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4. Das Änderungsgesetz vom 28. Juni 1935
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Den Abschluss der ersten Phase der strafverfahrensrechtlichen Entwicklung bildete das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935.[145] Das Gesetz stand unter dem Leitmotiv „Überordnung der materiellen Gerechtigkeit über die formale Gerechtigkeit und zu diesem Zweck Auflockerung der Strafrechtspflege und freiere Stellung des Richters und des Staatsanwaltes“.[146] Es führte einige der verstreuten Änderungen der Jahre 1933/34 zusammen und schwächte durchweg die Position des Beschuldigten. Nach der amtlichen Begründung betrafen die Änderungen besonders dringliche Fragen, die unabhängig von der geplanten Gesamtreform des Strafverfahrens einer „Vorwegregelung“ bedurften.[147]
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Die Aufhebung des Verbots strafbegründender Analogie durch die Neufassung des § 2 RStGB wurde durch §§ 170a, 267a RStPO in die Praxis umgesetzt, wonach Staatsanwaltschaft und Gericht bei Strafbarkeitslücken prüfen mussten, ob durch die Anwendung des § 2 RStGB „der Gerechtigkeit zum Siege verholfen werden kann“. Um eine einheitliche Rechtsanwendung zu sichern und einen Missbrauch der analogen Strafbegründung zu verhindern, wurde durch einen Antrag der Staatsanwaltschaft das Reichsgericht statt des Oberlandesgerichts für eine Revisionsentscheidung zuständig, wenn im angefochtenen Urteil eine entsprechende Anwendung des Strafgesetzes im Raum stand (§ 347a RStPO).[148] § 267b RStPO diente zur strafprozessualen Umsetzung der materiellen Neuregelung der Wahlfeststellung in § 2b RStGB. Um einen übertriebenen Gebrauch der Wahlfeststellung zu Lasten einer sorgfältigen Ermittlung der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen und eine missbräuchliche Anwendung der Wahlfeststellung auszuschließen, mussten nach § 267b Abs. 2 RStPO die alternativ verwirklichten Tatbestände und die diese Tatbestände ausfüllenden Tatsachen benannt werden.[149]
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Das Beweisantragsrecht wurde wesentlich umgestaltet. Unbedenklich war die Kodifizierung der bisherigen Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Ablehnung von Beweisanträgen in § 245 Abs. 2 RStPO.[150] Allerdings wurde das autonome Beweisvorführungsrecht des Beschuldigten durchgängig abgeschafft, so dass in allen Verfahren präsente Beweismittel nicht mehr zugelassen werden mussten. Jedenfalls formell wurde die Pflicht zur Wahrheitsermittlung durch das Gericht nicht in Frage gestellt und der Beschuldigte hatte weiterhin das Recht, Beweisanträge zu stellen, die nur mittels eines für das Revisionsgericht nachvollziehbar begründeten Beschlusses abgelehnt werden konnten.[151] Jedoch konnte in Verhandlungen vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht in der Berufungsinstanz das Gericht einen Beweisantrag ablehnen, „wenn es nach seinem freien Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich hält.“ Hintergrund war – ähnlich wie beim Erlass der EmmingerVO – die Vorstellung, dass im Verfahren mit zwei Tatsacheninstanzen dem Gericht eine freiere Handhabung der Beweisantragsablehnung eingeräumt werden könne, da die Wahrscheinlichkeit einer sachlich unbegründeten Ablehnung eines Beweisantrags in beiden Instanzen gering sei (vgl. Rn. 15).[152] Neu war weiterhin, dass der Vorsitzende einem Beweisantrag ohne Entscheidung des Gerichts stattgeben konnte, was der Umsetzung des Führerprinzips bei den Kollegialgerichten dienen sollte.[153]
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Das Verbot der reformatio in peius wurde als eine Bindung des Richters zum Schutz des Angeklagten verstanden, die gegen das Gebot der materiellen Gerechtigkeit streitet, und daher beseitigt. Zudem konnte nun auch gegen Geflüchtete[154] die Hauptverhandlung durchgeführt werden, „wenn das Rechtsempfinden des Volkes die alsbaldige Verurteilung verlangt“ (§ 276 Abs. 1 RStPO), wobei Sonderregelungen für Abwesende, die sich der Wehrpflicht entzogen hatten, galten (siehe §§ 434 ff. RStPO).[155]
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Da nach der nationalsozialistischen Auffassung das Strafrecht und damit auch das Strafverfahrensrecht nicht nur vergelten, sondern auch die Volksgemeinschaft vor weiteren Angriffen schützen sollten,[156] wurden die Haftgründe ausgeweitet. Nunmehr genügte auch die Gefahr, dass der Beschuldigte „die Freiheit zu neuen strafbaren Handlungen mißbrauchen werde oder wenn es mit Rücksicht auf die Schwere der Tat und die durch sie hervorgerufene Erregung in der Öffentlichkeit nicht erträglich wäre, den Angeschuldigten in Freiheit zu lassen“. Die Entwertung der Rechtsposition des Beschuldigten zeigte sich weniger im Gesetzestext, als vielmehr in den halbamtlichen Erläuterungen zum Haftgrund der Erregung der Öffentlichkeit. Dort wurde unverblümt davon gesprochen, dass bei bestimmten schweren Taten der „Täter“ sofort in Haft genommen werden müsse, auch wenn keine Fluchtgefahr usw. bestand, und eine Parallele zur „Schutzhaft“ gezogen.[157]
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Die freiere Stellung der Staatsanwaltschaft und ihr Bedeutungszuwachs im Vorverfahren spiegelte sich in den Einschränkungen der Voruntersuchung wider, durch die „Doppelarbeit“ und eine Verschwendung der justiziellen Ressourcen vermieden werden sollten.[158] Bei einer erstinstanzlichen Zuständigkeit des Volksgerichtshofes, der Oberlandesgerichte oder der Schwurgerichte war eine Voruntersuchung nur durchzuführen, wenn die Staatsanwaltschaft dies nach pflichtgemäßem Ermessen für erforderlich hielt. Auch in den übrigen Strafsachen war die Voruntersuchung von einem Antrag der Staatsanwaltschaft abhängig, der nur gestellt werden sollte, wenn „außergewöhnliche Umstände die Führung der Voruntersuchung durch einen Richter gebieten“ (§ 178 Abs. 2 S. 2 RStPO). Zur Beschleunigung der Voruntersuchungen konnte auf „Hilfsuntersuchungsrichter“ zurückgegriffen werden. Das Legalitätsprinzip wurde weiter eingeschränkt durch die Möglichkeit, Strafverfahren gegen Opfer von Erpressungen, die vom Erpresser mit der Offenbarung der Begehung einer Straftat bedroht worden sind, einzustellen (§ 154b RStPO). Auch hier zeigte sich der Machtzuwachs der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren, indem die Verfahrenseinstellung keiner richterlichen Zustimmung bedurfte.[159] Weiterhin ging es um die „allerschärfste Bekämpfung“ von Erpressern, die als „besonders gemeiner Verbrechertyp“ galten und daher auch unter Mitwirkung des Opfers überführt werden sollten.[160]
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Zur Sicherung einer reichseinheitlichen Rechtsprechung trat an die Stelle der Vereinigten Strafsenate der Große Senat für Strafsachen beim Reichsgericht (§ 131a GVG a.F.). Neu war dabei vor allem, dass ein erkennender Senat eine Entscheidung des Großen Senats herbeiführen konnte, wenn dies nach seiner Auffassung die „Fortbildung des Rechts oder Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern“ (§ 137 GVG a.F.), wobei auch der Oberreichsanwalt in diesen Fällen die Sache vor den Großen Senat bringen konnte.[161] Hintergrund war, dass die Tätigkeit der Vereinigten Strafsenate sich als zu schwerfällig erwiesen hatte, so dass häufig von einer Klärung strittiger Rechtsfragen abgesehen worden war.[162]