Читать книгу Gesammelte Werke von Cicero - Марк Туллий Цицерон - Страница 42

Marcus Tullius Cicero's Laelius oder von der Freundschaft

Оглавление

Inhaltsverzeichnis

I. 1. Der Augur Quintus Mucius 17 pflegte Vieles von seinem Schwiegervater Gajus Lälius 18 vermöge seines treuen Gedächtnisses in anziehender Weise zu erzählen und ihn ohne Bedenken in jeder Unterredung den Weisen zu nennen. Ich aber war nach Anlegung der männlichen Toga 19 von meinem Vater zu dem Zwecke dem Scävola zugeführt worden, daß ich mich, so lange ich könnte und dürfte, nie von des Greises Seite entfernte. Daher prägte ich manche seiner einsichtsvollen Erörterungen, auch manche seiner kurzen und treffenden Aussprüche meinem Gedächtnisse ein und suchte so durch seine Einsicht gebildeter zu werden.

Nach seinem Tode schloß ich mich an den Oberpriester Scävola 20 an, den ich für den durch geistige Befähigung sowol als durch Gerechtigkeitsliebe ausgezeichnetsten Mann in unserem Staate zu erklären wage. Doch von ihm ein andermal; ich kehre nun wieder zum Augur zurück.

2. Unter manchem Anderen erinnere ich mich, wie er einmal zu Hause nach seiner Gewohnheit auf einem Lehnsessel 21 saß und, als ich und einige wenige sehr vertraute Freunde zugegen waren, auf das Gespräch verfiel, das damals bei Vielen fast ausschließlich den Gegenstand ihrer Unterhaltung bildete. Du erinnerst dich jedenfalls, mein Atticus 22, und zwar um so mehr, weil du viel mit Publius Sulpicius 23 verkehrtest, – wie dieser Volkstribun bis zu tödtlichem Hasse mit Quintus Pompejus 24, dem damaligen Consul, mit dem er doch sonst in der innigsten Verbindung und in dem freundschaftlichsten Verhältnisse gelebt hatte, zerfallen war, und wie sehr man sich allgemein darüber theils verwunderte theils klagte.

3. Damals nun theilte uns Scävola, als er gerade auf diesen Gegenstand zu sprechen kam, das Gespräch des Lälius von der Freundschaft mit, das dieser mit ihm und seinem zweiten Schwiegersohne Gajus Fannius 25, des Marcus Sohne, wenige Tage nach dem Tode des Africanus 26 gehabt hatte. Die Hauptgedanken dieses Gesprächs habe ich meinem Gedächtnisse eingeprägt und sie in dieser Schrift nach meinem Gutdünken auseinandergesetzt. Ich habe nämlich die Personen gleichsam selbst redend eingeführt, um nicht so oft »sagte ich« und »sagte er« einschalten zu müssen, und um dem Gespräche den Schein zu geben, als ob es von persönlich Anwesenden mündlich gehalten würde.

4. Da du mir nämlich oft den Antrag machtest, ich möchte Etwas über die Freundschaft schreiben; so erschien mir dieser Gegenstand einmal der allgemeinen Kunde würdig und dann unserer vertrauten Freundschaft angemessen. So habe ich mich denn auf dein Ansuchen entschlossen, und zwar nicht ungern, hiermit Vielen nützlich zu werden. Aber sowie ich in meinem, dir gewidmeten, älteren Cato über das Greisenalter den greisen Cato 27 einführte, weil meines Erachtens keine Persönlichkeit von diesem Alter zu reden geeigneter war, als der Mann, der einerseits so lange Greis war, andererseits im Greisenalter selbst vor allen Anderen jugendlicher Frische genoß: ebenso schien mir nach den von unseren Vätern über die höchst denkwürdige Freundschaft des Gajus Lälius und Publius Scipio hinterlassenen Nachrichten die Persönlichkeit des Lälius geeignet über die Freundschaft eben die Gedanken zu entwickeln, die aus seinem Vortrage Scävola gehört zu haben sich erinnerte.

Diese Art von Gesprächen aber, die sich auf das Ansehen berühmter Männer aus der Vorzeit stützt, scheint mir, ich kann nicht sagen warum, mehr Gewicht zu haben. Daher werde ich beim Lesen meiner eigenen Schrift manchmal in eine solche Stimmung versetzt, daß ich meine, Cato und nicht ich rede.

5. Aber sowie ich damals an einen Greis als Greis über das Greisenalter schrieb, so schreibe ich in dieser Abhandlung als vertrauter Freund an einen Freund über die Freundschaft. Damals redete Cato, der in jenen Zeiten wol der älteste aller Greise war und an Einsicht alle übertraf; jetzt wird Lälius, ein weiser Mann – denn dafür galt er – und wegen seiner Freundschaft rühmlichst bekannt, über die Freundschaft reden. Du mögest nun deine Gedanken auf einen Augenblick von mir ablenken und dir vorstellen, Lälius rede selbst.

Gajus Fannius und Quintus Mucius kommen nach dem Tode des Africanus zu ihrem Schwiegervater; diese eröffnen die Unterredung; Lälius antwortet. Diesem ist die ganze wissenschaftliche Erörterung von der Freundschaft zuertheilt, und wenn du sie liest, wirst du dich selbst darin finden.

Fannius.

II. 6. So ist es, mein Lälius; es gab ja keinen edleren und berühmteren Mann, als Africanus war. Aber du mußt bedenken, daß Aller Augen nur auf dich gerichtet sind. Dich nennt man den Weisen und hält dich dafür. Diese Ehre erwies man vor nicht langer Zeit 28 dem Marcus Cato; wir wissen, daß Lucius Acilius 29 zur Zeit unserer Väter ein Weiser genannt wurde; aber beide in anderer Beziehung: Acilius, weil er für kenntnißreich im bürgerlichen Rechte galt; Cato, weil er in vielen Dingen Erfahrung besaß. Viele einsichtsvolle Rathschläge im Senate und auf dem Forum, viele kräftige Vorträge und scharfsinnige Rechtsbescheide waren von ihm im Umlauf. Deßwegen führte er im Greisenalter gewissermaßen schon den Beinamen des Weisen. 7. Du aber, meint man, seiest in einer anderen Beziehung nicht allein wegen deiner Naturanlagen und deines Charakters, sondern auch wegen deiner wissenschaftlichen Thätigkeit und gelehrten Bildung ein Weiser, und nicht im Sinne der großen Menge, sondern wie Männer von Bildung Einen weise zu nennen pflegen, desgleichen man in dem übrigen Griechenland Keinen findet; – denn die sogenannten Sieben setzen die, welche die Sache genauer untersuchen 30, nicht in die Zahl der Weisen; – nur in Athen wurde, wie uns berichtet wird, Einer, und zwar sogar durch Apollo's Ausspruch, für den Weisesten erklärt 31. Eine solche Weisheit, meinen sie, besäßest du, indem du der Ansicht seiest, dein ganzes Glück sei nur in dir begründet, und die menschlichen Zufälle der Tugend untergeordnet. Daher fragen sie mich, ich glaube auch unseren Scävola hier, auf welche Weise du den Tod des Africanus ertragest, und zwar um so mehr, weil du an den letzten Nonen 32, wo wir zur Berathung, wie gewöhnlich, in die Gärten des Augurs Decimus Brutus 33 gekommen waren, nicht zugegen warst, da du doch sonst diesen Tag und dieses Geschäft immer mit der größten Gewissenhaftigkeit zu beobachten pflegtest.

Scävola.

8. Freilich fragen Viele, Gajus Lälius, wie Fannius erwähnte; aber ich antwortete das, was ich bemerkt habe: du ertrügest den Schmerz, den du durch den Tod des so großen und dir so befreundeten Mannes empfunden habest, mit weiser Mäßigung; du habest nicht ungerührt bleiben können; auch sei dieses deiner menschenfreundlichen Gesinnung nicht angemessen gewesen; daß du aber an den Nonen unserer Versammlung nicht beigewohnt habest, davon sei dein Befinden und nicht deine Wehmuth Ursache gewesen.

Lälius.

Ja, mein Scävola, du hast recht und der Wahrheit gemäß gesprochen. Denn so wenig ich mich von dieser Obliegenheit, die ich in gesunden Tagen immer erfüllte, durch ein eigenes Mißgeschick abhalten lassen durfte; ebenso wenig darf meines Erachtens überhaupt irgend ein Unfall für einen Mann von festen Grundsätzen Veranlassung werden eine Pflicht zu unterlassen.

9. Wenn du aber, mein Fannius, sagst, man erweise mir so viel Ehre, als ich weder anerkenne noch in Anspruch nehme; so ist dieß bloße Freundschaft von dir, aber dein Urtheil über Cato ist, wie mich dünkt, nicht richtig. Denn entweder war Niemand ein Weiser, – und dieß möchte ich eher glauben, – oder wenn irgend Einer, so war es dieser. Wie, um Anderes zu übergehen, ertrug er den Tod seines Sohnes 34! Ich erinnerte mich an Paullus 35, ich hatte den Gallus 36 gesehen; aber diese bei dem Tode von Kindern, den Cato bei dem Tode eines ausgebildeten und bewährten Mannes. 10. Darum ziehe dem Cato ja Niemanden vor, selbst nicht einmal den, welchen Apollo, wie du sagst, für den Weisesten erklärte. Denn an jenem rühmt man Thaten, an diesem nur Reden.

Was aber mich betrifft, damit ich nun zu euch beiden rede, so vernehmt Folgendes:

III. Wollte ich behaupten, die Sehnsucht nach Scipio rühre mich nicht; so mögen die Weisen 37 entscheiden, inwieweit ich daran recht thäte; jedenfalls würde ich eine Unwahrheit sagen. Ja, ich werde gerührt, indem ich mich eines Freundes beraubt sehe, wie es nach meiner Ueberzeugung nie mehr einen geben wird, und wie es – ich darf es behaupten – gewiß keinen gegeben hat. Aber ich bedarf keines Heilmittels, ich tröste mich selbst, und zwar hauptsächlich durch den Trost, daß ich von dem Irrthume frei bin, der sehr Viele beim Hinscheiden ihrer Freunde zu beängstigen pflegt. Schlimmes ist dem Scipio, glaub' ich, nicht widerfahren; mir widerfuhr es, wenn es Einem widerfuhr. Wegen eigener Unfälle aber sich sehr ängstigen zeugt nicht von Freundesliebe, sondern von Selbstliebe.

11. Wer möchte aber leugnen, daß es um ihn herrlich stehe? Denn wenn er sich nicht, was auf keine Weise seine Meinung war, ein unvergängliches Erdenleben wünschen wollte; hat er nicht Alles erlangt, was dem Menschen zu wünschen vergönnt ist? er, der die höchsten Erwartungen seiner Mitbürger, die sie von ihm schon in seinem Knabenalter hegten, sofort in seinem Jünglingsalter durch außerordentliche Tüchtigkeit übertraf 38; er, der, ohne sich jemals um das Consulat zu bewerben, zweimal Consul ward, das erste Mal vor der gesetzlichen Zeit 39, das zweite Mal für seine Person zu rechter Zeit 40, für den Staat beinahe zu spät 41; er, der durch Zerstörung zweier unserem Reiche so feindseligen Städte 42 nicht nur die gegenwärtigen, sondern auch die zukünftigen Kriege vernichtete. Was soll ich von seinem liebreichen Wesen sagen, von der zärtlichen Liebe gegen seine Mutter 43, von der Freigebigkeit gegen seine Schwestern 44, von der Herzensgüte gegen die Seinigen 45, von der Gerechtigkeit gegen Alle? Diese Eigenschaften sind euch bekannt. Wie theuer er aber seinen Mitbürgern war, das zeigte sich in der tiefen Betrübniß bei seinem Leichenbegängnisse. Was hätte ihm also der Zuwachs weniger Jahre 46 nützen können? Denn so wenig drückend auch das Greisenalter sein mag, – dieß entwickelte, wie ich mich erinnere, Cato im Jahr vor seinem Tode in meiner und Scipio's Gegenwart, – so raubt es uns doch die Jugendfrische, in der sich Scipio noch befand.

12. Was also sein Leben betrifft, so war es an Glück sowol als an Ruhm so reich, daß Nichts hinzu kommen konnte; das Gefühl des Sterbens aber benahm ihm die Schnelligkeit seines Todes. Ueber die Art seines Todes ist es schwer eine bestimmte Behauptung aufzustellen; was die Leute darüber erwähnen 47, wißt ihr. So viel läßt sich jedoch in Wahrheit behaupten, daß für den Publius Scipio unter den vielen gefeierten und freudigen Tagen, die er erlebte, der 48 Tag der glänzendste war, wo er nach Entlassung des Senates gegen Abend von den versammelten Vätern, von dem Römischen Volke 49, von den Bundesgenossen und den Latinern 50 nach Hause zurückbegleitet wurde, – es war der Tag vor seinem Hinscheiden aus diesem Leben, – so daß er von der so hohen Stufe der Würde zu den oberen Göttern vielmehr als in die Unterwelt gelangt zu sein scheint.

IV. 13. Ich stimme nämlich den Philosophen 51 nicht bei, die unlängst die Ansicht zu entwickeln anfingen, mit dem Körper gebe zugleich die Seele unter, und Alles werde durch den Tod vernichtet. Eine größere Geltung hat bei mir der Glaube der Alten, theils unserer Vorfahren, die den Verstorbenen so heilige Rechte ertheilten, was sie in der That nicht gethan hätten, wenn sie der Meinung gewesen wären, daß es keinen Einfluß auf sie habe 52; theils der Philosophen 53, die in unserem Lande lebten und Großgriechenland, das jetzt freilich vernichtet ist, damals aber in Blüte stand, theils des Mannes, der durch Apollo's Ausspruch 54 für den Weisesten erklärt wurde, der in diesem Punkte nicht, wie er sonst zu thun pflegte, heute dieses, morgen jenes 55, sondern immer dasselbe behauptete: »die Seelen der Menschen seien göttlichen Ursprunges, und ihnen stehe, wenn sie aus dem Körper herausgegangen seien, die Rückkehr in den Himmel offen, und diese sei für die Besten und Gerechtesten auch immer am Ungehindertsten« 56.

14. Ganz dieselbe Ansicht hierüber hatte auch Scipio 57, der ja, als ob er eine Ahnung gehabt hätte, nur sehr wenige Tage vor seinem Tode in Gegenwart des Philus 58 und Manilius 59 und noch mehrerer Anderer – und auch du, Scävola, warst mit mir hingekommen – drei Tage lang seine Ansichten über den Staat entwickelte, und der Schluß seiner Untersuchung bestand fast ausschließlich in dem, was er von der Unsterblichkeit der Seele während der Nachtruhe in einem Traumgesichte aus dem Munde des Africanus gehört zu haben versicherte.

Ist dem so, daß der Geist der Edelsten sich beim Tode aus dem Gewahrsam und den Banden des Körpers am Leichtesten emporschwingt, wem, meinen wir, könnte dieser Aufschwung zu den Göttern leichter gewesen sein als dem Scipio? Wollte man sich also über dieses sein Ende härmen, so dürfte dieß eher Neid als Freundschaft verrathen. Ist hingegen die andere Ansicht richtiger, daß die Vernichtung der Seele und des Körpers zugleich erfolge, und kein Bewußtsein übrig bleibe; so liegt zwar nichts Gutes in dem Tode, aber jedenfalls auch kein Uebel. Denn nach dem Verluste des Bewußtseins ist es ebenso gut, als ob Scipio gar nicht geboren worden wäre; doch daß er geboren ward, darüber freuen nicht nur wir uns, sondern auch unser Staat wird, so lange er besteht, deßhalb frohlocken.

15. Darum steht es um ihn, wie ich oben 60 sagte, herrlich, minder vortheilhaft um mich. Denn sowie ich später in's Leben eintrat, so hätte ich billiger Weise auch eher aus demselben scheiden müssen. Indeß gewährt mir das Andenken an unsere Freundschaft hohen Genuß, indem ich mein Leben glücklich schätze, weil ich mit Scipio lebte, mit dem ich die Sorge um öffentliche und häusliche Angelegenheiten theilte, mit dem ich ein gemeinsames Leben zu Hause und im Felde und, worin das wahre Wesen der Freundschaft liegt, die vollkommenste Uebereinstimmung der Vorsätze, Bestrebungen und Grundsätze hatte. Daher macht mir nicht sowol jener Ruf von Weisheit, dessen so eben 61 Fannius gedachte, zumal da er ungegründet ist, Freude, als vielmehr die Hoffnung, daß das Andenken an unsere Freundschaft ewig dauern werde. Und dieser Gedanke ist mir um so mehr eine Herzenssache, weil im Laufe aller Jahrhunderte kaum drei oder höchstens vier Paare ächter Freunde genannt werden, und ich wol hoffen darf, daß als eine Freundschaft dieser Art die des Lälius und Scipio zur Kenntniß der Nachwelt gelangen werde.

Fannius.

16. Das, mein Lälius, ist unausbleiblich. Doch da du einmal der Freundschaft gedacht hast, und wir Muße haben, so würdest du mir – ich hoffe, auch dem Scävola – einen großen Gefallen erweisen, wenn du uns, wie du bei anderen Fragen, die man dir vorlegt, zu thun pflegst, so auch deine Ansicht über die Freundschaft entwickeltest, ihr Wesen auseinandersetztest und Vorschriften über sie gäbest.

Scävola.

In der That auch mir, und als ich eben diese Bitte an dich richten wollte, kam mir Fannius zuvor. Deßhalb wirst du uns beiden einen sehr großen Gefallen erweisen.

Lälius.

V. 17. Ich würde wahrlich keine Umstände machen, wenn ich Selbstvertrauen genug besäße; denn einerseits ist der Gegenstand an sich vortrefflich, andererseits haben wir, wie Fannius bemerkte, Muße. Doch wer bin ich, und welche Geschicklichkeit besitze ich? Das ist die Gewohnheit der Philosophen von Fach, namentlich der Griechischen 62, daß man ihnen eine Frage vorlegt, über die sie selbst ohne alle Vorbereitung einen gelehrten Vortrag halten. Es ist ein schwieriges Geschäft und erfordert keine geringe Uebung. Darum rathe ich euch die wissenschaftliche Erörterung, die sich über die Freundschaft vortragen läßt, lieber bei Fachgelehrten zu suchen; ich kann euch nur auffordern der Freundschaft vor allen irdischen Gütern den Vorzug zu geben. Denn Nichts ist so naturgemäß, so unseren Verhältnissen im Glücke und im Unglücke angemessen.

18. Aber zunächst bin ich der Ansicht, daß nur unter Guten Freundschaft bestehen könne; doch nehme ich es damit nicht in so strengem Sinne, wie die Philosophen, die dergleichen Fragen mit größerer Schärfe der Dialektik behandeln 63, vielleicht richtig, aber zu wenig mit Rücksicht auf das Bedürfniß des gewöhnlichen Lebens. Sie behaupten nämlich, kein Mensch sei gut außer dem Weisen. Dem sei immerhin so; aber das, was sie unter Weisheit verstehen, hat bis jetzt noch kein Sterblicher zu erreichen gewußt. Wir hingegen müssen uns an das halten, was in der Erfahrung und im gewöhnlichen Leben begründet ist, und nicht an Gedankenbilder oder fromme Wünsche. Nie werde ich behaupten, Gajus Fabricius 64, Manius Curius und Tiberius Corucanius 65, die unsere Altvordern für weise Männer erklärten, seien nach dem Maßstabe dieser Philosophen Weise gewesen. Darum mögen sie diesen mißfälligen 66 und unverständlichen Namen der Weisheit für sich behalten, wohl aber gestatten, daß die Genannten gute Männer waren. Aber sie werden auch dieses nicht thun, sie werden behaupten, das könne nur dem Weisen zugestanden werden.

19. Laßt uns also mit schlichtem Hausverstande 67 verfahren. Die Männer, die in ihrem Benehmen im ganzen Leben Treue, Rechtschaffenheit, Billigkeit und Edelmuth bewähren und frei von aller Leidenschaft, Zügellosigkeit oder Frechheit sind, vielmehr große Standhaftigkeit besitzen, wie die so eben Genannten, diese wollen wir des Namens guter Männer, wofür sie gehalten worden sind, für würdig halten, weil sie, so viel es menschliche Kräfte erlauben, der Natur, der besten Führerin zu einem tugendhaften Leben, folgen.

Mit der Bestimmung nämlich – das glaube ich deutlich einzusehen – sind wir geboren, daß zwischen uns allen eine gesellschaftliche Verbindung bestehe, und zwar eine um so innigere, je näher uns Jemand angeht 68. Darum sind uns unsere Mitbürger wichtiger als Ausländer, Verwandte wichtiger als Fremde; denn mit jenen hat die Natur selbst Freundschaft gestiftet, aber sie hat nicht genug Festigkeit. Darin nämlich hat die Freundschaft einen Vorzug vor der Verwandtschaft, daß das Wohlwollen aus der Verwandtschaft hinweggenommen werden kann, aus der Freundschaft aber nicht. Denn durch Wegnahme des Wohlwollens wird auch der Name der Freundschaft hinweggenommen, der der Verwandtschaft aber bleibt.

20. Wie groß aber die Bedeutung der Freundschaft sei, läßt sich besonders daraus erkennen, daß aus der unbegränzten gesellschaftlichen Verbindung des Menschengeschlechts, die schon die Natur gestiftet hat, dieses Verhältniß sich so eng zusammenzieht und beschränkt, daß sich das ganze Band der Liebe nur um zwei oder wenige Personen schlingt.

VI. Die Freundschaft ist nämlich nichts Anderes als die vollkommenste Uebereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen, verbunden mit Wohlwollen und Liebe, und es dürfte vielleicht mit Ausnahme der Weisheit dem Menschen nichts Besseres von den unsterblichen Göttern gegeben sein als sie. Einige ziehen Reichthümer vor, Andere Gesundheit, Andere Macht, Andere Ehrenämter, Viele sogar Sinnenlust. Dieses Letztere freilich kommt nur unvernünftigen Thieren zu; jene ersteren Güter aber sind hinfällig und unzuverlässig und beruhen nicht sowol auf unseren Entschließungen als auf der Laune des Glückes. Wer aber das höchste Gut in die Tugend setzt 69, hat allerdings eine erhabene Ansicht; allein eben diese Tugend ist es, welche die Freundschaft erzeugt und erhält, und ohne Tugend kann die Freundschaft auf keine Weise bestehen.

21. Nun wollen wir den Begriff der Tugend nach dem Herkommen unseres Lebens und unserem Sprachgebrauche nehmen, ohne an denselben in der Weise gewisser Philosophen 70 den Maßstab hochtrabender Redensarten zu legen, und wollen daher als gute Männer die gelten lassen, die man dafür hält, einen Paullus 71, Cato 72, Gallus 73, Scipio 74, Philus 75. Mit solchen Männern begnügt sich das gewöhnliche Leben; andere hingegen, die sich überhaupt nirgends ausfindig machen lassen, wollen wir übergehen.

22. Unter solchen Männern also gewährt die Freundschaft so viel Vortheile, als ich kaum auszusprechen vermag. Zuvörderst, wie kann das Leben lebenswerth 76 sein, um mit Ennius zu reden, das nicht im gegenseitigen Wohlwollen des Freundes Ruhe und Erquickung findet? Was ist süßer als einen Freund zu haben, mit dem man Alles so reden darf wie mit sich selbst? Welcher Genuß würde in glücklichen Tagen so groß sein, wenn wir nicht einen Freund hätten, der sich ebenso darüber freute als wir selbst 77? Mißgeschick aber zu ertragen würde schwer halten ohne einen Freund, der es noch tiefer empfände als wir. Endlich sind die übrigen Güter, welche Gegenstände unseres Strebens sind, fast nur einzelnen Zwecken dienlich: Reichthum zur Benutzung; Macht, um Achtung zu erlangen; Ehrenämter, um zur Anerkennung zu gelangen; sinnliche Genüsse, um sich zu vergnügen; Gesundheit, um sich frei von Schmerz zu fühlen und die körperlichen Verrichtungen zu besorgen. Die Freundschaft hingegen verbreitet sich über die meisten Lebensverhältnisse. Wohin man sich nur wenden mag, da steht sie zu Diensten, von keinem Orte ist sie ausgeschlossen, niemals ist sie ungelegen, niemals lästig. Daher haben wir nicht das Wasser, nicht das Feuer, wie man sagt, in mehr Fällen nöthig als die Freundschaft. Doch ich rede jetzt nicht von der Freundschaft der großen Menge oder der des Mittelschlages, die gleichwol auch Freude und Vortheile gewährt, sondern von der ächten und vollkommenen, wie sie nur bei Wenigen war, die einen geschichtlichen Namen haben. Denn eine solche Freundschaft läßt einerseits unser Glück in schönerem Lichte erscheinen, andererseits erleichtert sie das widrige Geschick durch Theilnahme und Mitgefühl.

VII. 23. Sehr viele und sehr große Vortheile umfaßt die Freundschaft in sich; der vorzüglichste aber besteht unstreitig darin, daß sie uns für die Zukunft vorleuchtend freudige Hoffnung gewährt und den Muth nicht erschlaffen oder sinken läßt. Wer nämlich auf einen ächten Freund hinschaut, schaut gleichsam auf das Abbild seines eigenen Ichs 78. Darum sind Abwesende anwesend, Dürftige reich, Schwache stark und, was noch auffälliger klingt, Todte lebendig. So groß ist die Ehre, das Andenken und die Sehnsucht der Freunde, die sie begleitet. Aus diesem Grunde erscheint mir der Tod der Einen glückselig, das Leben der Anderen preiswürdig.

Nimmt man aber das Band des Wohlwollens aus der Welt heraus, so wird weder ein Haus noch eine Stadt bestehen können, nicht einmal der Ackerbau wird fortdauern. Begreift man dieß nicht hinreichend, so läßt sich aus den verschiedenen Arten von Uneinigkeit und Zwietracht deutlich erkennen, wie groß die Macht der Freundschaft und der Eintracht ist. Denn wo ist ein Haus so dauerhaft gegründet, wo steht eine bürgerliche Gemeinde so fest, daß sie nicht durch Haß und Zerwürfniß von Grund aus zerstört werden könnte? Hieraus kann man urtheilen, wie viel Gutes in der Freundschaft liegt.

24. Ein gelehrter Mann aus Agrigent 79 soll in Griechischen Gedichten gesungen haben: »Was in der Natur und in der ganzen Welt fest stehe, und was sich bewege, das verknüpfe die Freundschaft und trenne die Zwietracht«. Und das ist Etwas, was alle Sterblichen sowol begreifen als auch durch die That als wahr anerkennen. Zeigt sich daher einmal ein Beispiel von Diensteifer eines Freundes, indem er Gefahren übernimmt oder theilt; wer erhebt dieß nicht mit den größten Lobsprüchen? Welches Beifallsgeschrei erscholl neulich im ganzen Schauspielhause bei dem neuen Stücke meines Gastgenossen und Freundes Marcus Pacuvius 80 bei dem Auftritte, wo der König nicht wußte, welcher von Beiden Orestes sei, und Pylades sich für Orestes ausgab, um sich für ihn hinrichten zu lassen; Orestes aber, wie er es auch wirklich war, bei der Versicherung verharrte, er sei Orestes! Man erhob sich und klatschte Beifall, obwol es nur eine Dichtung war; was, meinen wir, würde man wol bei einem Falle aus der Wirklichkeit gethan haben? Unwillkürlich äußerte hier das natürliche Gefühl seine Stärke, indem die Leute eine That, die sie selbst zu vollbringen sich zu schwach fühlten, doch an einem Anderen schön fanden.

So weit glaubte ich meine Absichten über die Freundschaft aussprechen zu können; gibt es sonst noch einige Punkte, – und ich glaube, es gibt deren noch viele, – so sucht, wenn's beliebt, bei den Leuten Belehrung, die solche Gegenstände berufsmäßig zum Gegenstande ihrer gelehrten Untersuchungen machen.

Fannius.

25. Wir möchten es aber lieber von dir hören, wiewol ich oft auch bei jenen Belehrung gesucht und ihre Ansichten gehört habe, und zwar nicht ungern; aber deine Behandlungsart ist eine ganz andere.

Scävola.

Mit noch vollerem Rechte würdest du dieses sagen, wenn du neulich in den Gärten des Scipio zugegen gewesen wärest 81, als über den Staat gesprochen wurde. Wie trat er damals als Vertheidiger der Gerechtigkeit gegen den gründlichen Vortrag des Philus auf!

Fannius.

Für einen so gerechten Mann war es freilich eine leichte Aufgabe die Gerechtigkeit zu vertheidigen.

Scävola.

Wie? Die Freundschaft zu vertheidigen, ist das nicht leicht für einen Mann, der wegen der ausgezeichneten Treue, Standhaftigkeit und Gerechtigkeit, mit der er dieselbe bewahrte, den größten Ruhm geärntet hat?

Lälius.

VIII. 26. Das heißt ja Einem Gewalt anthun. Was verschlägt es denn, wie ihr mich zwingt? zwingen thut ihr mich gewiß. Denn den Wünschen seiner Schwiegersöhne, zumal in einer guten Sache, entgegenzutreten ist schwer und nicht einmal billig.

Je öfter ich nun über die Freundschaft nachdenke, desto mehr scheint mir die Frage der Betrachtung werth, ob das Gefühl der Schwäche und Hülfsbedürftigkeit 82 das Verlangen nach Freundschaft erweckt habe, um durch gegenseitige Dienstleistungen das von einem Anderen zu erhalten, was man für seine Person allein nicht vermag, und es hinwiederum durch einen Gegendienst zu vergelten; oder ob vielmehr dieß zwar ein wesentliches Merkmal der Freundschaft sei, aber ein anderer Grund vorhanden sei, der älter und schöner ist und mehr in der unmittelbaren Natur seine Quelle hat 83.

Die Liebe nämlich, woher das Wort Freundesliebe kommt, das bei uns so viel als Freundschaft bedeutet 84, ist die erste Veranlassung zur Begründung gegenseitigen Wohlwollens. Denn äußere Vortheile genießt man auch oft von Solchen, welche man unter dem Scheine der Freundschaft besonderer Umstände wegen ehrt und achtet; in der Freundschaft hingegen gibt es keine Lüge, keine Verstellung, sondern Alles, was in ihr ist, ist Wahrheit und freier Wille. 27. Darum scheint mir der Ursprung der Freundschaft in einem Naturtriebe vielmehr zu liegen als in dem Bedürfnisse und mehr in der mit einem gewissen Gefühle der Liebe verbundenen Anschmiegung des Gemüthes als in der Erwägung, wie viel Vortheil sie bringen werde.

Was es mit diesem Triebe für eine Bewandtniß habe, kann man auch an einigen Thieren 85 bemerken, die ihre Jungen bis zu einem gewissen Zeitpunkte so lieben und so von ihnen wiedergeliebt werden, daß ihr Gefühl leicht in die Augen fällt. Und dieß tritt bei dem Menschen noch weit sichtbarer hervor: erstens in der zärtlichen Liebe zwischen Kindern und Aeltern 86, deren Band nur durch einen verabscheuungswürdigen Frevel zerrissen werden kann; sodann in dem Erwachen eines ähnlichen Gefühles von Liebe, sobald wir einen Menschen gefunden haben, mit dessen Charakter und Wesen wir übereinstimmen, insofern wir in ihm gleichsam ein leuchtendes Vorbild der Rechtschaffenheit und Tugend zu erblicken glauben. 28. Denn es gibt nichts Liebenswürdigeres als die Tugend, Nichts, was mehr zur Hochachtung anlockt, da wir ja um der Tugend und Rechtschaffenheit willen sogar Menschen, die wir nie sahen, auf irgend eine Weise unsere Hochachtung schenken.

Wer konnte zum Beispiel des Gajus Fabricius, des Manius Curius 87 ohne das Gefühl wohlwollender Achtung gedenken, obwol er sie nie sah? Wer hingegen sollte den Tarquinius Superbus, wer den Spurius Cassius 88, den Spurius Mälius 89 nicht hassen? Mit zwei Heerführern wurde in Italien um die Oberherrschaft gestritten, mit Pyrrhus und Hannibal. Dem Ersteren sind unsere Herzen wegen seines Biedersinnes nicht eben abhold; den Letzteren wird wegen seiner Grausamkeit unser Staat ewig hassen 90.

IX. 29. Wenn nun die Wirkung der Rechtschaffenheit so groß ist, daß wir sie sogar an Personen, die wir nie sahen, oder, was noch mehr sagen will, selbst am Feinde hochschätzen; was Wunder, wenn auf die Gemüther der Menschen die deutliche Wahrnehmung der Tugend und Herzensgüte Anderer, mit denen sie durch Umgang verbunden sein können, einen Eindruck macht. Freilich wird das Gefühl der Liebe durch Wohlthaten, die man empfängt, durch die persönliche Zuneigung, die man wahrnimmt, und durch die Gewohnheit des Umganges, der hinzukommt, befestigt, und wenn sich diese Umstände zu jener ersten Regung des Gemüths und der Liebe gesellen, so erglüht das Wohlwollen zu einer bewunderungswürdigen Stärke. Wenn aber Einige der Ansicht sind, dieß gehe von dem Gefühle der Schwäche aus, um in dem Freunde ein Mittel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse zu erhalten; so lassen sie der Freundschaft wahrlich einen niedrigen und, ich möchte sagen, durchaus nicht adligen 91 Ursprung, indem sie dieselbe aus dem Mangel und der Hülfsbedürftigkeit erzeugt wissen wollen. Wäre dem so, so würde Jeder, je weniger Kraft er in sich selbst zu finden meint, um so empfänglicher für die Freundschaft sein. Das verhält sich aber ganz anders. 30. Denn je mehr Einer Selbstvertrauen besitzt, und je mehr er mit Tugend und Weisheit gewaffnet ist und deßhalb keines Anderen bedarf, sondern alles Seinige in sich selbst zu haben glaubt, desto mehr zeichnet er sich durch das Verlangen nach Freundschaft und durch Erfüllung ihrer Pflichten aus 92. Denn was meint ihr? War Africanus meiner bedürftig? Wahrlich nicht! und auch ich seiner nicht; aber ich gewann ihn wegen einer gewissen Bewunderung seiner Tugend lieb; er mich hinwiederum vielleicht wegen einer nicht ganz ungünstigen Meinung, die er von meinem Charakter hegte, und das Wohlwollen erhöhte der Umgang. Allein obwol viele und große Vortheile die unmittelbare Folge davon waren, so gingen doch die Beweggründe unserer Liebe nicht von der Aussicht auf dieselben aus. 31. Wie wir nämlich wohlthätig und freigebig sind, nicht um Dank dafür einzufordern, – wir treiben ja mit unseren Wohlthaten keinen Wucher, – sondern weil wir von Natur zur Freigebigkeit geneigt sind; ebenso halten wir auch die Freundschaft nicht in der Aussicht auf Belohnung für wünschenswerth, sondern weil ihr ganzer Genuß in der Liebe selbst liegt.

32. Aber diejenigen, welche nach Art der Thiere Alles auf die Sinnenlust beziehen 93, sind ganz anderer Ansicht, und es ist kein Wunder. Denn zu nichts Hohem, zu nichts Großartigem und Göttlichem können die ihren Blick erheben, die alle ihre Gedanken auf einen so niedrigen und so verächtlichen Gegenstand werfen. Darum wollen wir diese von unsrem Gespräche ausschließen; wir selbst aber wollen es uns zum Bewußtsein bringen, daß die Natur das Gefühl der Liebe und das innige Wohlwollen hervorbringe, sobald sich ein Zeichen von Rechtschaffenheit kund gibt. Denn wer auf diese sein Verlangen richtet, schmiegt sich an sie und drängt sich näher an sie an, um von dem Umgange dessen, den er lieb gewonnen hat, und von dessen persönlichem Wesen Genuß zu haben. Und sie sind in der Liebe gleich stark und besitzen die nämlichen Eigenschaften und sind geneigter Wohlthaten zu erweisen als zurückzufordern, und dieß wird zwischen ihnen Gegenstand eines edlen Wettstreites 94.

So wird man einerseits die größten Vortheile aus der Freundschaft gewinnen, andererseits wird ihr Ursprung aus der Natur würdiger und wahrer sein, als der aus dem Gefühle der Schwäche. Denn wenn der Vortheil das Band der Freundschaft knüpfte, so würde eine Veränderung in ihm dasselbe auch wieder auflösen 95 . Weil nun aber die Natur unwandelbar ist, darum sind auch wahre Freundschaften ewig.

Den Ursprung der Freundschaft seht ihr nun; es müßte denn sein, daß ihr etwas dagegen einwenden wolltet.

Fannius.

O nein. Fahre nur fort, mein Lälius; denn für diesen, der jünger ist, antworte ich nach dem mir zukommenden Rechte.

Scävola.

Du hast recht. So laßt uns denn weiter hören.

Lälius.

X. 33. So hört denn, meine edlen Freunde, was so oft zwischen mir und Scipio über die Freundschaft gesprochen wurde.

»Allerdings behauptete er, Nichts sei schwieriger, als daß die Freundschaft bis zum letzten Tage des Lebens fortbestehe. Denn oft trete der Fall ein, daß entweder Beide in einer Sache nicht zugleich ihren Vortheil fänden, oder daß sie hinsichtlich des Staates nicht gleiche Ansichten hätten; auch, sagte er, ändere sich oft der Charakter der Menschen, bald durch widrige Ereignisse, bald in Folge des vorrückenden Alters 96. Den Beweis dafür nahm er von dem ähnlichen Falle, der sich beim Beginne der Jugend zeige, daß nämlich oft die innigste Liebe der Knaben zugleich mit dem Kinderkleide 97 abgelegt werde. 34. Hätten sie aber dieselbe bis zum Jünglingsalter fortgesetzt, so werde sie doch bisweilen durch Streit, bald wegen eines Heirathsantrages, bald überhaupt wegen irgend eines Vortheiles, den Beide nicht zugleich erlangen könnten, getrennt. Wenn aber auch Manche ihre Freundschaft noch länger fortgesetzt hätten, so werde sie doch oft erschüttert, wenn sie wegen eines Ehrenamtes in Wettstreit geriethen. Denn es gebe kein größeres Verderben für die Freundschaft, als bei der Mehrzahl die Geldgier, bei den Edelsten aber der Streit um Ehre und Ruhm. Und dieß sei oft unter den besten Freunden die Quelle der bittersten Feindschaften.«

[35] »Auch erzeugten sich große und meistentheils gerechte Zerwürfnisse, wenn man Freunden Etwas zumuthe, was nicht recht sei, zum Beispiel daß sie entweder Diener der Sinnlichkeit oder Gehülfen einer Ungerechtigkeit sein sollen. Denn die, welche dieß verweigerten, so edel sie auch hierin handelten, würden doch von denen, welchen sie nicht willfahren wollten, beschuldigt das Recht der Freundschaft zu verletzen, während die, welche alle möglichen Zumuthungen dem Freunde zu machen sich erdreisteten, schon durch ihre Zumuthung zu erkennen gäben, daß sie um des Freundes willen Alles thun würden. Solche Beschwerden seien gewöhnlich der Grund, daß nicht nur fest gewurzelte Freundschaften erlöschen, sondern auch der Same zu ewigem Hasse gestreut werde.«

»Diese so viele Gefahren schwebten wie Verhängnisse über den Freundschaften. Um daher allen diesen zu entgehen, dazu scheine ihm nicht nur Weisheit, sondern auch Glück erforderlich zu sein.«

XI. 36. Darum laßt uns, wenn's beliebt, zunächst sehen, wie weit die Liebe in der Freundschaft gehen darf. Wenn Coriolanus 98 Freunde hatte, durften diese mit Coriolanus die Waffen gegen das Vaterland tragen? Durften den Viscellinus, als er nach dem Königthume strebte, oder den Spurius Mälius 99 seine Freunde unterstützen? 37. Von Tiberius Gracchus 100 wenigstens sehen wir, wie ihn, als er den Staat beunruhigte, Quintus Tubero 101 und seine gleichalterigen Freunde gänzlich verließen. Aber als Gajus Blossius 102 aus Cumä, der Gastfreund eueres Hauses, Scävola, zu mir in's Haus kam, weil ich gewöhnlich mit den Consuln Länas und Rupilius zu Rathe saß, um sich zu entschuldigen; so führte er als Grund ihm zu verzeihen an, er habe gegen Tiberius Gracchus eine so hohe Achtung gehabt, daß er es für seine Pflicht gehalten habe jeden Wunsch desselben zu. erfüllen. Da entgegnete ich: »Auch, wenn er verlangt hätte, du solltest das Capitolium in Brand stecken?« »Nie,« erwiderte er, »würde er so Etwas gewünscht haben; allein hätte er es gewünscht, so würde ich gehorcht haben«. Ihr seht, welch ein verruchtes Wort dieß war. Und wahrlich, er that auch so, ja noch mehr, als er sagte. Denn er gehorchte nicht nur dem verwegenen Sinne des Tiberius Gracchus, nein, er leitete ihn und bot sich nicht zum Genossen seines tollen Wesens, sondern zum Führer an. In diesem Wahnsinne floh er daher, durch eine neue Untersuchung geschreckt, nach Asien, begab sich zu den Feinden und büßte für sein Vergehen am Staate mit schwerer, aber gerechter Strafe.

Richtig ist also die Entschuldigung eines Vergehens, wenn man sich dem Freunde zu Gefallen vergangen hat. Denn da die Voraussetzung der Tugend Stifterin der Freundschaft ist, so kann schwerlich die Freundschaft fortbestehen, wenn man der Tugend abtrünnig wird.

38. Erklären wir es nun für recht den Freunden einerseits alle ihre Wünsche zu gewähren, andererseits die Gewährung aller unserer Wünsche zu erlangen, so würde die Sache, wenn wir eine vollkommene Weisheit besäßen, nichts Fehlerhaftes haben. Allein wir reden von solchen Freunden, wie wir sie vor unseren Augen haben, die wir gesehen haben, oder von denen uns die Geschichte erzählt, das heißt Freunde, wie sie das gewöhnliche Leben kennt. Aus der Zahl dieser Männer müssen wir die Beispiele nehmen, und zwar hauptsächlich von denjenigen, welche sich der vollkommenen Weisheit am Meisten nähern.

39. Wir wissen zum Beispiel, daß Papus Aemilius ein Busenfreund des Gajus Luscinus 103 war, – so haben wir es von unseren Vätern überkommen, – daß beide zweimal zusammen Consuln und Amtsgenossen in der Censur waren. Sodann berichtet uns die Geschichte, daß Manius Curius und Tiberius Coruncanius 104 sowol mit diesen als unter sich in der engsten Verbindung lebten. Von keinem dieser Männer können wir also auch nur argwöhnen, daß er in seinen Freund mit einer Forderung gedrungen sei, die gegen die Pflicht, gegen den Eidschwur oder gegen das Staatswohl gewesen wäre. Denn was bedarf es bei solchen Männern der Versicherung, daß, wenn Einer eine solche Forderung gemacht hätte, er sie nicht würde erlangt haben, da es Männer von der reinsten Gesinnung waren, und es gleich unerlaubt ist eine solche Bitte zu gewähren als sie an einen Anderen zu richten. Aber dennoch hielten es mit Tiberius Gracchus ein Gajus Carbo 105, ein Gajus Cato 106 und sein Bruder Gajus 107, der letzte damals zwar nur in sehr geringem Grade, jetzt aber als der heftigste Anhänger.

XII. 40. Das muß also in der Freundschaft als unverbrüchliches Gesetz festgestellt werden, daß man weder um etwas Unsittliches bitte, noch, wenn man darum gebeten wird, es thue. Denn schimpflich und ganz unstatthaft ist die Entschuldigung sowol bei allen anderen Vergehen als insbesondere gegen den Staat, wenn man um des Freundes willen gehandelt zu haben erklärt. Wir sind nämlich, Fannius und Scävola, auf einen Standpunkt gestellt, wo es unsere Pflicht erheischt auf die künftigen Schicksale des Staates weit hinauszuschauen. Denn das Herkommen unserer Altvordern ist schon ein wenig von seiner Bahn und seinem Geleise gewichen.

41. Tiberius Gracchus versuchte es sich der Alleinherrschaft zu bemächtigen oder war vielmehr wirklich wenige Monate Alleinherrscher 108. Hatte das Römische Volk etwas Aehnliches gehört oder gesehen? Was die Freunde und Verwandten, die diesem auch nach seinem Tode anhingen, gegen Publius Scipio 109 in's Werk zu setzen wußten, vermag ich nicht ohne Thränen zu sagen. Den Carbo nämlich mußten wir wegen der noch in frischem Andenken stehenden Bestrafung des Tiberius Gracchus, wie es nur immer möglich war, dulden. Was ich aber vom Tribunate des Gajus Gracchus erwarte 110, mag ich nicht weissagen.

Sodann greift ein Uebel um sich, das sich, sobald es einmal begonnen hat, nur allzu rasch zum Verderben hinneigt. Ihr seht ja, welch großes Unheil schon früher in dem Tafelgesetze 111 gestiftet worden ist, zuerst durch den Gabinischen, zwei Jahre später durch den Cassischen Gesetzvorschlag. Es dünkt mich, als sähe ich schon das Volk vom Senate getrennt, und daß nach der Willkür der Menge die wichtigsten Angelegenheiten zur Entscheidung gebracht werden 112. Denn mehr Menschen werden lernen, wie man dergleichen Dinge anzufangen, als wie man ihnen Widerstand zu leisten habe.

42. Wozu sage ich dieß? Weil Niemand ohne Gehülfen Etwas der Art versucht. Man muß also den Gutgesinnten die Vorschrift geben, wenn sie ohne ihr Wissen durch irgend einen Zufall in solche Freundschaften hineingerathen, sich nicht für so gebunden zu halten, als dürften sie sich von ihren Freunden, die sich eines großen Verbrechens gegen den Staat schuldig machen, nicht trennen. Ueber die Böswilligen aber ist eine Strafe zu verhängen, und zwar eine nicht geringere über diejenigen, welche einem Anderen folgen, als über die, welche selbst Anführer des Frevels sind. Wer war berühmter in Griechenland als Themistokles? wer vernünftiger? Aber nachdem er als Oberbefehlshaber Griechenland im Persischen Kriege von der Knechtschaft befreit hatte und in Folge von Mißgunst in die Verbannung getrieben war, so ertrug er die Kränkung seines undankbaren Vaterlandes nicht, die er hätte ertragen sollen; er that dasselbe, was zwanzig Jahre früher bei uns Coriolanus gethan hatte. Allein es fand sich für sie kein Gehülfe gegen das Vaterland, und so nahmen sich Beide das Leben 113.

43. Deßhalb darf ein solches Einverständniß der Bösgesinnten nicht mit dem Vorwande der Freundschaft bemäntelt, sondern vielmehr mit jeder Strafe geahndet werden, damit Niemand berechtigt zu sein meine einem Freunde selbst dann zu folgen, wenn er das Vaterland mit Krieg überzieht. Und dazu dürfte es vielleicht, wie die Sache sich zu entwickeln angefangen hat, einst auch wirklich kommen. Mir liegt es aber nicht minder am Herzen, wie die Lage des Staates nach meinem Tode sein wird, als wie sie jetzt ist.

XIII. 44. Dieß muß also als das erste Gesetz in der Freundschaft festgestellt werden: Wir dürfen von Freunden nur Sittlichgutes erbitten und um der Freunde willen nur Sittlichgutes thun, auch nicht erst warten, bis man darum gebeten wird. Diensteifer soll immer vorhanden, Zögerung immer fern sein, und besonders sollen wir Muth haben freimüthig Rath zu ertheilen. Die höchste Geltung in der Freundschaft muß das Ansehen wohlmeinender Freunde haben, und sowie man dasselbe nicht nur zu offenen, sondern auch nach Erforderniß der Umstände zu nachdrücklichen Ermahnungen benutzen muß, so muß man auch andererseits demselben Folge leisten.

45. Freilich haben einige Männer, die man, wie ich höre, in Griechenland für Weise hielt, meines Bedünkens manche wunderliche Behauptungen aufgestellt, – doch es gibt Nichts, was die Griechen nicht mit ihrem spitzfindigen Scharfsinn zu erklären suchten, – theils 114 müsse man zu innige Freundschaften meiden, damit nicht Einer für Mehrere besorgt zu sein nöthig habe; Jeder habe mit seinen eigenen Angelegenheiten für sich vollauf zu thun; sich in fremde allzu sehr zu verwickeln sei lästig; am Bequemsten sei es die Zügel der Freundschaft möglichst schlaff zu halten, um sie nach Belieben anziehen oder loslassen zu können; denn ein Haupterforderniß zu einem glücklichen Leben sei Gemüthsruhe, deren sich der Geist nicht erfreuen könne, wenn er, so zu sagen, für Mehrere Geburtsschmerzen 115

τὸ δ' υπὲρ δισσω̃ν μίαν ωδίνειν

ψυχὴν χαλεπὸν βάρος.

habe.

46. Andere 116 aber, sagt man, behaupten auf eine noch ungleich rohere Weise – diesen Punkt habe ich kurz zuvor 117 mit wenigen Worten berührt –: nur um des Schutzes und der Unterstützung, nicht aber des Wohlwollens und der Liebe willen seien Freundschaften begehrenswerth. Je weniger Stärke und je weniger Kräfte daher Einer besitze, desto mehr trachte er nach Freundschaften; demgemäß geschehe es, daß das schwache weibliche Geschlecht den Schutz der Freundschaft mehr suche als das männliche, Unbemittelte mehr als Bemittelte, Unglückliche mehr als Glückliche.

47. O, welch herrliche Weisheit! Wahrlich die Sonne scheinen die aus der Welt zu nehmen, welche die Freundschaft aus dem Leben nehmen, das beste und erfreulichste Geschenk, das wir von den unsterblichen Göttern haben. Wie sieht es nun mit dieser Gemüthsruhe aus? Dem Anscheine nach hat sie etwas Schmeichelndes, in der That aber ist sie aus vielen Gründen verwerflich. Denn es ist nicht vernunftgemäß eine sittlichgute Sache oder Handlung, um nur dem Kummer auszuweichen, entweder nicht zu übernehmen oder, wenn man sie unternommen hat, wieder fallen zu lassen. Wenn wir die Sorge fliehen, so müssen wir auch die Tugend fliehen. Denn diese muß nothwendiger Weise ihre Gegensätze mit einiger Sorge von sich weisen und hassen, wie die Gutmüthigkeit die Tücke, die Mäßigkeit die Wollust, die Tapferkeit die Feigheit. Demzufolge sieht man, daß Gerechte über Ungerechtes, Tapfere über Feigheit und Enthaltsame über Ausschweifungen den tiefsten Schmerz empfinden. Folglich gehört es wesentlich zu einem wohlgeordneten Gemüthe sich über Gutes zu freuen, wie über Entgegengesetztes sich zu betrüben.

48. Trifft demnach Seelenschmerz den Weisen – und er trifft ihn wirklich, wenn wir nicht glauben sollen, daß das menschliche Gefühl aus seinem Gemüthe ausgerottet sei, – was haben wir für einen Grund die Freundschaft gänzlich aus dem Leben hinwegzurücken, um sich ihretwegen keinen Beschwerlichkeiten zu unterziehen? Denn was ist nach Wegnahme aller Gemüthsbewegung für ein Unterschied, ich will nicht sagen, zwischen einem Thiere und einem Menschen, sondern zwischen einem Menschen und einem Klotze oder einem Steine oder jedem beliebigen Dinge dieser Art? Denn auf die Philosophen 118 darf man nicht hören, die behaupten, die Tugend sei etwas Hartes und, so zu sagen, Eisernes, sie ist vielmehr, wie in vielen anderen Beziehungen, so auch in der Freundschaft zart und schmiegsam, so daß man beim Glücke des Freundes sein Gemüth erweitert, wie beim Unglücke beengt fühlt. Darum hat die Angst, die man oft für einen Freund fühlen muß, nicht solches Gewicht, daß sie die Freundschaft aus dem Leben verbannen sollte, ebenso wenig, als man die Tugenden von sich weist, weil sie einige Sorgen und Beschwerden verursachen.

XIV. Da ferner, wie ich oben 119 bemerkte, Freundschaften geknüpft werden, wenn ein Merkzeichen der Tugend hervorleuchtet, an die sich das gleichartige Gemüth anschmiegen und anschließen kann; so muß in diesem Falle nothwendig Liebe entstehen. 49. Denn was ist so ungereimt als an vielen eitelen Dingen sich zu freuen, wie zum Beispiel an Ehre, an Ruhm. an einem Gebäude, an Kleidung und Schmuck des Körpers; an einem tugendhaften Gemüthe hingegen, an einem solchen, welches zu lieben und wiederzulieben fähig ist, keine sonderliche Freude zu haben? Nichts ist so erfreulich als Erwiderung des Wohlwollens, als Gegenseitigkeit der Neigungen und der Gefälligkeiten.

50. Wie? wenn wir noch das hinzufügen, was mit Recht hinzugefügt werden kann, daß es Nichts gibt, was so an sich lockt und anzieht, als die Aehnlichkeit des Charakters zu der Freundschaft; so wird man in der That das als Wahrheit zugeben, daß Gute Gute lieben und sich mit diesen, als wären sie durch natürliche Verwandtschaft mit ihnen verknüpft, verbinden. Nichts strebt ja eifriger nach dem ihm Gleichartigen, Nichts reißt dieß gewaltsamer an sich als die Natur. Darum, Fannius und Scävola, dürfte meines Erachtens das fest stehen, daß zwischen Guten gleichsam ein nothwendiges Wohlwollen obwalte, und das ist die Quelle der Freundschaft, die in der Natur begründet ist. Aber 120 dieses Gute erstreckt sich zugleich auch auf die Menge. Denn die Tugend ist nicht menschenfeindlich, nicht undienstfertig. nicht übermüthig, da sie ja ganze Völker zu schirmen und bestens für sie zu sorgen pflegt, was sie gewiß nicht thäte, wenn sie der allgemeinen Menschenliebe abhold wäre.

51. Auch scheinen mir die, welche sich um des Vortheiles willen Freundschaften denken, das liebenswürdigste Band der Freundschaft zu verachten. Denn nicht sowol der durch den Freund gewonnene Vortheil erfreut, als vielmehr die Liebe des Freundes selbst, und erst dann wird das, was vom Freunde ausgeht, erfreulich, wenn es in Verbindung mit persönlicher Neigung von ihm ausgeht. Und weit entfernt, daß die Freundschaften um der Hülfsbedürftigkeit willen unterhalten werden, sind vielmehr gerade die Menschen, welche vermöge ihrer Macht, ihrer Mittel und besonders vermöge ihrer Tugend, in der der meiste Schutz liegt, am Wenigsten eines Anderen bedürfen, die Freigebigsten und Wohlthätigsten. Und vielleicht wäre es nicht einmal gut, wenn den Freunden durchaus nie Etwas fehlte. Denn wo hätte sich meine persönliche Zuneigung in ihrer vollen Kraft zeigen können, wenn Scipio nie meines Rathes, nie meiner Hülfe, weder zu Hause noch im Felde, bedurft hätte? Die Freundschaft war also nicht Folge des Nutzens, sondern der Nutzen Folge der Freundschaft.

XV. 52. Nicht also darf man auf Menschen hören, die in lauter Vergnügungen zerfließen, wenn sie einmal über Freundschaft, die sie weder aus Erfahrung noch durch Nachdenken kennen gelernt haben, sprechen. Denn, bei der Treue der Götter und Menschen! wer möchte unter der Bedingung, daß er weder Jemanden liebe, noch selbst von Jemandem geliebt werde, von allen Gütern umströmt sein und im Ueberflusse aller Dinge leben? Das ist ja das Leben eines Gewaltherrschers, in dem keine Treue, keine Liebe, kein Vertrauen auf beständiges Wohlwollen stattfinden kann, wo immer Alles mißtrauisch und besorgt ist, und keine Stelle sich für die Freundschaft findet. 53. Denn wer sollte den lieben, den er fürchtet, oder den, von dem er sich gefürchtet glaubt? Geehrt werden sie wol, doch nur aus Verstellung auf einige Zeit 121 . Werden sie aber, wie es gemeiniglich der Fall ist, gestürzt; dann erkennt man, wie arm sie an Freunden waren. So soll zum Beispiel Tarquinius gesagt haben, erst in seiner Verbannung habe er eingesehen, an welchen er treue, an welchen er 54. Indeß nimmt es mich Wunder, wenn er bei solchem Uebermuthe und Ungestüme überhaupt irgend einen Freund haben konnte. Sowie die Denkungsart des genannten Mannes ihm keine wahren Freunde erwerben konnte, ebenso schließt das Vermögen vieler Uebermächtigen treue Freundschaften aus. Denn nicht allein ist das Glück selbst blind, sondern es macht auch gemeiniglich die blind, die es in seine Arme schließt. Daher lassen sich diese gemeiniglich von Hochmuth und Anmaßung hinreißen, und es kann nichts Unerträglicheres geben als ein unverständiges Glückskind.

Ferner kann man die Erfahrung machen, daß Menschen, welche früher ein gefälliges Benehmen zeigten, durch Befehlshaberstellen, Ehrenämter und glückliche Ereignisse umgewandelt werden, alte Freundschaften verschmähen und sich neuen hingeben.

55. Was 122 ist aber thörichter, als wenn man, durch Reichthum, Ueberfluß und Macht viel vermögend, sich zwar Alles anschafft, was man sich für Geld anschaffen kann: Pferde, Diener, herrliche Gewänder, kostbare Gefäße, Freunde hingegen, den besten und schönsten Hausrath des Lebens, wenn ich mich so ausdrücken darf, sich nicht erwirbt? Wenn man sich andere Güter anschafft, so weiß man nicht, für wen man sie anschafft, noch um wessen willen man sich abmüht. Denn jedes dieser Güter kann Jedem zu Theil werden, der durch seine Kräfte überlegen ist; der Besitz der Freundschaft aber bleibt Jedem dauerhaft und gesichert, und wenn auch jene Güter, die gleichsam Geschenke des Glückes sind, blieben, so könnte doch unser Leben, wenn es nicht durch Freunde verschönert, sondern von ihnen verlassen wäre, nicht erfreulich sein. Doch hiervon so viel.

XVI. 56. Wir müssen nun bestimmen, welches die Gränzen und, so zu sagen, die Marken der Liebe in der Freundschaft sind. Ueber diese sind, wie ich sehe, drei Ansichten aufgestellt, von denen ich keine billige.

Die eine lautet: Wir sollen gegen den Freund ebenso gesinnt sein, wie gegen uns selbst; die zweite: Unser Wohlwollen gegen die Freunde soll ihrem Wohlwollen gegen uns in gleichem Maße und in gleicher Weise entsprechen; die dritte: Wie hoch Jeder sich selbst schätzt, so hoch soll er von seinen Freunden geschätzt werden. – Keiner dieser Ansichten stimme ich völlig bei.

57. Die erste: » Jeder soll gegen seinen Freund wie gegen sich selbst gesinnt sein« ist unwahr. Denn wie Vieles, was wir unsertwegen nie thun würden, thun wir um der Freunde willen! einen Unwürdigen demüthig bitten, dann mit verletzenden Worten über Einen herfahren und ihm heftig zusetzen. Dergleichen in unseren eigenen Angelegenheiten zu thun ist nicht eben sehr ehrenhaft, in denen unserer Freunde hingegen vollkommen ehrenhaft. Und so gibt es viele Dinge, bei denen sich rechtschaffene Männer von ihren eigenen Vortheilen Vieles entziehen und entziehen lassen, damit es lieber ihre Freunde als sie selbst genießen.

58. Die zweite Ansicht ist die, welche die Freundschaft nach gleichen Dienstleistungen und Gesinnungen bestimmt. Das heißt doch wahrlich die Freundschaft gar zu dürftig und kümmerlich berechnen, wenn man das Verhältniß zwischen Einnahmen und Ausgaben gleich machen will. Reicher und ergiebiger ist meines Erachtens die wahre Freundschaft, und sie sieht nicht so genau darauf, daß sie nicht mehr ausgebe als einnehme. Denn man soll nicht besorgt sein, daß Etwas verloren gehe, oder daß Etwas auf die Erde fließe, oder daß der Freundschaft Etwas über Gebühr zugewendet werde.

59. Die dritte Gränzbestimmung vollends: »wie hoch Jeder sich selbst schätze, so hoch soll er von seinen Freunden geschätzt werden« steht am Niedrigsten. Denn oft ist bei manchen Menschen der Muth zu zaghaft, oder die Hoffnung auf Verbesserung der äußeren Lage zu kraftlos. Nicht darf also der Freund sich so gegen den Freund verhalten, sondern er muß vielmehr mit Anstrengung aller Kräfte es durchzusetzen suchen, daß er des Freundes gesunkenen Muth aufrichte und ihn auf bessere Hoffnungen und Gedanken bringe.

Wir müssen daher eine andere Gränze der wahren Freundschaft festsetzen, doch will ich zuerst kund thun, was Scipio am Meisten zu tadeln pflegte. Er behauptete, es lasse sich kein der Freundschaft feindlicherer Ausspruch denken, als die Aeußerung des Mannes, der gesagt habe, man müsse so lieben, als wenn man einmal hassen werde. Er könne sich auch nicht überzeugen, daß dieser Ausspruch, wie man meine, von Bias 123 herrühre, den man doch für einen der sieben Weisen gehalten habe; es sei vielmehr der Ausspruch eines unlauteren, entweder ehrsüchtigen oder Alles auf seine Macht beziehenden Menschen. Denn wie könne man wol Jemandem befreundet sein, dessen Feind zu werden er für möglich hält? Ja, er müßte sogar verlangen und wünschen, daß der Freund recht oft fehle, damit er ihm desto mehr Veranlassungen zum Tadeln gäbe, sowie er hinwiederum wegen der edlen Handlungen und wegen des Glückes seiner Freunde nothwendig Bekümmerniß, Verdruß und Neid empfinden müßte.

60. Daher ist diese Lehre fürwahr, von wem sie auch herrühren mag, geeignet die Freundschaft zu vernichten. Vielmehr hätte man die Lehre geben müssen, man solle bei Stiftung von Freundschaften eine solche Sorgfalt anwenden, daß man nie Einen zu lieben beginne, den man einmal hassen könne. Ja, wenn man sogar in seiner Wahl minder glücklich gewesen sei, so müsse man, meinte Scipio, dieses vielmehr ertragen, als an die Zeit eines feindlichen Verhältnisses denken.

XVII. 61. Man muß also meines Erachtens folgende Bestimmungen beobachten. Wenn der Charakter der Freunde fehlerfrei ist, so muß unter ihnen Gemeinschaft aller Angelegenheiten, Entwürfe und Wünsche ohne irgend eine Ausnahme stattfinden, so daß man sogar, wenn einmal der Fall einträte, daß minder gerechte Wünsche der Freunde unterstützt werden müßten, wobei ihr körperliches und bürgerliches Dasein oder ihr guter Ruf auf dem Spiele steht, die Bahn des Rechtes verlassen müßte, nur darf es nicht den höchsten Grad der Schande zur Folge haben 124. Denn bis zu einem gewissen Punkte kann man der Freundschaft Nachsicht gewähren. Doch ist hierbei einerseits der gute Ruf keineswegs zu vernachlässigen; andererseits darf man aber auch das Wohlwollen seiner Mitbürger als kein geringes Schutzmittel staatsmännischer Thätigkeit ansehen, das jedoch durch Schmeicheleien und Liebedienerei sich zu verschaffen schimpflich ist; die Tugend aber, welche Liebe zur Folge hat, darf durchaus nicht zurückgewiesen werden.

62. Doch – oft komme ich auf Scipio zurück, dessen ganzes Gespräch 125 von der Freundschaft handelte, – er beklagte sich 126, daß die Menschen bei allen Angelegenheiten größere Sorgfalt bewiesen: Jeder könne zum Beispiel angeben, wie viele Ziegen und Schafe er habe, aber wie viele Freunde er habe, könne er nicht angeben, und bei Anschaffung dieser Dinge wendeten sie Sorgfalt an, bei der Wahl der Freunde hingegen seien sie nachlässig und hätten keine bestimmten Merkmale, nach denen sie diejenigen, welche zur Freundschaft geeignet seien, beurtheilen könnten.

Man muß also Männer von festem, standhaftem und beständigem Charakter auswählen, an denen freilich großer Mangel ist, und ohne vorhergegangene Prüfung ist dieß allerdings schwer zu beurtheilen; die Prüfung läßt sich aber erst in der Freundschaft selbst anstellen. Auf diese Weise eilt die Freundschaft dem Urtheile vor und benimmt die Möglichkeit der Prüfung.

63. Die Klugheit also gebietet den ungestümen Drang des Wohlwollens wie einen raschen Lauf zu hemmen, um so von der Freundschaft 127 wie von geprüften Rossen Gebrauch zu machen, das beißt, nachdem man den Charakter der Freunde einigermaßen auf die Probe gestellt hat. An Einigen sieht man oft, wenn es sich um eine kleine Geldsumme handelt, wie leichtfertig sie sind; Andere aber, die eine kleine Geldsumme nicht rühren konnte, lernt man bei einer großen kennen. Finden sich aber wirklich Einige, die Geld der Freundschaft vorzuziehen für schmutzig halten; wo werden wir diejenigen finden, welche Ehrenämter, Staatswürden, Befehlshaberstellen, Staatsgewalten und Macht der Freundschaft nicht vorziehen, so daß sie, wenn man ihnen auf der einen Seite diese Güter, auf der anderen die Gerechtsame der Freundschaft vorlegte, nicht viel lieber jene vorzögen? Denn zu schwach ist unsere Natur, um die Macht zu verachten, und selbst wenn man zu dieser mit Vernachlässigung der Freundschaft gelangt ist, so glaubt man, es werde in Vergessenheit gerathen, weil man die Freundschaft nicht ohne wichtigen Grund vernachlässigt habe. 64. Daher findet man wahre Freundschaften sehr schwer unter Männern, die Ehrenämter bekleiden und sich den Staatsgeschäften widmen 128. Denn wo träfe man einen Mann, der die Ehre des Freundes der seinigen vorzöge?

Ferner, wie drückend, wie mißlich, um hiervon nicht weiter zu sprechen, erscheint den Meisten die Theilnahme an Unglücksfällen. Es ist nicht leicht Menschen zu finden, die sich dazu verstehen. Und doch sagt Ennius 129 mit Recht:

Unsicheres Glück läßt sehen uns den sicheren Freund 130

’Εν τοι̃ς κακοι̃ς γὰρ αγαθοι σαφέστατοι

Φίλοι.

.

Gleichwol werden die meisten Menschen in den beiden Fälle des Leichtsinns und der Schwäche überführt, entweder wenn sie den Freund in ihrem Glücke verachten oder wenn sie ihn in seinem Unglücke verlassen.

Wer sich also in beiden Fällen gesetzt, standhaft un beharrlich in der Freundschaft beweist, den müssen wir für einen hoch seltenen Menschen und, ich möchte sagen, für ein göttliches Wesen erklären.

[XVIII.] 65. Die Stütze dieser Beharrlichkeit und Standhaftigkeit aber die wir in der Freundschaft suchen, ist die Treue. 131 Denn Nichts ist beharrlich, was untreu ist. Außerdem muß man einen aufrichtigen, umgänglichen und gleichgesinnten Mann, das heißt einen solchen, auf welchen die nämlichen Gegenstände einen Eindruck machen, auswählen: lauter Eigenschaften, welche wesentliche Bestandtheile der Treue sind. Denn so wenig ein Gemüth voll Falten und Krümmungen treu sein kann, ebenso wenig kann der, auf den nicht die nämlichen Gegenstände einen Eindruck machen, und der nicht von Natur mit uns übereinstimmt, treu oder beharrlich sein. Dazu gehört auch noch, daß er keine Freude daran habe Beschuldigungen vorzubringen oder vorgebrachten Glauben zu schenken: was alles die Beständigkeit bedingt, mit deren Darstellung ich mich schon eine Weile beschäftige. So bestätigt sich die Wahrheit der zu Anfang 132 ausgesprochenen Behauptung: die Freundschaft könne nur unter Guten stattfinden. Es kommt nämlich einem guten Manne, den man auch einen Weisen nennen darf 133, zu folgende zwei Grundsätze in der Freundschaft festzuhalten: für's Erste, daß keine Verstellung und keine Heuchelei stattfinde; denn sogar offen hassen verräth mehr Edelmuth als seine Gesinnung unter erheuchelter Miene verbergen; sodann soll man nicht allein die von Jemandem vorgebrachten Beschuldigungen zurückweisen, sondern auch selbst nicht argwöhnisch sein, indem man immer glaubt, der Freund habe irgend eine Rücksicht gegen uns verletzt.

66. Dazu muß noch eine gewisse Anmuth in der Unterhaltung und in den Sitten hinzukommen 134 , eine keineswegs geringe Würze der Freundschaft. Ein finsteres und stäts ernstes Wesen aber ist allerdings mit einer gewissen Würde verbunden; doch muß die Freundschaft zwangloser, freier, liebreicher und zu jeder Freundlichkeit und Gefälligkeit geneigter sein.

Ich lese zwar nach der Muthmaßung Madvig's in Opusc. II. p. 284 sq.: veterrima quaeque . . esse debet suavissima, halte aber mit M. Seyffert die Lesart der Handschriften: veterrima quaeque . . esse debent suavissima für richtig. Streng genommen, hätte also übersetzt werden müssen: gerade das Aelteste, nämlich in den Freundschaften, was sich aus dem Vorhergehenden leicht ergänzen laßt. Der abstrakte Ausdruck veterrima quaeque als Neutrum bildet einen Gegensatz zu dem folgenden novitates, d. i. das Neue, nämlich in den Freundschaften. muß uns wie die Weine, welche Jahre zählen, auch die lieblichste sein, und wahr ist das Sprüchwort 135: »Man muß zuvor viele Scheffel Salz mit einander essen, bis die Aufgabe der Freundschaft erfüllt ist«. 68. Neue Freundschaften aber, wenn sie zu Hoffnungen berechtigen, indem sich wie bei nicht täuschenden Saaten die Frucht zu erkennen gibt, sind allerdings nicht zu verschmähen; doch muß man die alte Freundschaft in der ihr gebührenden Stelle erhalten. Denn sehr groß ist die Macht des Alters und der Gewohnheit. Ja selbst schon beim Pferde, dessen ich so eben erwähnte, sehen wir, daß, wenn sonst Nichts im Wege steht, Jeder lieber das gebrauchen will, an das er gewohnt ist, als ein ungeschultes und neues. Und nicht bloß bei lebendigen Wesen, sondern auch in der leblosen Natur behauptet die Gewohnheit ihre Geltung, da wir sogar an Gegenden, selbst bergigen und waldigen 136, Gefallen finden, wenn wir uns in denselben lange aufgehalten haben.

69. Aber höchst wichtig in der Freundschaft ist es, daß der Höhere sich dem Niedrigen gleich stellt 137, Denn es gibt oft hervorstechende Persönlichkeiten, wie die des Scipio in unserem Kreise war. Nie zog sich dieser dem Philus 138, nie dem Rupilius 139, nie dem Mummius 140, nie seinen Freunden niedrigen Ranges vor. Ja seinen Bruder Quintus Maximus 141, einen allerdings ausgezeichneten, aber ihm keineswegs gleichen Mann, ehrte er, weil er älter war, wie einen Höheren, und so wünschte er, daß seine Angehörigen durch ihn zu höherem Ansehen gelangten. Dieß sollten Alle thun und nachahmen. [70.] Wenn sie daher Vorzüge der Tugend, des Geistes und der äußeren Lage erlangt haben, so mögen sie diese den Ihrigen zu Gute kommen lassen und ihren nächsten Angehörigen mittheilen, so daß, wenn sie von niedrigen Aeltern abstammen, wenn sie Verwandte von schwächerem Geiste oder geringeren Glücksgütern haben, sie deren Vermögensumstände verbessern und ihnen zu Ehren und Ansehen verhelfen, wie wir dieß in den Schauspielen sehen, wo die, welche wegen der Unkenntniß ihres Namens und Geschlechtes einige Zeit lang in Dienstbarkeit lebten, aber selbst nach Entdeckung ihres Ursprunges von Göttern oder Königen dennoch ihrer Liebe gegen die Hirten treu bleiben, die sie viele Jahre für ihre Väter gehalten hatten 142. Und dieß muß man in ungleich höherem Grade bei wirklichen und rechtmäßigen Vätern thun. Denn dann genießt man von seiner Geisteskraft, Tugend und jedem Vorzuge die größten Früchte, wenn man sie denen zuwendet, die uns am Nächsten stehen.

XX. 71. Sowie also diejenigen, welche in dem engeren Verhältnisse der Freundschaft oder Verwandtschaft höher stehen, sich den Niedrigeren völlig gleichstellen müssen; ebenso dürfen sich auch die Niedrigeren nicht verletzt fühlen, wenn sie von den Ihrigen an Geisteskraft, Glück oder Würde übertroffen werden. Aber die Meisten von ihnen haben immer Klage zu führen oder wol gar Vorwürfe zu machen, und zwar um so mehr, wenn sie meinen Fälle anführen zu können, wo sie dienstfertig und freundschaftlich und zum Theil mit eigener Anstrengung gehandelt hatten: wahrlich eine verhaßte Gattung von Menschen, die Anderen ihre Dienstleistungen vorwerfen, deren nur der gedenken soll, dem sie erwiesen wurden, die aber nicht der erwähnen darf, der sie erwies.

72. Sowie sich also die höher Stehenden in der Freundschaft herablassen müssen, ebenso müssen sich die Niedrigeren gewissermaßen erheben. Denn Manche machen die Freundschaft dadurch lästig, daß sie sich zurückgesetzt meinen, was nicht leicht stattfindet, außer bei denen, die auch wirklich Zurücksetzung zu verdienen glauben. Diese muß man von einem solchen Wahne nicht bloß durch Worte, sondern auch durch die That befreien.

73. Man muß aber einem Jeden so Viel zutheilen, als man erstens selbst zu leisten vermag, sodann auch, so Viel der, den man liebt und unterstützt, zu ertragen vermag. Denn man kann nicht, so sehr man auch hervorragt, alle die Seinigen zu den höchsten Ehrenstellen befördern. So konnte Scipio dem Publius Rupilius 143 das Consulat verschaffen, aber dessen Bruder Lucius nicht. Und wäre man auch im Stande dem Anderen alles Mögliche zuzuwenden, so muß man doch sehen, was er zu ertragen vermag.

74. Ueberhaupt darf man über Freundschaften erst dann urtheilen, wenn die Geistesanlagen und das Alter die gehörige Stärke und Festigkeit erlangt haben, und wer zum Beispiel in der Jugend Liebhaber der Jagd oder des Ballspieles war, muß sich darum nicht an diejenigen gebunden glauben, die er damals wegen derselben Neigung liebte. – Nach diesem Maßstabe würden ja die Ammen und Kindererzieher 144 nach dem Rechte des Alters die nächsten Ansprüche auf unser Wohlwollen machen können. Allerdings sind diese nicht gering zu schätzen. Aber die Liebe zum Freunde muß doch anders beschaffen sein 145. – Im entgegengesetzten Falle 146 können Freundschaften auf die Dauer nicht bestehen. Denn Ungleichheit des Charakters hat auch ungleiche Neigungen zur Folge, deren Unähnlichkeit die Freundschaften trennt. Und aus keiner anderen Ursache können Gute den Bösen und Böse den Guten nicht befreundet sein, als weil zwischen ihnen der möglichst größte Abstand des Charakters und der Neigungen herrscht.

75. Mit Recht kann man auch bei Freundschaften die Vorschrift geben, daß nicht übertriebenes Wohlwollen – was sehr oft geschieht – wesentlichen Vortheilen der Freundschaft hinderlich sei. Denn sowie Neoptolemus 147 – um wieder zu den Schauspielen zurückzukehren – Troja nicht hätte einnehmen können, wenn er dem Lykomedes, bei dem er erzogen worden war, hätte Gehör schenken wollen, als er ihn unter vielen Thränen von seiner Abreise abzuhalten suchte. So treten oft wichtige Vorfälle ein, wo man sich von seinen Freunden trennen muß. Wer diese nun, weil er die Sehnsucht nach dem Freunde nicht leicht zu ertragen meint, hintertreiben will, der ist schwach und weichlich von Natur und gerade aus diesem Grunde zu wenig gerecht in der Freundschaft. Und so muß man bei jeder Angelegenheit erwägen, was man von dem Freunde fordern und was man seinen Forderungen gewähren darf.

XXI. 76. Es tritt bisweilen auch ein unvermeidliches Mißgeschick ein, daß man Freundschaften aufgeben muß. Schon gleitet nämlich unser Vortrag von den vertrauten Verbindungen der Weisen zu den gewöhnlichen Freundschaften herab. Es brechen oft Fehler an den Freunden bald gegen ihre eigenen Freunde hervor, deren Schimpf jedoch nicht auf die Freunde zurückfällt. Solche Freundschaften muß man durch allmähliche Verminderung des Umganges auflösen und nach Cato's Ausspruche mehr auftrennen als zerreißen; es müßte denn eine ganz unerträgliche Kränkung in volle Flamme ausgebrochen sein 148, so daß es weder vernünftig noch sittlich gut noch überhaupt möglich wäre nicht sogleich eine Entfremdung und Trennung eintreten zu lassen.

77. Ist aber eine Veränderung in dem Charakter und den Neigungen, wie es zu geschehen pflegt, erfolgt, oder unter den Parteien des Staates eine Mißhelligkeit eingetreten – ich rede nämlich jetzt, wie ich kurz zuvor bemerkte, nicht von den Freundschaften der Weisen, sondern von den gewöhnlichen – so muß man sich hüten, daß es nicht den Anschein gewinne, als habe man die Freundschaft nicht allein aufgegeben, sondern sogar Feindschaft begonnen. Denn Nichts ist schimpflicher als mit dem Krieg zu führen, mit dem man vertraut gelebt hat. Von der Freundschaft des Quintus Pompejus 149 hatte sich Scipio, wie ihr wißt, um meinetwillen zurückgezogen; wegen einer Mißhelligkeit aber, die im Staate herrschte, entfernte er sich von unserem Amtsgenossen Metellus 150. Beides that er mit Würde, ohne daß sein persönliches Uebergewicht und seine Empfindlichkeit kränkend gewesen wäre 151.

78. Darum muß man sich erstlich Mühe geben, daß keine Entzweiungen zwischen Freunden entstehen; hat sich aber so Etwas ereignet, daß die Freundschaft mehr erloschen als unterdrückt zu sein scheine. Besonders aber muß man sich hüten, daß sich nicht Freundschaften sogar in schwere Feindschaften verwandeln, aus denen Zänkereien, Schmähungen und Beschimpfungen entstehen. Doch muß man diese, so lange sie erträglich sind, erdulden und der alten Freundschaft die Ehre erweisen, daß der die Schuld trage, der das Unrecht thut, nicht der, der es leidet.

Ueberhaupt gibt es gegen alle Fehler und Unannehmlichkeiten nur ein Verwahrungsmittel und nur eine Vorsichtsmaßregel, daß man nicht allzu schnell und Unwürdige zu lieben anfange. 79. Würdig der Freundschaft sind aber diejenigen, in welchen selbst der Grund liegt, warum man sie liebe: eine seltene Gattung der Menschen. Freilich, aber alles Vortreffliche ist ja selten, und es ist Nichts schwieriger als Etwas zu finden, was in jeder Hinsicht in seiner Art vollkommen wäre. Aber sowie die Meisten in den menschlichen Angelegenheiten nichts Gutes erkennen, als was Gewinn bringt; so lieben sie auch unter ihren Freunden wie unter ihren Hausthieren diejenigen am Meisten, von denen sie den größten Gewinn zu ziehen hoffen.

80. So entbehren sie der schönsten und natürlichsten Freundschaft, die an sich und um ihrer selbst willen wünschenswerth ist, und sie nehmen es nicht an sich selbst ab 152, worin das Wesen und der Werth der Freundschaft bestehe. Denn Jeder liebt sich selbst, nicht um einen Lohn für seine Liebe von sich selbst zu fordern, sondern weil sich Jeder an und für sich selbst lieb ist. Wenn man dieß nicht auch auf die Freundschaft überträgt, so wird man nie einen wahren Freund finden. Dieser ist ja gleichsam unser zweites Ich 153.

81. Wenn sich nun diese Erscheinung bei Thieren zeigt, sie mögen in der Luft oder im Wasser oder auf dem Lande leben, zahm oder wild sein, daß sie erstlich sich selbst lieben – ein Trieb, der zugleich mit jedem lebenden Wesen geboren wird –; sodann, daß sie Geschöpfe ihrer Art aufsuchen und begehren, um sich an sie anzuschließen; und wenn sie dieß mit Sehnsucht und einer der menschlichen ähnlichen Liebe thun: um wie viel natürlicher ist dieses bei dem Menschen, der nicht nur sich selbst liebt, sondern auch einen Anderen aufsucht, um dessen Gemüth so mit dem seinigen zu vermischen, daß er, ich möchte sagen, aus zwei Wesen eines macht!

Aristotel. Nicom. IX. 13, 4: ‘Η δὲ διὰ τὸ χρήσιμον (φιλία) εγκληματική· επ' ωφελεία γὰρ χρώμενοι αλλήλοις αεὶ του̃ πλείονος δέονται καὶ έλαττον έχειν οιονται του̃ προσήκοντος καὶ μέμφονται, ότι ουχ όσων δέονται, τοσούτων τυγχάνουσιν άξιοι όντες· οι δ' ευ̃ ποιου̃ντες ου δύνανται επαρκει̃ν τοσαυ̃τα, όσων οι πάσχοντες δέονται.. Billig aber ist es, daß man zuerst selbst ein guter Mann ist und dann einen anderen sich ähnlichen sucht. Unter solchen Menschen kann nun die Beständigkeit der Freundschaft, mit deren Darstellung wir uns schon eine Weile beschäftigten 154, erst festen Halt gewinnen, wenn durch Wohlthaten verbundene Menschen zuerst den Begierden gebieten, denen Andere fröhnen; sodann an Billigkeit und Gerechtigkeit ihre Freude haben; ferner der Eine für den Anderen Alles übernimmt, und Keiner von dem Anderen Etwas verlangt, als was sittlich gut und recht ist, und sie sich einander nicht allein ehren und lieben, sondern auch Hochachtung vor einander hegen, Denn die größte Zierde der Freundschaft nimmt der weg, der aus ihr die Hochachtung wegnimmt.

83. Daher hat diejenigen ein verderblicher Irrthum ergriffen, welche der Ansicht sind, die Freundschaft eröffne zu allen Ausschweifungen und Vergehen unbeschränkte Erlaubniß. Zur Gehülfin der Tugend hat uns die Natur die Freundschaft gegeben 155, nicht zur Gefährtin der Laster, damit die Tugend, weil sie nicht für sich allein zu dem Höchsten 156 gelangen kann, in Verbindung und Gemeinschaft mit der anderen dahin gelange. Findet unter Menschen eine solche Gemeinschaft in der Gegenwart oder Vergangenheit oder Zukunft statt, so ist ihr gegenseitiges Geleite als das beste und glücklichste auf dem Pfade zu dem höchsten Gute der Natur anzusehen. 84. Dieß ist, behaupte ich, eine Gemeinschaft, in der Alles liegt, was die Menschen für wünschenswerth halten: Ehre, Ruhm, Seelenruhe und Frohsinn. Denn wo diese Güter sind, da ist das Leben glückselig, ohne sie aber ist es nicht möglich.

Da dieß also das beste und größte Gut ist, so müssen wir uns, wenn wir es erlangen wollen, der Tugend befleißigen, ohne die wir weder Freundschaft noch irgend ein wünschenswerthes Gut erreichen können. Wer aber diese vernachlässigt und dennoch Freunde zu besitzen wähnt, wird dann erst seinen Irrthum gewahr, wenn ihn ein schweres Mißgeschick zwingt seine Freunde zu prüfen.

85. Darum – ich muß es nämlich öfters sagen – soll man erst nach vorhergegangener Beurtheilung lieben, nicht aber erst nach der Liebe urtheilen. Allein in vielen Dingen büßen wir für unsere Nachlässigkeit, am Meisten aber sowol in der Wahl als in der Behandlung der Freunde 157. Denn wir lassen die Berathung hintennach folgen und thun Gethanes 158, was uns ein altes Sprüchwort verbietet. Denn obwol wir in gegenseitige freundschaftliche Verbindung entweder durch langen Umgang oder auch durch Dienstleistungen getreten sind, brechen wir die Freundschaften plötzlich mitten im Laufe ab, sobald sich irgend ein Anstoß erhebt.

XXIII. 86. Um so mehr verdient daher die so große Sorglosigkeit in einer höchst unentbehrlichen Sache Tadel. Denn unter den menschlichen Dingen ist es die Freundschaft allein, über deren Nutzen Alle einstimmig urtheilen, wiewol selbst die Tugend von Vielen 159 gering geachtet und eine bloße Schaustellung und Prahlerei genannt wird. Viele 160 verschmähen den Reichthum, weil sie, mit Wenigem zufrieden, an geringer Kost und Lebensweise Gefallen finden. Ehrenämter vollends, nach denen Manche mit brennender Begierde streben, wie Viele verachten diese so sehr, daß sie Nichts für eitler, Nichts für geringfügiger halten! Ebenso achten sehr Viele andere Dinge, die Manchen bewunderungswerth erscheinen, für Nichts.

Von der Freundschaft hingegen haben Alle insgesammt die nämliche Ansicht. Sowol die, welche sich dem Staate gewidmet haben, als die, welche an der Erforschung der Dinge und an der Gelehrsamkeit ihre Freude finden, wie auch die, welche, von Amtsgeschäften frei, ihre eigenen Geschäfte treiben 161, endlich die, welche sich ganz den Vergnügungen hingeben, urtheilen, ohne Freundschaft sei das Leben kein Leben, wenn sie nur einigermaßen mit Anstand leben wollten. 87. Es erstreckt sich nämlich unvermerkt, ich weiß nicht wie, die Freundschaft über Aller Leben und läßt keine Lebensweise ihrer untheilhaft sein. Ja, besäße auch Jemand ein so abstoßendes Wesen und eine solche Gefühllosigkeit, daß er den Umgang der Menschen flöhe und haßte, wie wir von einem gewissen Timon 162 zu Athen vernommen haben; so konnte er es doch nicht unterlassen nach einem Menschen zu suchen, vor dem er das Gift seiner Bitterkeit ausgeiferte. Die Wahrheit dieser Behauptung würde man am Besten begreifen, wenn der Fall möglich wäre, daß uns ein Gott aus diesem Menschengewühle entrückte und in irgend eine Einöde versetzte und uns hier einen Ueberfluß und Reichthum an allen Naturbedürfnissen darreichte, aber die Gelegenheit einen Menschen zu sehen uns gänzlich entzöge 163. Wer wäre so eisenhart, daß er ein solches Leben ertragen könnte, und daß ihm nicht die Einsamkeit den Genuß aller Vergnügungen entreißen sollte?

88. Wahr ist also jener Ausspruch, den, wie ich glaube, der Tarentiner Archytas 164 im Munde zu führen pflegte, und den ich von unseren Greisen hörte, die ihn wieder von anderen Greisen gehört hatten: »Wäre auch Einer in den Himmel gestiegen und betrachtete die Einrichtung des Weltalls und die Schönheit der Gestirne; so würde die Bewunderung dieser Dinge doch reizlos für ihn sein, die hingegen ihm höchst erfreulich gewesen wäre, wenn er nur irgend eine Seele gehabt hätte, der er seine Beobachtungen hätte mittheilen können«.

So liebt die Natur nichts Einsames und lehnt sich immer gleichsam an eine Stütze an, die gerade in dem liebreichsten Gemüthe die süßeste ist.

XXIV. Aber wiewol ebendieselbe Natur durch so viele Zeichen kund gibt, was sie will, sucht und begehrt; so sind wir doch auf eine unbegreifliche Weise taub dagegen und hören nicht auf ihre Mahnungen. Allerdings ist der gegenseitige Verkehr unter Freunden mannigfach und vielfältig, und es werden viele Veranlassungen zu Mißtrauen und zu Anstoß gegeben; diese jedoch theils zu vermeiden theils zu ertragen ist Pflicht des Weisen. Aber eine Art des Anstoßes müssen wir uns gefallen lassen 165, wenn der Nutzen 166 und die Ehrlichkeit in der Freundschaft erhalten werden soll. Man muß nämlich seine Freunde oft warnen und tadeln, und dieß muß freundlich aufgenommen werden, wenn es aus wohlmeinenden. Herzen geschieht.

89. Aber leider ist nur zu wahr, was mein Freund 167 in seinem Mädchen von Andros sagt:

Willfährigkeit gebiert uns Freunde, Wahrheit Haß.

Lästig ist freilich die Wahrheit, wenn anders aus ihr Haß entsteht, der ein Gift der Freundschaft ist; aber Willfährigkeit ist ungleich lästiger, weil sie durch Nachsicht gegen die Vergehungen den Freund in's Verderben stürzen läßt. Die größte Schuld trägt aber der, welcher die Wahrheit verschmäht und sich durch Willfährigkeit zur Selbsttäuschung verleiten läßt. Bei dieser ganzen Sache muß man daher Rücksicht und Sorgfalt anwenden, erstlich, daß die Erinnerung ohne Bitterkeit, sodann, daß der Tadel ohne Beschimpfung sei; der Willfährigkeit aber 168 – weil ich mich gern eines Terenzischen Ausdruckes bediene – stehe die Begleiterin der Tugenden, Freundlichkeit, zur Seite 169; Liebedienerei hingegen, die Gehülfin der Laster, werde in weiter Ferne gehalten, sie, die nicht nur keines Freundes, sondern überhaupt keines freien Mannes würdig ist. Denn anders lebt man mit einem Gewaltherrscher, anders mit einem Freunde.

90. Wer aber seine Ohren gegen die Stimme der Wahrheit so verschließt, daß er vom Freunde die Wahrheit nicht hören kann, an dessen Rettung muß man verzweifeln. Treffend ist jener Ausspruch des Cato, sowie Vieles von ihm: »Besser machen sich um Manche bittere Feinde verdient als die Freunde, welche süß erscheinen; denn jene sagen die Wahrheit oft, diese niemals«. Uebrigens ist es ungereimt, wenn die, welche erinnert werden, das Mißbehagen, das sie empfinden sollten, nicht empfinden, das hingegen empfinden, von dem sie frei sein sollten. Denn daß sie gefehlt haben, darüber fühlen sie sich nicht beunruhigt; daß sie aber getadelt werden, darüber empfinden sie Mißbehagen, während sie sich doch im Gegentheile über ihr Vergehen betrüben und über die Zurechtweisung freuen sollten.

XXV. 91. Wie es also der wahren Freundschaft eigen ist zu erinnern und sich erinnern zu lassen, und zwar das Eine mit edler Freimüthigkeit zu thun und nicht mit verletzender Härte, das Andere mit Geduld anzunehmen und nicht mit Widerstreben; ebenso muß man wissen, daß es kein größeres Verderben in der Freundschaft gibt als Kriecherei, Schmeichelei und Liebedienerei. Denn mit möglichst vielen Namen muß man dieses Laster gesinnungsloser und betrügerischer Menschen bezeichnen, die Alles mit Rücksicht auf das Vergnügen 170, Nichts der Wahrheit gemäß reden.

S. zu Kap. 21, §. 80.; wie wäre dieß möglich, wenn nicht einmal in einem Einzigen das Gemüth immer ein und dasselbe bliebe, sondern wechselnd, veränderlich und vielfältig wäre? 93. Denn was kann so biegsam sein, so sich von der geraden Straße entfernen als das Gemüth eines Menschen, der sich nicht nur nach des Andern Sinne und Willen, sondern sogar nach seiner Miene und seinem Winke richtet?

Sagt Jemand Nein, so sag' ich Nein; sagt Jemand Ja, so sag' ich Ja;

Kurz dieß gebot mir, in Allem beizustimmen,

wie derselbe Terentius 171 sagt, doch in Gnatho's Rolle, dergleichen Freunde zu wählen durchaus Leichtfertigkeit verräth. 94. Leider gibt es viele Ebenbilder des Gnatho, die an Herkunft, Lebensverhältnissen und Ruf höher stehen. Die Schmeichelei solcher Menschen ist um so widerwärtiger, wenn zu ihrer Gehaltlosigkeit auch wol das Uebergewicht ihrer Stellung hinzutritt.

95. Der schmeichelnde Freund kann aber bei gehöriger Sorgfalt ebenso gut vom wahren gesondert und unterschieden werden als alles Geschminkte und Erheuchelte vom Aechten und Wahren. Eine Volksversammlung, die aus den unerfahrensten Leuten besteht, weiß doch gewöhnlich zu beurtheilen, welcher Unterschied zwischen einem sogenannten Volksfreunde, das heißt, einem nach dem Munde redenden und leichtfertigen Bürger, und zwischen einem nach festen Grundsätzen handelnden Volksfreunde, das heißt, einem wahrhaftigen und gediegenen Bürger 172 stattfinde. 96. Welch schmeichelnde Worte entströmten neulich dem Munde des Gajus Papirius 173, durch die er den Weg zu den Ohren der Volksversammlung fand, als er den Gesetzvorschlag wegen Wiedererwählung der Volkstribunen machte. Ich sprach dagegen. Doch kein Wort von mir, von Scipio will ich lieber reden. Welche Würde, unsterbliche Götter! welche Hoheit lag in seiner Rede! Unbedenklich konnte man ihn den Führer des Römischen Volkes, nicht dessen Mitgänger nennen. Doch ihr wart ja zugegen, und seine Rede ist in eueren Händen. Und so ward der volksgünstige Gesetzvorschlag durch die Stimme des Volkes verworfen. Und, um wieder auf mich zurückzukommen, ihr erinnert euch, wie volksgünstig erschien unter den Consuln Quintus Maximus 174, dem Bruder Scipio's, und Lucius Mancinus der Gesetzvorschlag des Gajus Licinius Crassus 175 wegen der Priesterwürden! Denn durch denselben sollte das den Priestervereinen zustehende Recht der Selbstergänzung dem Volke übertragen und zu einer Vergünstigung desselben gemacht werden. Auch war er der Erste, der es einführte in den Verhandlungen mit dem Volke gegen das Forum gewandt zu sprechen 176. Doch trug über seine gefällige Rede die Ehrfurcht vor den unsterblichen Göttern durch meine Vertheidigung leicht den Sieg davon. Dieß geschah während meiner Prätur, fünf Jahre vor meinem Consulate. So ward diese Sache mehr durch sich selbst als durch den Einfluß des höchsten amtlichen Ansehens 177 vertheidigt.

XXVI. 97. Wenn nun auf dem öffentlichen Schauplatze in der Volksversammlung, wo Dichtung und Schein einen so weiten Spielraum haben, dennoch die Wahrheit sich zu behaupten weiß, wenn sie nur offen dargelegt und in ihr rechtes Licht gestellt wird: was muß erst in der Freundschaft geschehen, deren Werth ganz nach der Wahrheit abgewogen wird. Denn wenn man in derselben nicht, wie man sagt, die offene Brust sieht und die seinige offen zeigt; so hat man nichts Getreues, nichts Zuverlässiges, nicht einmal das Gefühl der Liede und Gegenliebe, da man nicht weiß, inwieweit dasselbe aufrichtig ist. Indeß kann diese Schmeichelei, so verderblich sie auch ist, doch Niemandem schaden, als dem, der ihr Zutritt zu sich verstattet und an ihr Wohlgefallen findet. So geschieht es, daß der den Schmeichlern seine Ohren am Meisten öffnet, der sich selbst schmeichelt und an sich selbst den größten Wohlgefallen findet 178. 98. Allerdings liebt die Tugend sich selbst; denn sie kennt sich selbst am Besten und weiß, wie liebenswürdig sie ist. Ich rede aber jetzt nicht von der wirklichen Tugend, sondern von der Scheintugend. Denn wirklich tugendhaft wollen nicht so Viele sein als scheinen. Diese erfreut die Schmeichelei. Wenn man sich ihnen mit einem nach ihrem Wunsche ausgesonnenen Gespräche naht, so glauben sie, jene eitle Rede sei ein Zeugniß ihrer vortrefflichen Eigenschaften. Das ist also keine Freundschaft, wenn der Eine die Wahrheit nicht hören will, der Andere zum Lügen bereit ist. Auch die Schmeichelei der Schmarotzer in Lustspielen würde uns nicht witzig erscheinen, wenn es keine großprahlerischen Soldaten gäbe 179.

Die Thais sagt mir also wirklich großen Dank? 180

Es wäre genug gewesen zu antworten: »großen«. »Ungeheuren«, erwiderte er. Immer vergrößert der Schmeichler das, was der, nach dessen Wunsche geredet wird, groß wissen will.

99. Wiewol also diese schmeichelnde Liebedienerei nur bei denen Geltung hat, die selbst dazu anlocken und auffordern; so bedürfen doch auch ernstere und gesetztere Männer der Erinnerung darauf zu achten, daß sie sich nicht durch schlaue Schmeichelei berücken lassen. Denn den unverhohlenen Schmeichler erkennt Jedermann, wenn er nicht ganz dumm ist. Daß sich aber der schlaue und versteckte Schmeichler nicht bei uns einschleiche, davor müssen wir uns sorgfältig hüten. Denn man erkennt ihn nicht so leicht, da er ja oft auch durch Widerspruch schmeichelt und scheinbar hadernd schön thut und zuletzt die Hände reicht 181 und sich für besiegt erklärt, damit der Getäuschte mehr Einsicht zu besitzen meine. Was ist aber schimpflicher als sich täuschen zu lassen? Daß dieß aber nicht geschehe, davor muß man sich um so mehr in Acht nehmen 182:

Vor allen Narren der Komödie

Willst du mich foppen heut und hudeln wunderschön.

100. Denn auch auf der Bühne spielen die unvorsichtigen und leichtgläubigen Greise die albernste Rolle.

Doch mein Vortrag ist, ich weiß nicht wie, von der Freundschaft vollkommener, das heißt weiser Männer – ich rede hier von der Weisheit, welche, wie es scheint, der Mensch zu erreichen im Stande ist 183, – zu den gehaltlosen Freundschaften gerathen. Darum wollen wir zu dem Früheren zurückkehren und ebendamit endlich einmal zum Schlusse kommen.

XXVII. Die Tugend, sag' ich, mein Gajus Fannius und mein Quintus Mucius, schließt die Freundschaften und erhält sie. Denn auf ihr beruht die Uebereinstimmung in allen Dingen 184, auf ihr die Beharrlichkeit, auf ihr die Charakterfestigkeit. Wenn sie nun zum Vorschein kommt und ihr Licht zeigt und an einem Anderen ein gleiches Licht erblickt und erkennt, so nähert sie sich diesem und nimmt dagegen das Licht, das in dem Anderen ist, in sich auf. Und hieraus entzündet sich die Flamme der Liebe oder Freundesliebe; denn Beides ist vom Lieben benannt 185. Lieben aber ist nichts Anderes als den Gegenstand der Liebe aus Achtung werthschätzen 186, ohne Rücksicht auf eigenes Bedürfniß, ohne Absicht aus eigenen Vortheil, der jedoch von selbst aus der Freundschaft erblüht, auch wenn man nicht darnach trachtet.

101. Ein solches Wohlwollen war es, mit welchem ich in meiner Jugend jene Greise, den Lucius Paullus 187, Marcus Cato 188, Gajus Gallus 189, Publius Nasica 190, Tiberius Gracchus 191, den Schwiegervater unseres Scipio, liebte. Noch schöner leuchtet es zwischen Altersgenossen hervor, wie zwischen mir und Scipio, Lucius Furius 192, Publius Rupilius 193, Spurius Mummius 194. Dagegen finden wir Greise eine erquickende Befriedigung in der Liebe junger Männer, wie in der eurigen, in der des Quintus Tubero 195. Ja auch der vertraute Umgang mit dem noch sehr jungen Publius Rutilius 196 und Aulus Verginius 197 macht mir Freude.

Weil nun überhaupt unser Leben und unsere Natur so eingerichtet ist, daß ein Menschenalter aus dem anderen erwächst; so wäre es freilich sehr wünschenswerth, wenn man mit denselben Altersgenossen, mit denen man gleichsam aus den Schranken 198 entlassen wurde, auch, wie man sagt, zum Ziel der Rennbahn gelangen könnte. 102. Allein weil alles Irdische gebrechlich und hinfällig ist, so muß man sich immer nach Menschen umsehen, die man lieben und von denen man geliebt werden kann. Denn nimmt man die Liebe und das Wohlwollen hinweg, so nimmt man allen Reiz aus dem Leben. Für mich lebt Scipio, obwol er mir plötzlich entrissen ward, dennoch und wird immer leben; denn ich liebte die Tugend dieses Mannes, und diese ist nicht erloschen. Doch nicht mir allein, der ich sie immer vor mir sah, schwebt sie vor Augen; auch für die Nachkommen wird sie in ausgezeichnetem Glanze strahlen. Nie wird Jemand den Entschluß zur Ausführung großer Thaten noch die Hoffnung darauf in seinem Geiste fassen, der sich nicht sein Andenken und Vorbild vergegenwärtigen zu müssen glauben sollte.

103. Ich wenigstens habe unter allen Gütern, die mir das Glück oder die Natur zutheilte, Nichts, was ich mit der Freundschaft des Scipio vergleichen könnte. In ihr fand ich Uebereinstimmung in Staatsgeschäften, in ihr Rath für häusliche Angelegenheiten, in ihr auch genußreiche Erholung. Nie habe ich ihn, auch nicht im Geringsten, beleidigt, so viel ich wenigstens weiß; Nichts habe ich von ihm gehört, das ich nicht gewünscht hätte. Ein Haus, derselbe Tisch auf gemeinsame Kosten, und nicht allein der Kriegsdienst, sondern auch die Reisen und der Aufenthalt auf dem Lande 199 , – Alles war uns gemeinschaftlich. 104. Und was soll ich ferner von unseren wissenschaftlichen und gelehrten Bestrebungen sagen, in denen wir, fern von den Augen des Volkes, jede von Amtsgeschäften freie Zeit zubrachten?

Wäre nun die Erinnerung und Vergegenwärtigung dieser Dinge zugleich mit ihm untergegangen, so würde ich die Sehnsucht nach einem so eng verbundenen und liebevollen Manne auf keine Weise ertragen können. Aber nicht erloschen sind sie, sondern werden vielmehr genährt und erhöht durch den Gedanken und die Erinnerung an ihn, und wäre ich auch dieser ganz beraubt, so würde mir doch schon mein Alter großen Trost gewähren; denn sehr lange kann ich in diesem Zustande des Sehnens nicht bleiben. Alles aber, was von kurzer Dauer ist, muß erträglich sein, wenn es auch bedeutend ist.

Dieses sind die Gedanken, die ich über die Freundschaft vorzutragen hatte. Euch aber ermahne ich der Tugend, ohne welche die Freundschaft nicht bestehen kann, eine solche Stellung anzuweisen, daß ihr mit Ausnahme dieser Nichts für vorzüglicher haltet als die Freundschaft.

Gesammelte Werke von Cicero

Подняться наверх