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IV. Entwürfe und Scheitern der Reform – Chronologie

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Im Kaiserreich scheiterten alle legislatorischen Versuche einer umfassenden Neugestaltung des Strafprozessrechts. Dennoch legten die Entwürfe und deren fachwissenschaftliche Diskussion die Grundlage für die während der Weimarer Zeit durchgesetzten Reformen. Chronologisch zusammengefasst stellen sich die Reformversuche wie folgt dar:[171]

Erste Vorstöße im Reichstag (1883/1884/1885) Mehrfache Anträge von Abgeordneten des Zentrums und der Freisinnigen Partei auf Einführung der Berufung gegen Strafkammerurteile blieben erfolglos.[172]
Regierungsentwurf (Mai 1885)[173] Das im Reichstag eingebrachte „Gesetz, betreffend Aenderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung“ entzog dem Schwurgericht die Zuständigkeit über verschiedene Delikte und reduzierte die Anzahl der Geschworenen auf sieben. Vorgesehen waren zudem die Einführung des Nacheides sowie die Ausdehnung des Kontumazialverfahrens gegen ferngebliebene Angeklagte. Keine Mehrheit unter den Regierungsvertretern hatte die von Preußen beabsichtigte Einführung der Berufung gegen erstinstanzliche Strafkammerurteile gefunden. Bismarcks Intention war es gewesen, über das Berufungsrecht der Staatsanwaltschaft eine Handhabe gegen Freisprüche und milde Urteile zu bekommen.[174] Aufgrund des Endes der Session fand eine Reichstagsberatung über den Regierungsentwurf nicht statt.
Bundesratsentwurf (1894) [175] Der dem Reichstag vom Bundesrat übermittelte Entwurf, der maßgeblich auf Vorarbeiten im preußischen Justizministerium zurückging, brachte mit der intendierten Einführung der Berufung gegen Strafkammerurteile eine Wende. Die Strafkammern sollten im Gegenzug mit lediglich drei Berufsrichtern besetzt werden (statt bisher fünf)[176]. Als Berufungsinstanz war das OLG vorgesehen. Geplant waren außerdem der Ausbau des abgekürzten Verfahrens, die Streichung von § 23 Abs. 3 RStPO, die Ausdehnung des Kontumazialverfahrens, die Einführung des Nacheides sowie Zuständigkeitsverschiebungen zugunsten der Schöffengerichte und Strafkammern. Für rechtspolitischen Zündstoff sorgte die Einschränkung der gerichtlichen Selbstverwaltung. Aufgrund des Endes der Session fand abermals keine Erörterung im Reichstag statt.
Bundesratsentwurf (1895) [177] Der zwischenzeitlich leicht modifizierte Gesetzesentwurf von 1894 wurde erneut in den Reichstag eingebracht. Der Bundesratsentwurf scheiterte, weil der Reichstag an einer Besetzung der Strafkammern mit fünf Berufsrichtern festhielt.[178] Die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz sollte nicht durch rechtsstaatliche Einbußen auf erstinstanzlicher Ebene erkauft werden.
Einsetzung und Beschlüsse der Strafprozesskommission (1903–1905) Der Anstoß für die Wiederaufnahme der Reformarbeiten kam von Reichskanzler v. Bülow.[179] Das Reichsjustizamt setzte eine aus 21 Mitgliedern bestehende unabhängige Kommission ein.[180] Das unter beruflichen und landsmannschaftlichen Proporzerwägungen zusammengestellte Gremium wurde anhand eines umfassenden Fragenkatalogs mit der gutachterlichen Äußerung beauftragt. Nach zweijährigen Beratungen lagen die Beschlüsse und Verhandlungsprotokolle vor.[181] Vorgesehen war die Beseitigung des Schwurgerichts und dessen Umwandlung in ein großes Schöffengericht (drei Berufsrichter, sechs Schöffen). Schöffengerichte (drei Berufsrichter, vier Schöffen) sollten zudem an die Stelle der berufsrichterlichen Strafkammern treten. Gegen erstinstanzliche Urteile war die Berufung statthaft. Zu den Beschlüssen zählten außerdem die Parteiöffentlichkeit der Voruntersuchung sowie partielle Durchbrechungen des Legalitätsprinzips. Auch votierte die Strafprozesskommission für einen erweiterten Anwendungsbereich des Kontumazialverfahrens und des Strafbefehlsverfahrens sowie für eine Ausdehnung der Privatklagedelikte.
Entwurf einer Strafprozessordnung (Bundesratsvorlage, Juli 1908, erstellt im Reichsjustizamt)[182] Das Reichsjustizamt überarbeitete die Entwürfe der Strafprozesskommission unter Hinzuziehung der Ländervertreter.[183] Im Gegensatz zu den Kommissionsbeschlüssen hielt der Entwurf des Reichsjustizamts an Schwurgerichten fest. Gegen Urteile der mit Schöffen besetzten Strafkammern stand die Berufung zum LG offen. Als schicksalhaft für den weiteren Reformverlauf erwiesen sich die auf preußischen Druck ausschließlich berufsrichterlich besetzten sog. „Berufungssenate“. Die Letztentscheidung in politisch bedeutenden Verfahren sollte einem reinen Beamtengericht vorbehalten bleiben.[184] Wichtige Neuerungen betrafen die Ermächtigung zur Errichtung von Jugendgerichten sowie verschiedene Durchbrechungen des Legalitätsprinzips, u.a. die Formulierung eines allgemeinen Opportunitätsprinzips für geringfügige Straftaten (§ 154 Abs. 1 RStPO).[185]
Entwurf einer Strafprozessordnung (Reichstagsvorlage, November 1909, erstellt durch den Bundesrat)[186] Der Bundesrat nahm an der Vorlage des Reichsjustizamts lediglich Randkorrekturen und sprachliche Modifikationen vor.[187] Im Januar 1910 trat der Reichstag in die Beratungen über den Entwurf einer Strafprozessordnung ein.
Beratungen im Reichstag – Scheitern der Strafprozessreform Die Voraussetzungen für die Verabschiedung einer neuen RStPO schienen günstig. Mit der Beibehaltung des Schwurgerichts, umfassenden Berufungsmöglichkeiten sowie der Umwandlung der Strafkammern in Schöffengerichte machte der Bundesrat weitreichende Konzessionen an die liberale Reichstagsmehrheit. Dennoch scheiterte der Entwurf – und mit ihm die Reformarbeit der vergangenen Jahrzehnte. Der Streit entzündete sich an der Besetzung der Berufungsgerichte mit Schöffen.[188] Ein entsprechender Beschluss des Reichstags schien dem Bundesrat „unannehmbar“, ein Kompromiss ließ sich nicht finden. Die Beratungen im Plenum wurden mehrfach verschoben und schließlich nicht wieder aufgenommen. Die Reformarbeiten waren im Sande verlaufen und konnten erst nach Ende des Kaiserreichs unter geänderten politischen Vorzeichen erneut aufgenommen werden.
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