Читать книгу Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi - Mari Jungstedt - Страница 22

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Die Stockholmer U-Bahn ist an einem Montagmorgen im November bestimmt einer der deprimierendsten Orte, an denen ein Mensch sich überhaupt aufhalten kann, dachte Johan, als er am Fenster lehnte und die schwarzen Tunnelwände eine Armeslänge entfernt vorüberhuschen sah.

Der Wagen war voll besetzt mit graubleichen Menschen, die unter Sorgen und Alltag zusammenzusacken schienen. Kaum jemand sagte etwas, nur das übliche Rattern und Scheppern der U-Bahn war zu hören. Hier und dort hustete jemand, ab und zu raschelte eine Gratiszeitung. Die Leute schauten die Decke an, die Werbeplakate, den Boden, sie schauten aus dem Fenster oder auf einen undefinierbaren Punkt in der Ferne. Sie schauten alles an, nur einander nicht.

Der Geruch feuchter Kleidung mischte sich mit dem von Parfüm, Schweiß und auf den Heizkörpern verbranntem Staub. Jacken drückten gegen Mäntel, Schals gegen Mützen, Körper gegen Körper, Schuhe gegen Schuhe, dies alles jedoch, ohne Nähe herzustellen.

Wie können sich so viele Menschen an ein und demselben Ort aufhalten, ohne dass es zu hören ist, überlegte Johan. Das Ganze hatte einfach etwas Krankes.

An solchen Tagen kam es häufig vor, dass er sich weit weg sehnte.

Als er am Karlaplan aus der U-Bahn stieg, erschien ihm das fast wie eine Befreiung. Hier konnte er immerhin atmen. Die Menschen in seiner Umgebung marschierten wie die Zinnsoldaten zu Bussen, Arbeitsplätzen, Schulen, Geschäften, Krankenhäusern, Anwaltskanzleien oder was immer nun ihr Ziel sein mochte.

Er selbst ging durch den bei der Gustav-Adolfs-Kirche gelegenen Park. Die Kinder im Kindergarten saßen trotz des kalten Windes auf den Schaukeln. Ihre Wangen leuchteten wie reife Äpfel.

Der Sender ragte wie ein Koloss in den Novembernebel. Johan schaute düster auf das Standbild des legendären Rundfunkmannes Lennart Hyland, dann betrat er das Foyer.

Oben in der Redaktion war der Bär los. Die landesweiten Morgennachrichten wurden gerade ausgestrahlt, und vor dem Fahrstuhl eilten Gäste, Moderatoren, Kosmetikerinnen, Reporter und Redakteure zwischen Studios, Toiletten und Frühstückstisch hin und her. Die Aussicht aus den vielen hohen Fenstern zeigte Gärdet in Grau, davor waren fröhliche Hunde aus der Hundepension in der Grev-Magnus-Gata zu sehen. Braun, schwarz und gefleckt rannten und spielten sie auf dem großen Platz, ohne sich darum zu kümmern, dass es ein öder Montag im November war.

Zur Morgenbesprechung der Regionalnachrichten hatten sich fast alle eingefunden. Fotografen, ein früh aufgestandener Redigierer, Reporter, Planer und Redakteure waren zur Stelle. Nachdem sie das Für und Wider der Sendung des Vortags diskutiert hatten, ging der leitende Redakteur Max Grenfors die Reportageliste des Tages durch. Aber während der Besprechung konnte sie sich durchaus noch ändern. Irgendwer hatte noch eine neue Idee, andere protestierten so energisch gegen ein Thema, dass es im Papierkorb landete, oder die Diskussion nahm eine Wendung, die dafür sorgte, dass jegliche Planung über den Haufen geworfen wurde. Doch gerade so muss es in einer Nachrichtenredaktion zugehen, dachte Johan, der diese Besprechungen liebte.

Er erzählte den anderen kurz, was er über den Mord auf Gotland wusste. Alle fanden, dass es wenig spektakulär klang. Johan wurde aufgetragen, sich ein Bild von der Lage zu machen, da er am nächsten Tag ohnehin nach Gotland musste, um über Streitigkeiten um einen von der Schließung bedrohten Campingplatz zu berichten.

Die Redaktion der Regionalnachrichten arbeitete ständig unter Zeitdruck. Jeden Tag mussten sie eine zwanzig Minuten lange Sendung sozusagen aus dem Nichts aufbauen. Ein Beitrag von zwei Minuten verlangte normalerweise mehrere Stunden für die Aufnahmen und dann noch zwei zum Redigieren. Johan versuchte immer wieder, den Chefs klarzumachen, dass die Reporter mehr Zeit brauchten.

Ihm gefielen die Veränderungen nicht, die eingetreten waren, seit er zehn Jahre zuvor als Fernsehreporter angefangen hatte. Dass die Reporter inzwischen kaum noch die Zeit hatten, ihr Material durchzusehen, ehe es zum Schneiden ging. Das hatte weitreichende Auswirkungen auf die Kreativität. Gute Bilder, in die der Kameramann sehr viel Arbeit investiert hatte, konnten verloren gehen, weil in der Eile niemand auf sie achtete. Nicht selten waren die Kameraleute enttäuscht, wenn sie den fertigen Beitrag sahen. Und wenn bereits am Umgang mit den Bildern gespart wurde, die doch die ganze Stärke des Fernsehens waren, dann war man auf einem schlechten Weg, und Johan weigerte sich, einen Text zu schreiben und zu redigieren, ehe er sein Material nicht in Ruhe gesichtet hatte.

Natürlich gab es Ausnahmen. Wenn die Zeit wirklich drängte und man zwanzig Minuten vor Sendebeginn schneiden musste und trotzdem einen Beitrag zustande brachte.

Die Unvorhersehbarkeit war das Schönste an der Arbeit in der Nachrichtenredaktion. Morgens wusste Johan nie, wie der Tag aussehen würde. Er arbeitete vor allem als Kriminalreporter, und die Kontakte, die er im Laufe der Jahre aufgebaut hatte, waren für die Redaktion von unschätzbarem Wert. Er war es auch, in dessen Ressort Gotland fiel, das seit mehr als einem Jahr im Verantwortungsbereich der Lokalnachrichten lag. Die roten Zahlen, in die das Schwedische Fernsehen gerutscht war, hatten der Redaktion auf Gotland den Garaus gemacht, und die Zuständigkeit für die Insel wurde von Norrköping nach Stockholm verlegt. Johan hatte Gotland, dem schon von Kindheit an seine Liebe gehörte, nur zu gern übernommen. Und mittlerweile war es nicht nur die Insel, die ihn so anzog.

Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi

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