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I. Sonderstrafverfahren
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In den Anfangsjahren der Weimarer Republik wurde das „normale“ Strafverfahrensrecht durch eine Vielzahl von Sonderregelungen überlagert. Unter dem Eindruck massiver Angriffe gegen Mitglieder der Reichsregierung, die in der Ermordung des Außenministers Walther Rathenau durch rechtsextreme Terroristen gipfelten, wurde durch eine NotVO des Reichspräsidenten[4] und sodann durch das Gesetz zum Schutze der Republik vom 21. Juli 1922[5] beim Reichsgericht der Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik geschaffen, der – auch rückwirkend – die erstinstanzliche Zuständigkeit für bestimmte Straftaten übernahm, die sich gegen den Bestand der Republik oder deren Vertreter richteten. Gerade aufgrund dieser Zuständigkeitsregelung wurde heftig darum gestritten, ob der Staatsgerichtshof ein zulässiges Sondergericht oder ein nach Art. 105 S. 1 WRV unzulässiges Ausnahmegericht war.[6] Kern meinte, durch die rückwirkende Zuständigkeitszuweisung in § 13 Abs. 4 des Gesetzes zum Schutze der Republik werde zwar entgegen Art. 105 S. 2 WRV der gesetzliche Richter entzogen, dennoch sei die Vorschrift nicht verfassungswidrig, sondern eine rechtsgültige verfassungsändernde Norm, die die allgemeinere Regelung in Art. 105 S. 1 und 2 WRV durchbreche.[7]
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Ein ähnlicher Streit bestand im Zusammenhang mit den bereits im November 1919 bei jedem Landgericht geschaffenen Sondergerichten für Straftaten des Schleichhandels und der Preistreiberei.[8] Vor diesen sog. Wuchergerichten waren die Rechte des Beschuldigten deutlich eingeschränkt. Im Interesse eines zügigen Abschlusses des Verfahrens stand die Beweisaufnahme im freien Ermessen des Gerichts, waren Anklageschrift, Voruntersuchung sowie Eröffnungsbeschluss überflüssig und Rechtsmittel gänzlich ausgeschlossen.[9] Vergleichbare Regelungen galten auch für die Strafverfahren vor den außerordentlichen Gerichten, die aufgrund der NotVO des Reichspräsidenten vom 29. März 1921[10] in Bezirken, in denen zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ein Regierungskommissar oder ein Militärbefehlshaber zuständig war, errichtet werden konnten.
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Die NotVO des Reichspräsidenten vom 12. Dezember 1923[11] gab dem Oberreichsanwalt die Möglichkeit, die erstinstanzliche Zuständigkeit für bestimmte Spionage- und Landesverratsfälle durch Abgabe an die Staatsanwaltschaft eines Landes vom Reichsgericht auf die Oberlandesgerichte zu übertragen. Die NotVO vom 17. Dezember 1923 über die beschleunigte Aburteilung von Straftaten diente „zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für das Reichsgebiet“ und überlagerte in wesentlichen Fragen das allgemeine Strafverfahrensrecht.[12] Die Strafkammern wurden, soweit nicht eine Sonderzuständigkeit der Sondergerichte bestand, für bestimmte schwere Straftaten und Taten gegen die staatliche Ordnung ausschließlich zuständig,[13] wobei spezielle Regelungen zur Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens bestanden. Die gerichtliche Voruntersuchung und der Eröffnungsbeschluss entfielen, die Anklageschrift musste nicht das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen enthalten. Die Rechte des Beschuldigten, schon im Zwischenverfahren Beweiserhebungen zu beantragen oder sonstige Einwände vorzubringen, wurden gestrichen. Die einwöchige Ladungsfrist gem. § 216 RStPO wurde auf 24 Stunden ab der Mitteilung des Hauptverhandlungstermins verkürzt. Noch wesentlicher aus Sicht des Beschuldigten war, dass das Gericht „den Umfang der Beweisaufnahme nach freiem Ermessen“ bestimmen konnte und keine Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Strafkammer oder ihres Vorsitzenden bestanden, auch wenn die Wiederaufnahmegründe zugunsten des Verurteilten erweitert wurden. Diese NotVO war nur bis zum 31. Januar 1924 in Kraft,[14] so dass sie für die Praxis nur wenig Bedeutung hatte. Gleichwohl enthalten die Regelungen zusammen mit den Sondervorschriften für die Wuchergerichte einen Vorgeschmack auf die AusnahmeVO des Reichspräsidenten am Ende der Weimarer Republik und die strafverfahrensrechtliche Entwicklung im Dritten Reich.
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Um den Bestrafungsverlangen der Alliierten für im Ersten Weltkrieg von deutschen Soldaten begangene Kriegsverbrechen nachzukommen, wurde für derartige Straftaten eine erst- (und letztinstanzliche) Zuständigkeit des Reichsgerichts geschaffen.[15] Auch wenn es in der Praxis nur zu sehr wenigen Verurteilungen wegen Kriegsverbrechen kam,[16] wurde dabei zugleich der Grundsatz ne bis in idem vollständig aufgegeben. Ein früherer Freispruch, die Gewährung von Straffreiheit, der Eintritt der Verfolgungsverjährung oder ein früheres Verfahren schlossen ein Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen und -vergehen nicht aus. Stellte sich nach einem Freispruch doch ein hinreichender Tatverdacht wegen einer entsprechenden Straftat heraus, konnte das Reichsgericht auf Antrag des Oberreichsanwalts die Wiederaufnahme anordnen. Gleiches galt bei einer früheren Verurteilung, wenn die Strafe im offenbaren Missverhältnis zur Tat stand.