Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Manuel Ladiges - Страница 163
IV. Wissenschaftshistorische Einordnung
Оглавление30
Das Urteil über die RStPO divergiert je nach zeitlicher und fachlicher Perspektive. Aus juristisch-dogmatischer Sicht erscheint das Gesetzeswerk als „stolzes Werk nationaler Rechtseinheit“[148], das zu den „großen liberalen Denkmälern des 19. Jahrhunderts“ zählt[149]. Auf der „Habenseite“ stehen mit dem Ausbau der Beschuldigten- und Verteidigungsrechte sowie mit der Stärkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes erhebliche Verbesserungen gegenüber den partikularen Rechtsordnungen. Im zeitgenössischen Schrifttum stieß die RStPO indes auf wenig Gegenliebe. Selbst abwägenden Beobachtern galt sie als „das mangelhafteste der Justiz-Gesetze“[150]. Andere sprachen von einem „verpfuschten Machwerk“, einer „bunten Musterkarte disparatester Prinzipien, wirr durcheinanderlaufender Velleitäten“[151] oder gar von einer „hässlichen Bastardform“[152]. Der ausgeprägte Kompromisscharakter des Gesetzes schien nur Verlierer zu kennen und weder das Parlament noch die Regierungen zufriedenzustellen. Zwar wurde das Schwurgericht beibehalten, die Laienbeteiligung jedoch im Übrigen marginalisiert. Einerseits gelangte die Berufung in das Gesetz, andererseits blieb sie gegen Urteile der angefeindeten Strafkammern unstatthaft. Zwar gelang es dem Reichstag, der Reichsregierung einige der zuvor als „unannehmbar“ erklärten Normierungen abzutrotzen,[153] doch „kapitulierten“ die nationalliberalen Verhandlungsführer bei den politisch bedeutsamen Schutzrechten für die Presse.[154] Mit Blick auf die Problemfelder, welche die liberale Öffentlichkeit des Kaiserreichs in besonderem Maße bewegten (Schwurgericht, Laienbeteiligung, Strafkammern, Berufung, Schutz der Presse) musste die Bilanz somit enttäuschend ausfallen.[155] Nicht zu übersehen ist schließlich aus historischer Perspektive, dass für die nationale Rechtseinheit ein hoher politischer Preis zu entrichten war. Die Verabschiedung der RStPO gelang nur unter Desavouierung der übrigen Reichstagsparteien durch die Nationalliberalen, deren eigenmächtiges Vorgehen die Spaltung des deutschen Liberalismus zum Ausdruck brachte.[156]