der Unsicherheit der Einzelinterpretation) die Qualität der Gegenstände sowie die auf den Grababdeckungen gefundenen Rinderknochen vor Augen, so dürfte es aber außer Zweifel stehen, dass diese Gräber als Zeugnisse eines Totenkults gelten müssen und damit zumindest insofern Einblick in religiöse Vorstellungen geben, als sich – sollte die Zuordnung der Tierfiguren zu Götter(type)n zutreffen – eine Beziehung zwischen den Bestatteten und ihren Göttern noch im Tod erschließen lässt. Die reichhaltigen Grabbeigaben, aber auch die Markierung der Gräber, die von anderen Fundorten der frühen Bronzezeit in Anatolien bekannt sind – wie etwa die über den Gräbern angelegten Steinkreise mit Durchmessern zwischen 1 und 6 Metern in Karataş im zentralanatolischen Hochland –, weisen auf die Kommunikation und zumindest zeitweilig weiter existierenden Kontakte zwischen den Lebenden und den Toten hin.17 Eine weitergehende Rekonstruktion der Religion für diesen Zeitraum ist nicht möglich, wobei man nie außer Acht lassen darf, dass auch die Interpretation dieser bronzezeitlichen Funde methodisch auf Homologien beruht, verbunden mit der Annahme, dass dieser zentralanatolische Raum bereits seit der Mitte des 3. Jahrtausends hattisch war. Damit rekonstruieren wir aber zugleich »Wurzeln«, aus denen sich religiöse Vorstellungen des 2. Jahrtausends entfaltet haben, z. T. unter Heranziehung von Quellen für diese Vorstellungen, um deren »Vorgeschichte«18 zu rekonstruieren – scharf an der Grenze eines Zirkelschlusses.