Читать книгу Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi - Mari Jungstedt - Страница 9

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Eine Speichelblase hing ihm im Mundwinkel. Bei jedem Ausatmen wurde sie größer, dann platzte sie und lief über sein Kinn aufs Kopfkissen.

Im Zimmer war es hell. Die Rollos waren hochgezogen und die Schmutzränder auf der Fensterscheibe deutlich zu sehen. Vor dem Fenster stand ein einsamer Topf mit einem längst vertrockneten Usambaraveilchen.

Henry Dahlström kam langsam zu Bewusstsein, als aufdringliches Telefonklingeln die tiefe Stille in der Wohnung durchschnitt. Es hallte zwischen den Wänden in dem verwohnten Zweizimmerappartement wider, drängte sich auf, um am Ende den Sieg über den Schlaf davonzutragen, bevor es endlich verstummte. Gedankenfetzen führten Henry unerbittlich zurück in die Wirklichkeit. Er empfand ein abstraktes Glücksgefühl, konnte sich aber nicht an dessen Ursache erinnern.

Die Kopfschmerzen schlugen zu, als er die Beine über die Bettkante schwang. Vorsichtig setzte er sich auf. Sein Blick irrte vage über das verschwommene Muster des Bettbezuges. Durst zwang Henry, aufzustehen und in die Küche zu taumeln. Der Boden schwankte. Er lehnte sich an den Türrahmen und betrachtete das Chaos.

Der Küchenschrank stand weit offen, und die Anrichte war überladen mit schmutzigen Gläsern, Tellern voller Essensreste und der Kaffeemaschine mit eingetrocknetem Kaffee in der Kanne. Irgendwer hatte einen Teller auf den Boden fallen lassen. Henry konnte zwischen den Porzellanscherben Reste von gebratenem Hering und Kartoffelpüree erkennen. Auf dem Küchentisch drängten sich Bierdosen und leere Schnapsflaschen, ein überquellender Aschenbecher und ein Stapel Wettzettel vom Rennen.

Plötzlich wusste er wieder, worüber er sich freuen konnte. Er hatte als einziger Gewinner eine V-5 geholt. Und damit eine, zumindest in seinen Augen, Schwindel erregende Summe gewonnen. Über achtzigtausend waren ihm bar ausgehändigt worden, direkt auf die Hand. Noch nie im Leben hatte er so viel Geld besessen.

Gleich darauf erkannte er, dass er keine Ahnung hatte, wo das Geld war. Die Angst, es könne verschwunden sein, ließ seinen Magen brennen. Am Vorabend war er offenbar sternhagelvoll gewesen.

So verdammt viel Geld!

Seine Blicke liefen unruhig an den halb leeren Fächern des Küchenschranks auf und ab. Er hätte doch Verstand genug haben müssen, um das Geld zu verstecken. Wenn nur niemand von den anderen ... nein, das konnte er nicht glauben. Aber wenn es um Schnaps und Geld ging, wusste man ja nie.

Er verdrängte diesen Gedanken und versuchte, sich zu erinnern, was er gemacht hatte, nachdem er am Vorabend vom Rennen nach Hause gekommen war. Wo zum Teufel ...

Aber sicher, natürlich, der Besenschrank. Mit zitternden Fingern zog Henry die Staubsaugerbeutel hervor. Als er die Geldscheine unter seinen Fingern spürte, atmete er erleichtert auf. Er ließ sich auf den Boden sinken, hielt dabei die Beutel in der Hand wie eine kostbare Porzellanvase, und gleichzeitig flimmerte ihm die Frage durch den Kopf, was er mit dem Geld anfangen sollte. Nach Gran Canaria fliegen und Cocktails trinken. Vielleicht Monica oder Bengan einladen – oder warum nicht alle beide?

Dann sah er das Bild seiner Tochter vor sich. Eigentlich müsste er ihr etwas schicken. Sie war mittlerweile erwachsen und wohnte in Malmö. Kontakt hatten sie schon lange nicht mehr.

Henry stopfte die Staubsaugerbeutel zurück in den Schrank und erhob sich. Vor seinen Augen tanzten tausend Lichtblitze.

Nun meldete sich das dringende Bedürfnis nach etwas Trinkbarem zurück. Die Bierdosen waren leer, die Schnapsflaschen auch. Er zündete eine der längeren Kippen aus dem Aschenbecher an und fluchte, als er sich die Finger verbrannte.

Dann entdeckte er unter dem Tisch eine Flasche Wodka, die noch einen ordentlichen Schluck enthielt. Den goss er sich gierig in den Rachen, und das Karussell in seinem Kopf verlangsamte sich. Er trat hinaus auf den Balkon und atmete die feuchtkalte Novemberluft ein.

Auf der Schilfmatte lag entgegen aller Erwartung eine ungeöffnete Dose Bier. Er leerte sie und fühlte sich eindeutig besser. Im Kühlschrank fand er ein Stück Wurst und einen Kochtopf mit eingetrocknetem Kartoffelpüree.

Es war Montagabend, nach sechs Uhr, und der staatliche Alkoholladen hatte geschlossen. Er musste irgendwo Schnaps auftreiben.

Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi

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