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3. Primat des Strafprozessrechts in der Praxis?
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In der praktischen strafrechtlichen Arbeit dürfte es einer spontanen Intuition (und damit auch einer verbreiteten Vorstellung) entsprechen, dass dem Strafprozessrecht – anders als etwa in der universitären Ausbildung – ein ganz klarer Vorrang gegenüber dem materiellen Strafrecht zukommt. Das könnte selbst für die Gerichte gelten (die letztlich eine begrenzte Zeit auf die Subsumtion des – nach den Regeln des Prozessrechts – festgestellten Sachverhalts unter das materielle Strafrecht verwenden, während sie in der Hauptverhandlung vor allem durch gesicherte strafprozessuale Kenntnisse versuchen müssen, die „Lufthoheit“ zu wahren), ganz besonders aber für die Strafverteidiger. Sie können mit Blick auf das materielle Strafrecht zumindest theoretisch darauf vertrauen, dass dieses von Gericht und Staatsanwaltschaft zutreffend und objektiv auf den festgestellten Sachverhalt angewendet wird, während die (ohnehin vielfach begrenzten) „Gestaltungsmöglichkeiten“ der Verteidigung insbesondere in der Hauptverhandlung vorrangig strafprozessuale Felder (z.B. Beweisanträge, Ablehnungsanträge, erforderliche Widersprüche und Zwischenrechtsbehelfe etc.) betreffen.
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Insoweit ist dieser Eindruck zwar richtig. Aber selbst in einem prozessualen Band eines Handbuchs zum Strafrecht soll ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass auch die Bedeutung des materiellen Strafrechts und seiner Kenntnis (und zwar insbesondere auch für die Verteidigung) nicht unterschätzt werden darf. Materiell-rechtliche Fragen stellen sich nämlich nicht nur in praktisch jedem Verfahrensstadium beginnend beim Ermittlungsverfahren (in welchem etwa Zwangsmaßnahmen nur angeordnet werden dürfen, wenn nicht nur der Verdacht eines bestimmten Verhaltens besteht, sondern dieses Verhalten auch einen Straftatbestand darstellt) über die Frage nach Anklageerhebung (oder aber eben nicht) und das Urteil (Verurteilung oder Freispruch) bis zur Revision, in welcher die Verletzung sachlichen Rechts zwar keiner so elaborierten Begründung bedarf wie die Erhebung einer Verfahrensrüge (vgl. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO), von einer qualitätsvollen Revision aber dennoch in einer Weise geleistet werden wird, welche das Revisionsgericht zum Nachdenken anregt.
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In all diesen und auch anderen Situationen ist es auch für einen Strafverteidiger in der Praxis wichtig, das materielle Recht zu kennen. Ihm kommt insoweit eine „Kontrollfunktion“ zu, da sich selbstverständlich auch Richter einmal irren können.[133] Auch gibt es schlicht Grenzfälle, in denen die gesetzliche Lösung nicht klar vorgegeben ist und Gerichte durchaus unterschiedlich judizieren.[134] Zuletzt ermöglichen auch nur gute Kenntnisse im materiellen Recht und vor allem auch ein überzeugendes Argumentationsvermögen in diesem Bereich, bei einem Richter auch an Entscheidungen, die er letztlich so trifft/treffen würde, wie er sie eben trifft bzw. treffen zu müssen meint, Zweifel in rechtlicher Hinsicht zu schüren. Diese können dann zwar nicht in der Entscheidung über die Tat- und Schuldfrage, wohl aber bei den Rechtsfolgen durchschlagen, sei es in Gestalt einer gemilderten Strafe, sei es (obwohl der Schuldspruch natürlich nicht verständigbar ist, vgl. § 257c Abs. 2 S. 3 StPO) im Rahmen einer Verständigung oder sei es als Motivation für eine Einstellung nach § 153a StPO.