Читать книгу Ein Krokodil für Zagreb - Marina Achenbach - Страница 13
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ОглавлениеSekas ältere Schwester Jelena ist hell und kräftig, sie ist die andere, die gesunde, neben der dunklen, dünnen, herben Seka. Nach der Sturzgeburt, als die Eltern fürchteten, dass sie nicht überleben werde, gaben sie ihr den Namen Marija. Aber alle nennen sie zärtlich Seka, Schwester, Jelenas kleine Schwester.
Als die beiden Mädchen acht und fünf Jahre alt sind, erkranken sie an Diphtherie. Es werden viele sterbenskrank, ein Erdbeben in Bosnien scheint die Krankheiten aus den Klüften freigesetzt zu haben. Fieber, Atemnot, Ohnmacht. Ein Luftröhrenschnitt rettet die Schwestern.
Seka löst sich aus ihren Fieberträumen, zu ihren Füßen ein Inder mit weißem Turban. Er hält ihre Zehen umfasst, lächelt, schiebt seinen Kopf nach links, nach rechts und begrüßt sie höflich: »Da sind Sie ja wieder.« Ihre Schwester Jelena sei schon gesund, erklärt er, sie warte zu Hause auf Seka. Von nun an ist dieser Krankenpfleger um sie. Er atmet mit ihr, streicht mit schmalen dunklen Fingern über ihren Rücken, ihre Hände, ihre Stirn, er singt schwebende, hingezogene Melodien. Sie weiß nicht, wer ihn aus der Ferne nach Bosnien gebracht hat, es scheint, als sei er ihretwegen gekommen. Das geht so, bis sich der Frühling zeigt, und eines Tages wickelt er Seka in Schal und Decke ein und setzt sie zur Mutter in die Kutsche. Die Kutsche rollt an, sie sieht noch den Turban über dem schlanken Kopf, will weinen, doch dann hört sie die Hufe auf dem Steinpflaster, sieht glänzende Blattknospen, die aufspringen wollen, riecht die Erde, die nass ist vom getauten Schnee. Sie nimmt mit ihren entleerten Sinnen die vergessene maßlose Welt auf und fährt ihr entgegen.
Am Friedhof lässt die Mutter einbiegen, nach wenigen Metern steht die Kutsche vor einem frischen Grab, die Mutter steigt aus und legt Blumen darauf. »Hier liegt Jelena.« Seka glaubt die Mutter zu hören: Wie kann es sein, dass du überlebt hast und nicht meine gesunde und strahlende Jelena? Beide verzeihen es einander nie.