Читать книгу Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi - Mari Jungstedt - Страница 24
ОглавлениеDas Erste, was Karin und Wittberg auffiel, waren die Skulpturen. Fast zwei Meter hoch, aus Beton, eine gesammelte Gruppe auf dem Grundstück. Eine stellte ein sich aufbäumendes Pferd dar, das verzweifelt die Wolken anzuwiehern schien, die andere erinnerte an ein Reh, die dritte an einen Elch mit überdimensionalem Kopf. Grotesk und gespenstisch standen sie im strömenden Regen auf der weiten platten Rasenfläche.
Sie liefen vom Auto zum Haus, dessen schlichte Veranda überdacht war. Typisch fünfziger Jahre, eine Art Bungalow mit Keller und schmutzig grau verputzter Fassade. Die Treppe war morsch, und die Gefahr einzubrechen schien sehr groß. Die Klingel war kaum zu hören. Nach etwa einer Minute wurde die Tür von einer großen kräftigen Frau von vielleicht siebzig geöffnet. Sie trug eine Strickjacke und ein geblümtes Kleid. Ihre üppigen Haare waren weiß.
»Wir kommen von der Polizei«, erklärte Wittberg. »Wir würden Ihnen gern einige Fragen stellen. Sind Sie Doris Johnsson, die Mutter von Bengt Johnsson?«
»Ja. Was hat er denn jetzt schon wieder angestellt? Kommen Sie rein. Sie werden ja ganz nass.«
Sie ließen sich auf dem Ledersofa im Wohnzimmer nieder. Das Zimmer war voll gestopft mit Gegenständen. Außer der Sofagruppe gab es drei Sessel, eine rustikale Kommode, einen Fernseher, Ständer mit Blumen, ein Bücherregal. Auf den Fensterbänken drängten sich die Blumentöpfe. In jeder freien Ecke standen Glasfiguren aller Art. Sie alle hatten nur eine Gemeinsamkeit: Sie stellten Tiere dar. Hunde, Katzen, Igel, Eichhörnchen, Kühe, Pferde, Schweine, Kamele, Vögel. In unterschiedlichen Größen, Farben und Posen thronten sie auf Tischen und Konsolen, auf Fensterbänken und in Regalen.
»Sammeln Sie?«, fragte Karin unbeholfen.
Das gefurchte Gesicht strahlte auf.
»Schon seit vielen Jahren. Ich habe sechshundertsiebenundzwanzig Stück«, erzählte Bengans Mutter stolz. »Aber was kann ich für Sie tun?«
»Also, wir bringen leider eine traurige Nachricht.« Wittberg beugte sich vor.
»Ein Freund Ihres Sohnes ist tot aufgefunden worden, und wir haben den Verdacht, dass er ermordet worden ist. Er heißt Henry Dahlström.«
»Du meine Güte, Henry?« Bengans Mutter erbleichte. »Und er ist ermordet worden?«
»Es sieht leider so aus. Wir haben den Täter noch nicht, und deshalb möchten wir gern mit Henrys Bekanntenkreis sprechen. Wissen Sie, wo Bengt gerade steckt?«
»Nein, er hat diese Nacht nicht hier geschlafen.«
»Und wo dann?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesprochen?«, fragte Karin.
»Gestern Abend. Ich war unten im Keller und habe Wäsche aufgehängt, ich habe ihn also nicht gesehen. Er hat nur die Treppe herunter gerufen. Heute Morgen hat er angerufen und gesagt, dass er ein paar Tage bei einem Kumpel verbringen würde.«
»Und bei wem?«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Hat er eine Telefonnummer hinterlassen?«
»Nein. Er ist doch ein erwachsener Mann. Ich hatte den Eindruck, dass er bei einer Frau ist.«
»Warum das?«
»Weil er so geheimnisvoll tat. Sonst sagt er immer, wo er ist.«
»Hat er per Festnetz angerufen oder Mobil?«
»Per Festnetz.«
»Haben Sie ein Nummerndisplay?«
»Ja, das habe ich.«
Sie erhob sich und ging in die Diele. Nach einigen Minuten kehrte sie zurück.
»Nein, da ist nichts zu sehen. Ist offenbar eine Geheimnummer.«
»Hat er ein Handy?«
Doris Johnsson stand in der Türöffnung und sah die Gäste auf dem Sofa herausfordernd an.
»Ehe ich weitere Fragen beantworte, will ich wissen, worum es hier geht. Ich habe Henry schließlich auch gekannt. Und da müssen Sie mir schon sagen, was da passiert ist.«
»Ja, ja, sicher«, murmelte Wittberg, der gegen diese dominante Frau sichtlich nicht ankam. Karin war schon aufgefallen, wie höflich er sich ihr gegenüber verhielt.
»Gestern Abend wurde Dahlström von Ihrem Sohn und dem Hausmeister tot in seiner Dunkelkammer im Keller seines Hauses gefunden. Als der Hausmeister dann die Polizei anrufen ging, verschwand Bengt, und seither hat er nichts von sich hören lassen. Deshalb wäre es uns sehr wichtig, mit ihm in Kontakt zu kommen.«
»Er hatte natürlich Angst.«
»Das ist sehr gut möglich, aber wenn wir den Täter finden wollen, müssen wir mit allen sprechen, die vielleicht etwas gesehen haben oder die uns erzählen können, was Henry an den Tagen vor dem Mord gemacht hat. Haben Sie überhaupt keine Vorstellung, wo Bengt sein kann?«
»Tja, er hat ja so viele Bekannte. Aber natürlich kann ich mich ans Telefon setzen und mich erkundigen.«
»Wann haben Sie Bengt zuletzt gesehen, und jetzt meine ich wirklich, gesehen?«, warf Karin dazwischen.
»Mal überlegen, also vor gestern Abend, meinen Sie. Das war gestern Morgen. Er hat wie immer lange geschlafen. Ist wohl gegen elf zum Frühstück erschienen, als ich gerade zu Mittag essen wollte. Dann ist er weggegangen. Er hat nicht gesagt, wohin er wollte.«
»Wie kam er Ihnen vor?«
»Wie immer. Er wirkte wirklich ganz normal.«
»Wissen Sie, ob in letzter Zeit irgendetwas Besonderes passiert ist?«
Doris Johnsson zupfte an ihrem Rock herum.
»Nein«, sagte sie zögernd.
Plötzlich breitete sie die Arme aus.
»Doch, natürlich. Henry hat doch auf der Trabrennbahn gewonnen. Er hat die V-5 geholt, als Einziger, es gab also eine Menge Geld. Achtzigtausend, glaube ich. Das hat Bengt mir danach erzählt.«
Karin und Wittberg wechselten einen überraschten Blick.
»Wann war das denn?«
»Das war nicht jetzt am Sonntag, also wohl am Sonntag davor. Ja, so war das, da waren sie doch zum Rennen.«
»Und da hat Henry also achtzigtausend gewonnen. Wissen Sie, was er mit dem Geld gemacht hat?«
»Schnaps gekauft, nehme ich an. Da hat er sicher einiges sofort ausgegeben. Kaum haben sie ein wenig Geld, dann müssen sie ja alle Welt freihalten.«
»Welche anderen Personen gehören zu Bengts Bekanntenkreis?«
»Da gibt es einen gewissen Kjelle, mit dem er viel zusammen ist, und dann zwei Frauenzimmer. Monica und Gunsan. Sie heißt wohl eigentlich Gun.«
»Nachname?«
Bengans Mutter schüttelte den Kopf.
»Wo wohnen sie?«
»Das weiß ich auch nicht, aber sicher irgendwo hier in der Stadt. Es gibt wohl auch noch einen Örjan, der noch nicht lange hier ist. Den hat Bengt in letzter Zeit einige Male erwähnt. Ich glaube, er wohnt in der Styrmannsgata.«
Sie verließen Doris Johnsson, die versprach, von sich hören zu lassen, sowie sie ihren Sohn erreicht hatte.
Die Sache mit dem Renngewinn hatte der Polizei nun ein einwandfreies Motiv für den Mord geliefert.