Читать книгу Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi - Mari Jungstedt - Страница 23
ОглавлениеPricken riss an der Leine. Dass er auch nie lernen kann, bei Fuß zu laufen, dachte Fanny wütend, aber sie brachte es nicht über sich, ihn auszuschimpfen. Die Straßen des Wohnviertels, durch das sie ging, waren leer. Ein dunkler Nebel hatte sich über Visby gesenkt, und der Asphalt funkelte in einem stillen Regen. Die mit Vorhängen geschmückten Fenster in den Wohnhäusern leuchteten einladend. Alles sah so ordentlich aus. Blumen auf den Fensterbänken, saubere Wagen in den Auffahrten und hübsche Briefkästen. Und hier und dort ein gepflegter Komposthaufen.
Man konnte jetzt in der abendlichen Dunkelheit zu den Leuten in die Häuser sehen. Einige hatten Kupfergefäße an der Küchenwand hängen, in einem anderen Haus entdeckte Fanny eine bunte Wanduhr. In einem Wohnzimmer sprang ein kleines Mädchen vom Sofa auf den Boden und wieder zurück und redete mit jemandem, den Fanny nicht sehen konnte. Dort stand ein Mann mit einem Handfeger in der Hand. Offenbar war ein wenig Dreck auf den Fußboden geraten, stellte Fanny sich vor und kniff die Lippen zusammen. Hinter einem anderen Küchenfenster stand ein Paar und kochte anscheinend gemeinsam das Abendessen.
Plötzlich wurde die Tür einer größeren Villa geöffnet. Ein älteres Paar kam heraus und ging munter plaudernd zu einem wartenden Taxi. Sie waren gut angezogen, und Fanny nahm das kräftige Parfüm der Frau wahr, als die beiden an ihr vorbeikamen. Sie merkten nicht, dass Fanny stehen blieb und sie ansah.
Sie fror in ihrer dünnen Jacke. Zu Hause warteten ihre Mutter und die stumme, düstere Wohnung. Ihre Mutter arbeitete bei Flexitronics in der Nachtschicht. Ihren Vater hatte Fanny nur zweimal im Leben getroffen, zuletzt mit fünf Jahren. Seine Band hatte einen Auftritt in Visby, und er war danach zu einem kurzen Besuch gekommen. Sie konnte sich nur an eine große, trockene Hand erinnern, die ihre gehalten hatte, und an braune Augen. Ihr Vater war schwarz wie die Nacht. Er war Rastaman und kam von Jamaica. Auf Fotos hatte sie seine langen, verschlungenen Locken gesehen. Die wurden Dreadlocks genannt, das hatte ihre Mutter erzählt.
Er wohnte in Stockholm und war Schlagzeuger in einer Band, außerdem hatte er in Farsta eine Frau und drei Kinder. Mehr wusste Fanny nicht.
Er ließ nie von sich hören, nicht einmal zu ihrem Geburtstag. Es kam vor, dass sie sich ausmalte, ihre Eltern lebten zusammen. Vielleicht würde ihre Mutter dann nicht so viel trinken. Vielleicht würde sie fröhlicher sein. Vielleicht würde Fanny sehr viel Arbeit erspart bleiben: Kochen, Aufräumen und Waschen, die Spaziergänge mit Pricken und das Einkaufen. Vielleicht würde sie dann kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn sie in den Stall ging. Fanny hätte gern gewusst, was ihr Vater sagen würde, wenn er wüsste, wie ihr Leben aussah. Aber ihm war das wohl egal, sie bedeutete ihm ja nichts.
Sie war nur einfach das Ergebnis seiner Affäre mit ihrer Mutter.