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SECHS

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Catrin Coyne wohnte in einer Dreizimmerwohnung an der Holloway Road, wenige Minuten südlich der U-Bahn-Station Archway, in der sechsten von insgesamt zwölf Etagen des Seacole House.

Anderthalb Kilometer von Highgate Village entfernt, aber in einer ganz anderen Welt.

Sie betrat den Aufzug, drehte sich um und sagte: »Ich denke wirklich nicht, dass es nötig ist, dass Sie mit reinkommen. Ich komme allein zurecht.« Auf der Fahrt von Islington hierher hatte sie kein Wort gesprochen, sondern zusammengesunken auf dem Beifahrersitz von Thornes Cavalier gesessen und angestrengt aus dem Fenster geschaut, als hoffe sie, irgendwo dort draußen auf den dunklen Bürgersteigen ihren Sohn zu entdecken.

Thorne drückte den Knopf, und die Türen schlossen sich klappernd. »Wir leisten Ihnen besser noch einen Moment Gesellschaft.«

»Ich verspreche, dass ich mich nicht aus dem Fenster stürzen werde.«

»Gut zu hören«, erwiderte Roth.

Keiner sprach ein weiteres Wort, bis Catrin sie einige Minuten später in ihr Wohnzimmer führte. Sie stellte sich mit dem Rücken zum an die Wand montieren Heizlüfter und starrte sie an. »Und?«

»Ist es in Ordnung, wenn ich mich kurz umsehe?«, fragte Roth.

»Was?« Catrin blickte von Roth zu Thorne und wieder zurück. »Warum?«

Der DC räusperte sich und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Er musste seinen Job erledigen, bemühte sich aber sichtlich, Thornes Mahnung ernst zu nehmen und möglichst behutsam vorzugehen. »Wir müssen das tun. Es bedeutet nicht …«

»Glauben Sie, dass Kieron allein nach Hause gekommen ist?«

»Nein.«

»Glauben Sie, dass er sich unter dem Bett versteckt?«

»Es ist ein Punkt, den wir abhaken müssen«, sagte Thorne. »Das ist alles.«

Catrin betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Vielleicht glauben Sie ja, ich hätte mir das alles ausgedacht. Dass wir Sie bloß verarschen und Kieron die ganze Zeit hier gewesen ist.«

»Natürlich nicht.«

»Dass er … gefesselt in einem scheiß Schrank liegt oder so was.«

Thorne merkte, dass Catrin Coyne wütend wurde, und er konnte ihr keinen Vorwurf machen. Er wusste so wenig wie sie, wo Kieron Coyne sich im Moment aufhielt, aber er war ganz sicher nicht hier. Andererseits hatte es tatsächlich Fälle gegeben, in denen Eltern ihre Kinder böswillig als vermisst gemeldet hatten. Es war sogar vorgekommen, dass dabei düstere Motive eine Rolle gespielt hatten. Dass es zum Beispiel darum ging, Verletzungen – oder Schlimmeres – vor der Außenwelt zu verbergen, die die Kinder zu Hause erlitten hatten. Deshalb mussten diese Möglichkeiten so schnell wie möglich ausgeschlossen werden.

»Nur ein Punkt, der abgehakt werden muss«, wiederholte er.

»Ich verspreche Ihnen, dass ich schnell mache.« Roth warf einen Blick Richtung Flur. »Ich bringe auch nichts durcheinander.«

Als Catrin nickte, verließ er das Zimmer.

»Das ist lächerlich.« Sie löste sich von der Wand und ließ sich auf ein Ledersofa fallen.

»Im Wesentlichen geht es darum, dass wir uns absichern.« Thorne trat zu dem Sessel ihr gegenüber. Sie murmelte etwas Zustimmendes, woraufhin er sich auf der Kante niederließ und sich zu ihr vorbeugte.

»Manches, was wir tun, mag nicht allzu … mitfühlend wirken, aber es muss wirklich sein.«

Sie nickte erneut und lehnte sich zurück. Inzwischen sah sie noch erschöpfter aus als im Vernehmungsraum des Reviers.

»Auf längere Sicht ist es besser so, verstehen Sie?«

»Ich will keine längere Sicht«, sagte sie. »Ich will, dass es erledigt wird. Ich will, dass einer von Ihren Leuten jetzt gleich an der Tür klingelt und Kieron auf dem Arm hat.« Sie schien den Tränen nahe, wischte sich aber trotzig mit dem Handrücken die Augen. »Ich will ihn hier haben. Ich will ihn zu Hause haben.«

»Natürlich wollen Sie das.«

»Ihre längere Sicht ist das, wovor ich Angst habe.«

Thorne hörte Musik – das stotternde Dröhnen einer Basslinie – aus der Wohnung über ihnen. Und Roth, der sich in einem der Zimmer zu schaffen machte. »Wir müssen Sie um eine DNA-Probe bitten.«

Mit einem Ruck setzte sie sich auf. »Warum zum Teufel brauchen Sie meine DNA?«

»Eine Probe von Kieron.« Thorne sah, wie ihr Gesicht sich vor Angst verzerrte, als sie sich einen Moment lang vorstellte, was sie am Ende der »längeren Sicht« erwarten könnte. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir seine Zahnbürste mitnehmen?«

Sie beugte sich vor und löste ihre Schnürsenkel. »Tun Sie, was Sie tun müssen.«

»Auch ein aktuelles Foto wäre hilfreich, falls Sie eins haben. Zum Aushängen und für die Zeitungen.«

Catrin kickte ihre Stiefel von den Füßen, stand auf und ging wortlos die Gegenstände holen, nach denen Thorne gefragt hatte. An der Tür kam sie an Roth vorbei, der ins Wohnzimmer trat und den Kopf schüttelte, um Thorne wissen zu lassen, dass er nichts gefunden hatte, worüber sie sich Gedanken machen mussten.

Punkt abgehakt.

»Sie holt die Sachen für uns.« Thorne senkte die Stimme. »Sie können übrigens ruhig schon fahren, wir sehen uns dann später im Büro.« Mit einem Blick auf Roths fragende Miene fügte er hinzu: »Ich glaube, ich bleibe noch ein bisschen hier.«

»Ernsthaft? Ich denke nicht, dass das nötig ist …«

»Trotzdem.«

Als Catrin zurückkam, nahm Roth das Foto und die Zahnbürste, die sie in einen Gefrierbeutel gesteckt hatte. Er bedankte sich und sagte, sie solle auf sich aufpassen. Dann erklärte er Thorne, er habe Ms Coynes Telefonnummer und werde sie anrufen, sobald sich etwas Neues ergebe.

Thorne folgte ihm bis zur Wohnungstür.

»Bringen Sie die Zahnbürste ins Labor und sorgen Sie dafür, dass sich die Jungs von der Pressestelle mit dem Foto beeilen.«

»Schon so gut wie erledigt.« Roth ging hinüber zum Aufzug und drückte den Knopf. »Hören Sie … was ich noch sagen wollte.« Er drehte sich wieder um und machte ein paar Schritte auf Thorne zu. »Dieser ganze Mist mit Boyle, dieses Händeschütteln und diese Anspielungen auf Ihr Bauchgefühl und so weiter. Er will Sie bloß ein wenig aufziehen. Das ist Ihnen hoffentlich klar, oder? Niemand will damit irgendetwas sagen.«

Thorne schaute ihm ins Gesicht. Er sagte: »Wahrscheinlich ist es für morgen zu spät, aber am Montag muss das Foto des Jungen in den Zeitungen sein.«

Der DC nickte, plötzlich verlegen, als wünschte er, er hätte nichts gesagt. »Ich meine, alle haben halt von der Geschichte gehört.«

Thorne gab keine Antwort und hätte nicht sagen können, wen von ihnen beiden es mehr erleichterte, als der Aufzug endlich kam.

Als Thorne ins Wohnzimmer zurückkehrte, blickten er und Catrin sich gegenseitig an. Der Bass schien lauter geworden zu sein. »Kann ich Ihnen einen Tee oder einen Kaffee machen?«, fragte er. »Oder etwas Stärkeres?«

»In der Wohnung nebenan finden Sie vielleicht ein bisschen Heroin.«

»So was muss ich melden.«

»Bitte nicht«, erwiderte sie schnell. »Ich will es mir lieber nicht mit den Nachbarn verderben. Sie passen manchmal auf Kieron auf … und bevor Sie fragen: nicht der Typ, der auf Heroin ist.«

»Das sollte ein Witz sein«, sagte Thorne.

Wieder schauten sie sich an.

Thorne blickte sich noch einmal im Zimmer um. Das Sofa und der Sessel füllten den Raum weitgehend aus, aber der Teppich und die Glasplatte vom Couchtisch waren makellos sauber, und alles machte einen gut organisierten Eindruck. In einer Ecke gab es eine große Plastikkiste, die bis zum Rand mit Spielzeug gefüllt war. Neben dem Fernseher waren Videokassetten gestapelt. Animaniacs, ChuckleVision, Mike and Angelo. Er trat ans Fenster und starrte hinunter auf die Hauptstraße, die um Viertel vor neun abends immer noch viel befahren war. Wahrscheinlich war sie zu jeder Zeit viel befahren.

Er drehte sich um. »Sie haben es hübsch.«

»Nein, nicht wirklich.« Catrin kaute an einem Fingernagel. »Deshalb ziehen wir ja um. Hoffentlich jedenfalls.«

»Wohin?«

»Sozialwohnung in Walthamstow.« Sie deutete mit dem Kopf zum Fenster. »Also, hier ist es ganz in Ordnung, wir waren schon zufrieden und alles, aber so nah an der Holloway Road wird es niemals hübsch sein. Man spürt den Verkehr in der Brust. Schwarzer Rotz im Taschentuch und alles.«

»Lower Highgate«, sagte Thorne.

»Was?«

»Ich hab gehört, dass die Immobilienmakler Archway so bezeichnen. Das klingt ein bisschen schicker. Gehobener.«

»Arschlöcher.«

»Da kann ich nicht widersprechen.« Jan wollte das Haus verkaufen, und Thorne versuchte verzweifelt, seine unausweichliche Begegnung mit diesem Berufsstand hinauszuzögern.

»Hier in der Gegend sprechen wir lieber von Highgates Hintern«, sagte Catrin. »Klingt irgendwie passender.« Als sie Thornes Lächeln sah, begann sie mit hoher Stimme zu lachen, beinahe hysterisch, was in Windeseile in ein Schluchzen überging.

»Nicht«, sagte Thorne.

Er sah, wie sie einen Arm ausstreckte, und für einen kurzen Moment glaubte er, sie würde fallen. Thorne sagte ihren Namen und trat gerade rechtzeitig auf sie zu, um sie aufzufangen.

Was dich nicht umbringt

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