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VIERZEHN

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Obwohl er im sechsten Stock war und ein paar Bier zu viel getrunken hatte, beschloss Thorne, seinem olfaktorischen System etwas Gutes zu tun und die Treppe zu nehmen. Auf dem Weg zur verschrammten Metalltür neben dem Aufzug spürte er, dass er beobachtet wurde. Angestarrt wurde. Als er sich umdrehte, entdeckte er in der Tür zu Catrin Coynes Nachbarwohnung das schmale, blasse Gesicht eines Mannes, der ihn beobachtete: lange Nase mit übergroßen Löchern und dicke Lippen, die sich schnell und geräuschlos bewegten.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Thorne registrierte die Panik im Gesicht des Mannes, dann wurde die Tür geschlossen. Er ging hinüber und klopfte. Wartete und klopfte noch einmal.

»Hallo?« Der Bewohner, der offenbar direkt hinter der Tür stand, sprach leise und klang ein wenig nervös.

Thorne beugte sich zur Tür vor und senkte ebenfalls die Stimme. »Würden Sie bitte die Tür öffnen? Ich bin Polizist.«

Wenige Augenblicke später machte der Mann die Tür auf, wiederum nur einen Spaltbreit. Wie zuvor schaute er zu Thorne heraus, dann reckte er ein wenig den Hals, um einen Blick auf den leeren Flur neben und hinter Thorne zu werfen. Thorne hielt seinen Dienstausweis hoch, der sofort die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zog.

»Alles in Ordnung, Sir?«

Der Mann nickte. Wieder bewegten sich seine Lippen rasant, doch es dauerte einen Moment, ehe sie tatsächlich Worte hervorbrachten. »Was ist los?« Die Stimme war flach und akzentfrei, kaum mehr als ein Flüstern. Hinter der Türkante kamen lange Finger mit zahlreichen Ringen zum Vorschein und deuteten auf die Wohnung, aus der Thorne gerade gekommen war. »Mit Catrin? Ich hab gestern Abend die vielen Polizisten gesehen. Das ganze Kommen und Gehen.« Er zog die Hand zurück und kratzte sich am Hals.

»Kennen Sie Ms Coyne?«

Er wirkte überrascht, beinahe beleidigt. »Natürlich kenne ich sie. Geht es ihr gut?« Er starrte Thorne an, die Pupillen wie Nadeln. »Geht’s Kieron gut?«

Thorne trat ein paar Schritte zurück und beugte den Zeigefinger. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, kurz herauszukommen?«

Der Mann blinzelte und zog sich ein Stück zurück. »Es ist schon ziemlich spät.«

»Bitte.«

Das leise Murmeln, bevor die Tür sich endgültig öffnete und der Mann heraustrat, blieb unverständlich. Der Geruch, der ihm folgte – scharf, wie Essig –, war umso eindeutiger. Weit weniger unangenehm, aber ebenso unverwechselbar wie der im Aufzug. Thorne fiel wieder ein, was Catrin am Abend zuvor gesagt hatte. Über ihre Sorge, es sich mit bestimmten Nachbarn zu verderben.

Thorne zog sein Notizbuch aus der Tasche. »Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?«

»Ja, dürfen Sie.«

Thorne wartete. »Ich frage Sie.«

»Grantleigh.«

»Nun, Mr Grantleigh …« Thorne hielt inne, als er das Lächeln des Mannes sah. Dann lächelte er zurück. »Was ist so komisch, Sir?«

»Grantleigh ist mein Vorname. Mir war nicht klar, dass wir so formell miteinander umgehen.«

»Ach ja?«

»Figgis. Ich heiße Grantleigh Figgis.« Er drehte sich ein Stück zur Seite und deutete auf seine Wohnungstür. »Ich vermute, Sie brauchen mich nicht nach meiner Adresse zu fragen.«

Er war ziemlich groß und extrem dünn. Die Knochen an Handgelenken und Schultern standen deutlich hervor, seine Augenhöhlen waren tief und die Wangen eingesunken. Er trug einen engen ärmellosen Pullover, der nicht ganz zu der schmuddeligen grauen Trainingshose und den plüschigen Pantoffeln passen wollte, die man eher bei einer älteren Dame erwartet hätte. Thorne musterte ihn – den Wust fettiger blonder Haare, die trockenen Lippen, stets in Bewegung – und musste unwillkürlich daran denken, wie sein Vater einmal einen früheren Arbeitskollegen beschrieben hatte.

Ein richtig komischer Pissstrahl.

»Wie gut kennen Sie Catrin?«

Figgis neigte den Kopf und schob die Hände tief in die Taschen seiner Trainingshose. »Wir sind nicht intim oder so.«

Thorne fand es immer interessant, wenn Leute Fragen beantworteten, die er nicht gestellt hatte. Er wartete.

»Wir sind Nachbarn, also … Sie wissen schon.« Er nahm die Hände aus den Taschen und gestikulierte beim Sprechen. »Ein paar Gramm Zucker hier, eine Rolle Klopapier da. Ab und zu leihe ich ihr meinen Rasenmäher.« Er grinste, wobei zu sehen war, wie schlecht seine Zähne waren. »Um ehrlich zu sein, lästern wir die meiste Zeit über ein paar andere Hausbewohner.«

»Was ist mit Kieron?«

Figgis schaute ihn an und wurde plötzlich sehr still. »Was soll mit ihm sein?«

»Sehen Sie ihn oft?«

»Ja, natürlich. Schließlich ist er immer bei seiner Mutter, und sie sehe ich tatsächlich oft.«

»Also ist Kieron immer mit seiner Mutter zusammen, ja? Wenn Sie ihn sehen?«

»Ja, klar, aber es ist nicht so, als würde er stören oder irgendwas. Kieron ist ein wunderbarer Junge. Sehr höflich.« Wieder kratzte er sich am Hals. »Sie haben mir noch immer nicht gesagt, worum es geht.«

»Nein.« Thorne steckte sein Notizbuch ein. »Das habe ich nicht.«

»Ist etwas Schlimmes passiert?«

»Ich fürchte, ich kann nicht in die Einzelheiten gehen, aber vielleicht wäre es das Beste, wenn Sie Catrin in nächster Zeit ein bisschen … Raum lassen. Ist das in Ordnung? Vielleicht können Sie Ihren Zucker woanders leihen.«

»Absolut«, sagte Figgis.

»Das wäre mir am liebsten.«

»Was immer Sie sagen.«

»Und vielen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft.«

»Wie Sie meinen … Gern geschehen.«

Thorne ging zum Aufzug, erinnerte sich rechtzeitig und drehte ab Richtung Treppe. Beim Umdrehen registrierte er, dass Catrin Coynes Nachbar schnell wieder hinter seiner Tür verschwunden war. Und ihn noch immer beobachtete.

Auf dem Weg zurück zum Wagen bemerkte Thorne die Telefonzelle auf der anderen Straßenseite. Er wartete auf eine Lücke im Verkehr, suchte in der Tasche nach seiner Telefonkarte und lief hinüber.

Es konnte nicht schaden, oder?

Dumm, natürlich konnte es schaden, bei anderen Gelegenheiten hatte es schon geschadet.

Fünf Minuten zuvor, im sechsten Stock des Wohnblocks, hatte Thorne sich mit einem zwar seltsamen, aber freundlichen Menschen unterhalten, der ihm keinen Anlass zu irgendeinem Verdacht geboten hatte. Und trotzdem hatte er etwas gespürt, ungebeten und hartnäckig. Einen nagenden, allzu vertrauten Schmerz. Er ließ sich nicht ignorieren, selbst wenn er es gewollt hätte. Und trotzdem wäre es ihm schwergefallen, dieses Gefühl auf eine für andere verständliche Art und Weise zu beschreiben.

Nur in seinen Träumen hatte es seinen Sinn.

Nein, Schmerz traf es eigentlich nicht. Jedenfalls nicht, wenn es losging.

Als er in die Telefonzelle trat, wurde Thorne allerdings von einem höchst realen Schmerz gequält. Er beschimpfte sich als Idioten, weil er Catrin Coyne nicht gebeten hatte, ihre Toilette benutzen zu dürfen. Plötzlich fühlte er sich kurz vorm Platzen. Er biss die Zähne zusammen, rammte die Telefonkarte in den Schlitz und wählte.

»Komm schon. Himmel …«

Er wusste, dass manche Leute, wenn sie so dringend mussten wie er im Augenblick, die nächste Telefonzelle benutzten – wenn gerade kein Aufzug in Sicht war –, doch so verzweifelt war er nicht. Noch nicht.

Ajay Roth meldete sich, offenbar bestens aufgelegt.

»Wir haben gerade über Sie gesprochen«, sagte er. »Einer von Ihren Vogelfreunden hat sich gemeldet.«

»Was?«

»Von den Leuten, die Vögel beobachten. Jedenfalls behauptet er, im Alexandra Park gebe es über hundert verschiedene Arten. Heckenbraunellen und Taigabirkenzeisige zum Beispiel, was auch immer das sein soll …«

Thorne widerstand der Versuchung, ihm zu sagen, dass es mit ziemlicher Sicherheit Vögel waren. Stattdessen entgegnete er: »Ajay, Sie müssen in der landesweiten Polizeidatenbank einen Namen für mich checken. Haben Sie einen Stift?«

»Ja, irgendwo …«

»Grantleigh Figgis.«

»Teufel auch, wo haben Sie den aufgetan?«

»Er wohnt direkt neben Catrin Coyne.« Thorne buchstabierte den Namen. »Haben Sie es notiert?«

»Okay, es könnte ein paar Minuten dauern. Kann ich zurückrufen?«

Thorne fragte sich, ob er genug Zeit hatte, um kurz zu verschwinden und einen Platz zum Pinkeln zu suchen, entschied sich dann aber dagegen. Roth mochte zwar ungeschickt mit Computern sein, aber so lange würde er nicht brauchen. Und Thorne wollte seinen Rückruf auf keinen Fall verpassen.

Vorsichtig trat er von einem Fuß auf den anderen und versuchte, an etwas anderes zu denken.

Ein Paar tauchte auf und blieb dicht vor der Telefonzelle stehen. Die Frau schaute auf ihre Uhr und starrte ihn an. Thorne fand ein kleines Stück Fenster, das nicht mit Werbung für die Prostituierten der Gegend zugekleistert war, und hielt seinen Dienstausweis so lange vor das Glas, bis das Paar fluchend verschwand.

Er schnappte sich den Hörer noch während des ersten Klingelns.

»Jackpot«, sagte Roth. »Dieser Typ ist ihr Nachbar, sagen Sie?«

»Ja …?«

»Zuerst war ich nicht allzu enthusiastisch, denn er steht nicht auf unserer Liste, aber dafür gibt es einen guten Grund. Die Anklage wurde fallen gelassen, ehe die Sache vor Gericht kam. Also wurde er nie verurteilt. Oh, und – nebenbei bemerkt – er ist ein Junkie in der höchsten Spielklasse.«

»Ja, ich hab’s gerochen.« Thorne hatte vergessen, dass er pinkeln musste. »Was wurde ihm vorgeworfen?«

»Vor zwei Jahren wurde Grantleigh Ralph Figgis wegen sexueller Belästigung eines Minderjährigen festgenommen.« Roth ließ eine angemessen dramatische Pause folgen. »Klingt es so weit gut?«

Thorne spürte ein Kribbeln im Nacken, als würden sanfte Finger durch seine Härchen streifen. Er schauderte. »Sehr gut.«

»Dabei hab ich das Beste noch gar nicht erzählt«, fuhr Roth fort. »Sobald ich auf die sexuelle Belästigung gestoßen bin, hab ich beim Fahrzeugregister nachgefragt. Stellen Sie sich vor: Mr Figgis fährt einen roten VW Polo. Sieht dem Golf ziemlich ähnlich, meinen Sie nicht …? Wenn man auf der anderen Straßenseite steht und sich nicht gut mit Autos auskennt? Tom …?«

»Ja, ich bin noch dran.«

»Moment, der Boss will mit Ihnen sprechen.«

Thorne hörte ein Klappern, als der Hörer auf den Schreibtisch gelegt wurde. Ein paar Sekunden später war Gordon Boyle in der Leitung.

»Ich schätze, wir können Ihren zwielichtigen Vogelbeobachter vergessen«, sagte er. »Scheiß Heckenbraunellen hin oder her. Ich hab mit Andy Frankham über den Kerl gesprochen, den Sie aus dem Hut gezaubert haben. Er sagt, bei einem Fall, in dem die Zeit so eine Rolle spielt, reicht das, was wir bisher haben, um ihn festzunehmen.«

»Gut«, sagte Thorne.

»Ich hab schon mit den Uniformierten in der Gegend Kontakt aufgenommen. Sie schicken einen Wagen, um ihn abzuholen. Wo sind Sie?«

Thorne sagte es ihm.

»Perfekt. Sie bleiben, wo Sie sind, und wenn die Kollegen kommen, können Sie derjenige sein, der ihm die Handschellen anlegt. Wie klingt das?«

Thorne sagte nichts. Er dachte an den erschreckten Ausdruck auf dem blassen, abgehärmten Gesicht. Und daran, wie eng die Handschellen um Grantleigh Figgis’ dünne Gelenke würden sein müssen.

»Gute Arbeit, Tom«, sagte Boyle. »Wirklich gut, Mann.«

Thorne hatte kein Problem damit, in seinem Auto zu warten. Als Allererstes musste er allerdings seine Blase entleeren. Er lief die Holloway Road zurück zu der Nebenstraße, wo er geparkt hatte, und suchte verzweifelt nach einer passenden Stelle, bevor die Uniformierten eintrafen und es ernst wurde.

Er duckte sich in den dunklen Durchgang zwischen einem geschlossenen Wettbüro und einem geöffneten McDonald’s. Während der Verkehr lautstark vorbeiraste, öffnete er den Reißverschluss und dachte an die ungewohnt großzügigen Worte des DIs.

Gute Arbeit.

Vor Erleichterung und Freude aufstöhnend pisste er gegen die Wand. Er lehnte den Oberkörper zurück und probierte, wie hoch sein Strahl an der Ziegelwand reichte. Dasselbe lächerliche Spiel, das er mit seinen Freunden gespielt hatte, als sie Kinder waren.

Bevor es ernst wurde.

Was dich nicht umbringt

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