Читать книгу Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi - Mari Jungstedt - Страница 6

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Zum ersten Mal seit einer Woche öffnete sich die Wolkendecke. Die müden Novembersonnenstrahlen fanden einen Weg, und die Zuschauer auf der Trabrennbahn von Visby hoben ihnen sehnsüchtig die Gesichter entgegen. Es war das letzte Rennen der Saison, und Erwartung, aber auch ein Hauch Wehmut lagen in der Luft. Ein verfrorenes, doch begeistertes Publikum drängte sich auf den Bankreihen aneinander. Die Zuschauer tranken Bier und Kaffee aus Plastikbechern, aßen heiße Würstchen mit Brot und machten sich im Rennprogramm ihre Notizen.

Henry »Blitz« Dahlström zog seinen Flachmann hervor und trank einen ordentlichen Schluck Schwarzgebrannten. Er verzog angewidert das Gesicht, doch der Fusel wärmte hervorragend. Um Henry herum saß die ganze Bande auf der Tribüne: Bengan, Gunsan, Monica und Kjelle. Alle bereits mehr oder weniger angetrunken.

Die Parade hatte soeben begonnen. Die schnaubenden, schweißglänzenden Warmblüter tänzelten einer nach dem anderen vorüber, während aus den Lautsprechern Musik schallte. Die Fahrer saßen breitbeinig in ihren leichten Sulkys.

Die Ziffern, mit denen auf der schwarzen Anzeigetafel draußen auf der Bahn die Quoten angegeben wurden, tickten weiter.

Henry blätterte im Programm. Er wollte auf Ginger Star im siebten Rennen setzen. Sonst schien offenbar niemand an die erst drei Jahre alte Stute zu glauben. Henry aber hatte sie während des Sommers beobachtet und festgestellt, dass sie trotz der Tendenz, in Galopp zu verfallen, immer besser wurde.

»Hömma Blitz, hassu Pita Queen gesehn, issie nich toll?«, nuschelte Bengan und streckte die Hand nach dem Flachmann aus.

Henry trug den Spitznamen »Blitz«, weil er viele Jahre als Fotograf für die Zeitung Gotlands Tidningar tätig gewesen war, bis sein Leben ganz vom Alkohol bestimmt wurde.

»Scheiße, ja. Bei dem Trainer«, antwortete er und erhob sich, um seinen V-5-Schein abzugeben.

Die Wettschalter mit ihren halb heruntergelassenen Holzläden lagen nebeneinander. Brieftaschen kamen bereitwillig zum Vorschein, Scheine wechselten die Besitzer, und Tippzettel wurden registriert. Eine Treppe höher befand sich das Rennbahnrestaurant, in dem die Stammgäste Steaks verzehrten und Bier tranken. Bekannte Wettspezialisten pafften ihre Zigarren und diskutierten über die Tagesform der Pferde und den Stil der Fahrer.

Langsam rückte der Start näher. Der erste Fahrer grüßte die Schiedsrichter auf ihrem Turm vorschriftsmäßig mit einem Nicken. Der Ansager rief über Lautsprecher zum Start.

Nach vier V-5-Läufen hatte Henry auf seinem Tippzettel ebenso viele Richtige. Mit etwas Glück würde er die ganze Reihe füllen. Und da er außerdem auf die mit hohen Quoten belegte Ginger Star im letzten Rennen gesetzt hatte, rechnete er mit einer ansehnlichen Gewinnsumme. Wenn die Stute nur seine Erwartungen erfüllte!

Der Startschuss fiel, und Henry beobachtete Pferd und Sulky so konzentriert, wie ihm das nach acht Bieren und diversen Schwarzgebrannten überhaupt noch möglich war. Beim Klingeln nach der ersten Runde steigerte sich sein Puls. Ginger Star lief gut, sie lief verdammt gut. Mit jedem Schritt, den sie den beiden Favoriten in der Führung näher kam, wurden ihre Umrisse für Henry schärfer. Der kräftige Hals, die geblähten Nüstern und die nach vorn gelegten Ohren. Sie konnte es schaffen!

Jetzt nicht galoppieren, bloß nicht galoppieren. Er murmelte diese Worte immer wieder, wie ein Mantra. Seine Augen hingen an der jungen Stute, die sich der Spitze mit wütender Energie näherte. Einen Rivalen hatte sie bereits überholt. Da bemerkte Henry plötzlich die Kamera um seinen Hals, und ihm fiel ein, dass er doch fotografieren wollte. Er schoss einige Bilder, und seine Hand war dabei einigermaßen ruhig.

Der rote Sand der Trabrennbahn umstob die Hufe, die sich in wahnwitzigem Tempo weiterbewegten. Die Fahrer schlugen mit den Peitschen auf die Pferde ein, und im Publikum steigerte sich die Erregung. Viele hielt es nicht mehr auf ihren Sitzen, einige klatschten in die Hände, andere schrien.

Ginger Star rückte auf der Außenseite vor und lag Kopf an Kopf mit dem bisher führenden Pferd. Und nun benutzte der Fahrer zum ersten Mal die Peitsche. Dahlström sprang auf und beobachtete das Pferd durch das kalte Auge der Kamera.

Als Ginger Star eine Nasenlänge vor dem absoluten Favoriten durchs Ziel schoss, seufzte das Publikum enttäuscht auf. Henry hörte verstreute Kommentare: »Was zum Teufel!« – »Das darf doch nicht wahr sein!« – »Unglaublich!« – »Einfach Wahnsinn!«

Er selbst ließ sich auf die Bank sinken.

Er hatte die V-5 geholt!

Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi

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