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V. Die Rolle der Rechtsprechung, insbesondere des Reichsgerichts
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Eine eingehende Analyse der Rechtsprechung zum nationalsozialistischen Strafverfahrensrecht ist hier nicht zu leisten.[205] Dennoch ist ein Blick auf die Rechtsanwendungspraxis im Bereich des Strafverfahrensrechts unerlässlich, da der nationalsozialistische Gesetzgeber vielfach mit unbestimmten Rechtsbegriffen arbeitete, die dann von den Gerichten in Übereinstimmung mit den nationalsozialistischen Vorstellungen ausgelegt werden sollten.[206] So war nach Henkel die „Strafrechtserneuerung“ nicht nur Angelegenheit des nationalsozialistischen Gesetzgebers, sondern „Aufgabe jedes einzelnen Organes der Strafrechtspflege“.[207] Konkret bedeutete dies mit den Worten Mezgers, dass sich die Richter zukünftig nicht mehr auf den Wortlaut des Gesetzes berufen konnten, „um damit im Blick auf die gesunde Volksanschauung unvernünftige Ergebnisse zu rechtfertigen.“[208] Spannungen zwischen dem geschriebenen alten Verfahrensrecht und den „zum Durchbruch strebenden neuen Grundanschauungen“ müssten im Sinne der letztgenannten aufgelöst werden.[209] Gefordert war also eine ergebnisorientierte Auslegung nach den Zielen der nationalsozialistischen Bewegung, die sich vom geschriebenen Gesetz löste. Zur praktischen Umsetzung wurden auf Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933[210] zahlreiche nichtarische Richter und solche, „die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten“, in den Ruhestand versetzt oder entlassen.
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Für das Reichsgericht als oberste Rechtsmittelinstanz wurden die neuen Auslegungsgrundsätze in Art. 2 des Gesetzes vom 28. Juni 1935 kodifiziert. Das Reichsgericht musste nun darauf hinwirken, dass bei der Auslegung „dem durch die Staatserneuerung eingetretenen Wandel der Lebens- und Rechtsanschauung Rechnung getragen wird“.[211] Dazu konnte es auch von früheren Entscheidungen abweichen.
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Im Bereich des materiellen Strafrechts kam das Reichsgericht diesem Auftrag durchaus nach. Im Zusammenhang mit dem sog. Blutschutzgesetz liest man im Beschluss des Großen Senats für Strafsachen, die Rechtsprechung dürfe nicht am Wortlaut der Gesetze haften, sondern müsse in ihr „innerstes Wesen“ eindringen, um so die Ziele des Gesetzgebers zu verwirklichen.[212] Unter Rückgriff auf das gesunde Volksempfinden und die Einordnung des BlutSchG als „eines der Grundgesetze des nationalsozialistischen Staates“ entschied der Große Senat dann, dass auch die Begehung von Rassenschande im Ausland strafbar sein müsse, um „die Reinheit des deutschen Blutes als Voraussetzung für den Fortbestand des deutschen Volkes in alle Zukunft [zu] sichern“.[213] Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Strafverfahrensrecht war dagegen weit weniger im nationalsozialistischen Sinne geprägt.[214] Eine Entscheidung des 3. Strafsenats vom 29. Januar 1940 zu einer Beleidigung eines Juden gegenüber einer deutschen Frau kann dabei fast als Ausreißer bezeichnet werden. In diesem Fall stellte die Frau erst mehr als sechs Monate nach der Kundgabe der Beleidigung einen Strafantrag, so dass die dreimonatige Antragsfrist eigentlich klar verstrichen war. Allerdings meinte der 3. Strafsenat, der Täter habe nicht nur die weibliche Ehre der Betroffenen, sondern auch die Ehre der deutschen Frau insgesamt verletzt. Die Antragsfrist für diesen Angriff auf die „Rassenehre“ habe daher erst mit dem späteren Zeitpunkt begonnen, an dem die Betroffene erfahren hatte, dass der Täter Jude war.[215]
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Insbesondere ist zu betonen, dass das Reichsgericht – jedenfalls soweit es die veröffentlichten Entscheidungen betrifft – die schützenden Verfahrensrechte des Beschuldigten im Allgemeinen anerkannte und teilweise die Änderungen des Gesetzgebers durch eine zurückhaltende Auslegung entkräftete. Die zum Teil radikalen Ausführungen aus dem wissenschaftlichen Schrifttum oder gar die Ausmerzungsrhetorik im Stile Freislers finden sich nur ganz vereinzelt.[216] Mit Urteil vom 23. März 1934 unterstrich das Reichsgericht, der Beschuldigte „muss über alles umfassend gehört werden, was als die Sache berührend angesehen werden kann. Auf ihm lastet kein Zwang zur Wahrheit.“[217] Auch später verneinte das Reichsgericht – gegen anders lautende Stimmen aus Rechtsprechung und Literatur – eine Strafbarkeit wegen falscher Versicherung an Eides statt durch eine falsche eidliche Versicherung des Beschuldigten im Strafverfahren, denn die Stellung des Beschuldigten schließe es aus, ihn zu einer solchen Versicherung zuzulassen.[218]
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Das Reichsgericht setzte auch der Aufweichung des Beweisantragsrechts durch das freie Ermessen des Tatgerichts hinsichtlich des Umfangs der Beweisaufnahme (vgl. Rn. 51, 59) Grenzen. Es hielt daran fest, das Tatgericht müsse stets die „volle Überzeugung von Schuld oder Unschuld“ erlangen.[219] Auch bei der Ausübung des freien Ermessens könne das Gericht Beweisanträge nur durch begründeten Beschluss ablehnen, damit „der Beweisführer in der Lage ist, sein weiteres Verhalten danach einzurichten, und daß das Revisionsgericht nachprüfen kann, ob der Tatrichter von zutreffenden verfahrensrechtlichen Erwägungen ausgegangen ist.“[220] Das Reichsgericht betonte auch die Pflicht zur Ermittlung entlastender Tatsachen[221] und warnte vor einem Rückgriff auf die Wahlfeststellung, um Versäumnisse bei der Wahrheitsermittlung zu kompensieren.[222] Selbst beim Vorwurf einer Straftat nach dem BlutSchG wandte sich das Reichsgericht gegen eine Absenkung des Tatnachweises.[223] Das Reichsgericht beschränkte auch das Ermessen der Gerichte hinsichtlich des Absehens von der Vereidigung von Zeugen, da dieses Ermessen im Interesse der Wahrheitsermittlung restriktiv angewandt werden müsse. Zudem musste die Ermessensentscheidung nachvollziehbar in der Sitzungsniederschrift festgehalten werden, um „den Belangen des Angeklagten gerecht zu werden“.[224]
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Trotz der gesetzlichen Einschränkungen der notwendigen Verteidigung unterstrich das Reichsgericht, der Vorsitzende müsse in jeder Lage des Verfahrens nachvollziehbar prüfen, ob die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vorliegen.[225] Den Forderungen nach einer fast schon unbegrenzten Verfahrensbeschleunigung hielt das Reichsgericht entgegen, dem Verteidiger sei ausreichend Vorbereitungszeit einzuräumen, anderenfalls sei die Hauptverhandlung auszusetzen.[226] Beispielsweise hob das Reichsgericht 1943 ein Todesurteil wegen Mordes auf, da der Pflichtverteidiger nicht genügend Zeit gehabt hatte, sich in die Sach- und Rechtslage einzuarbeiten. Es verstieße gegen den „Willen des Gesetzgebers“ und diene nicht der Gerechtigkeit, wenn die Verteidigung reine Formsache werden würde.[227] In einem Urteil vom 15. Juli 1938 ging es um die Rüge der Verletzung des Akteneinsichtsrechts des Verteidigers nach § 147 RStPO durch das Vorenthalten von Steuerunterlagen, die die Finanzbehörde dem Gericht nur unter der Bedingung eines Weitergabeverbots an den Verteidiger zur Verfügung gestellt hatte. Zwar meinte das Reichsgericht, dass „nach heutigem Rechtsempfinden“ Behördenakten dem Verteidiger vorenthalten werden dürfen, wenn „gewichtige Belange der Allgemeinheit gefährdet“ werden würden. Es sei dann jedoch unzulässig, den in diesen Akten befindlichen Tatsachenstoff zu Lasten des Beschuldigten im Strafverfahren zu verwenden.[228] Auch in zahlreichen weiteren Entscheidungen zu strafverfahrensrechtlichen Einzelheiten lehnte das Reichsgericht den Gedanken einer „Auflockerung“ von Förmlichkeiten zum Schutz des Beschuldigten ab.[229] Manche Entscheidungen, wie z.B. zum Ausschluss des Angeklagten bei einer Gesundheitsgefährdung des Zeugen oder zur Zulässigkeit der Rügeverkümmerung durch eine nachträgliche Protokollberichtigung,[230] sind im Ergebnis auch unter heutigen Aspekten unbedenklich oder zumindest gut vertretbar, auch wenn die Begründung auf nationalsozialistische Topoi zurückgriff.
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Dieses Ergebnis zur strafverfahrensrechtlichen Rechtsprechung des Reichsgerichts sagt jedoch nichts aus über die Verfahrenspraxis der Tatgerichte, insbesondere die Verfahrensführung vor den Sondergerichten, auch wenn die Bewertung, die meisten Strafverfahren im Dritten Reich seien „willkürliche Schauprozesse“ gewesen,[231] überzogen ist.[232] Bei einer Betrachtung der strafverfahrensrechtlichen Auslegung des Reichsgerichts muss allerdings im Auge behalten werden, dass das Reichsgericht in der Strafjustizpraxis wegen der wachsenden Zuständigkeiten der Sondergerichte und des Volksgerichtshofes ohnehin stark an Bedeutung verloren hatte.