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DREI

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In Fällen wie diesem lag die oberste Priorität zunächst darauf, so schnell wie möglich die notwendigen nächsten Schritte einzuleiten. Boyle hatte das Revier Highgate vorgeschlagen, gleich neben dem Amtsgericht des Bezirks Haringey, weil es dem Park am nächsten lag.

Andy Frankham erwartete sie an seinem Schreibtisch.

Er wirkte, als wolle er gleich zur Sache kommen.

Als Detective Chief Inspector des in Islington angesiedelten Dezernats für Schwerverbrechen war er de facto der Ermittlungsleiter in diesem Fall. Wahrscheinlich hatte er, noch während Thorne im Pub gesessen hatte und die ersten Streifenpolizisten im Highgate Wood zusammengezogen worden waren, die Zügel in die Hand genommen und ein Team zusammengestellt. In der Hoffnung, wenn auch nicht der Erwartung, dass es nicht gebraucht würde.

Frankham stellte sich den beiden Frauen vor. Seine Stimme klang sanft, aber geschäftsmäßig. Maria Ashton trat einen Schritt vor, um seine Hand zu schütteln, während ihr Sohn sich an ihren Mantel klammerte.

Catrin Coyne nickte einfach und schaute am DCI vorbei zu dem uniformierten Beamten hinter dem Schreibtisch.

»Ich bin nicht so dumm, Ihnen zu sagen, Sie sollen sich keine Sorgen machen«, sagte Frankham. »Ich habe selbst Kinder. Aber ich will Ihnen versichern, dass ich sämtliche zur Verfügung stehenden Ressourcen nutzen werde, um Kieron zu finden.«

»Danke«, sagte Maria.

Thorne registrierte den Blick, den Catrin Coyne ihrer Freundin zuwarf. Er meinte, eine Spur von Widerwillen zu entdecken.

Es ist nicht dein Sohn, der vermisst wird.

Er spürte den nachvollziehbaren Ärger der Frau an der Art, wie sie unbewegt an Ort und Stelle verharrte, daran, wie sie atmete.

Hättest du auf sie aufgepasst, was deine Aufgabe gewesen ist …

»Im Augenblick ist es wichtig, schnell die ersten Aussagen aufzunehmen.« Frankham schaute den Jungen an. »Vor allem von Josh.«

Maria zog ihren Sohn dicht an sich. »Joshy? Willst du dem Polizisten erzählen, was im Wald passiert ist?«

Der Junge machte einen Schritt zurück, als würde er aus irgendeinem Grund schmollen. Er trat an ein Anschlagbrett und starrte es mit dem Rücken zu ihnen an. Dann ging er zu einer Reihe von Plastikstühlen und ließ sich auf einen fallen.

»Er ist durcheinander«, sagte Maria. »Das ist doch verständlich.«

Catrin Coyne drehte sich zu ihr um und starrte sie an.

»Absolut«, sagte Frankham. »Das ist ganz natürlich. Also gut, ich lasse Sie für den Moment in der Obhut von Inspector Boyle und den anderen. Falls Sie mit mir sprechen wollen, worüber auch immer, sagen Sie einfach einem von ihnen Bescheid.«

Maria nickte und errötete unter Catrins Blick.

Nach einer kurzen unbehaglichen Pause tauchte aus einer Seitentür eine Polizistin auf und führte die beiden Frauen und das Kind in Richtung der Vernehmungsräume.

Frankham sah ihnen nach. Dann wandte er sich an Thorne und die anderen. »Lassen Sie uns so schnell wie möglich in die Gänge kommen, ja? Ich gehe zurück ins Büro und kümmere mich darum, dass alles vorbereitet ist. Sobald ich einen Ort gefunden habe, wo wir die Zeugen befragen können, gebe ich Ihnen Bescheid.«

»Alles klar, Boss«, sagte Boyle.

»Wir brauchen eine Sozialarbeiterin«, sagte Roth. »Videoräume und was nicht alles.«

»Danke für den Hinweis, Ajay.« Frankham blieb freundlich im Ton, ließ aber unmissverständlich durchklingen, dass er genau wusste, was gebraucht wurde. Mit seiner schmalen Gestalt und der dicken Brille wirkte der DCI wie ein Akademiker und erinnerte Thorne an einen Geografielehrer aus seiner Schulzeit. Trotzdem würde er niemals riskieren, Frankham zu verärgern.

»Also los«, sagte Boyle. »Ich übernehme die Mutter … Ajay, Sie sprechen mit der Freundin.« Er deutete auf Thorne. »Schauen Sie, was Sie aus dem Jungen rausbekommen, Tom. Und hören Sie darauf, was Ihr Bauch Ihnen sagt.«

Roth grinste.

Mit dem Gedanken, seinen unmittelbaren Vorgesetzten zu verärgern, hatte Thorne nicht das geringste Problem. Auch wenn der Begriff verärgern in diesem Zusammenhang vielleicht zu höflich war. Seine Fantasien kreisten häufiger darum, in einer schlecht beleuchteten Seitenstraße auf Gordon Boyle herabzublicken, während der Schotte diverse Zähne ausspuckte.

»Sir«, sagte Thorne.

Auf dem Weg zu den Verhörräumen kamen sie an einem Büro vorbei, in dem sich eine Gruppe vor einem Fernseher versammelt hatte. Boyle steckte den Kopf ins Zimmer und stellte eine Frage. Dann schloss er die Tür, und sie gingen zu dritt weiter.

»Eins zu null für Ihre Jungs«, sagte er und wirkte nicht allzu angetan. Den Namen des Torschützen murmelte er, als handelte es sich um einen berüchtigten Serienmörder. »Shearer.«

»Bitte, Mrs Ashton.« Thorne sah, wie Maria Ashton den Mund aufmachte, und hob die Hand. Sie hatte Ajay Roth gegenüber schon ihre eigene kurze Aussage gemacht, hatte aber offensichtlich noch deutlich mehr zu sagen. »Bitte.« Vor dem Betreten des Raums hatte er ihr deutlich gemacht, dass sie jetzt allein Joshs Darstellung hören wollten. Dass sie nur dabei war, um ihren Sohn zu beruhigen. Dass jede Ermunterung, jedes Soufflieren ihrerseits seine Aussage beeinflussen und letztlich den Ermittlungen schaden konnte.

»Tut mir leid«, sagte Maria. Sie beugte sich zu dem tragbaren Kassettenrekorder mit den zwei Laufwerken vor, sagte noch einmal »Tut mir leid« und schüttelte dann über ihre eigene Dummheit den Kopf.

Thorne nickte ihr beruhigend zu und wandte sich wieder an den Jungen.

»Warum habt ihr beide, Kieron und du, den Spielplatz verlassen?«

Aus den ersten, noch an Ort und Stelle aufgenommenen Aussagen war deutlich geworden, dass die Jungen vom Spielplatz in den Teil des Waldes gelaufen waren, der an die U-Bahn-Strecke grenzte. Beunruhigend war, dass die Stelle keine fünfzig Meter von einem Ausgang zur Archway Road entfernt lag.

»Auf dem Spielplatz kann man sich nirgendwo verstecken.« Der Junge trat alle paar Sekunden gegen das Tischbein und spielte mit einem Modellauto herum, das er aus der Tasche gezogen hatte, als sie sich hingesetzt hatten.

»Dann wolltet ihr Verstecken spielen?«

Die uniformierten Kollegen hatten bereits mit Haustürbefragungen auf dem Straßenstück in der Nähe des Ausgangs angefangen und handgeschriebene Flugblätter mit der Bitte um Informationen verteilt. Auf der Straße war ziemlich viel los.

»Nein.« Josh schüttelte entschieden den Kopf. »Kieron wollte Verstecken spielen.«

»Dann ist Kieron also losgerannt, um sich zu verstecken, richtig?«

Wieder schüttelte der Junge den Kopf, als wäre Thorne begriffsstutzig. »Ich hab mich versteckt.«

»Oh … klar, sich zu verstecken macht mehr Spaß, stimmt’s?«

»Ich bin besser im Verstecken als er.«

»Okay. Also, wo hast du dich versteckt?«

Josh blickte kurz auf, ehe er sich wieder seinem Spielzeugauto zuwandte. »Da ist ein großer Baum, in den man reingehen kann. Da hab ich mich früher schon mal versteckt.«

Wieder begann Maria Ashton zu weinen. Thorne schob ihr die Schachtel mit Papiertaschentüchern hinüber, ließ den Jungen aber nicht aus den Augen. »Hat Kieron dich gefunden?«

Josh schüttelte den Kopf, diesmal langsamer.

»Glaubst du, er konnte dich nicht finden?« Thorne wartete. »Oder glaubst du, er hat nicht richtig gesucht?«

Josh zuckte die Achseln und kaute auf seiner Unterlippe herum.

»Ich meine, es klingt nach einem fantastischen Versteck.«

»Ja, aber Kieron weiß, dass ich mich da manchmal verstecke, und ich hab ihn nicht mal gehört.« Der Jungen schnaubte und hob die Arme, als würde er sich nachträglich wundern. »Also, man hört ja immer, wenn einen jemand sucht, wegen der Äste und der raschelnden Blätter. Aber als ich in dem Baum war, war alles richtig still.«

Thorne spürte, dass die Mutter des Jungen ihn anschaute, spürte, wie sie versuchte, so leise wie möglich zu weinen. »Was glaubst du, wie lange du gewartet hast, Josh?«

»Richtig lange.«

»Okay.« Thorne malte sich die Gegend aus, in der Josh sich versteckt hatte. Dann beugte er sich zu dem Jungen vor. »Hast du irgendwelche Züge vorbeifahren hören?«

Ein langsames, ernsthaftes Nicken. »Ja.«

»Wie viele?«

Bei dem Versuch, sich zu erinnern, verzog der Junge angestrengt das Gesicht. »Zwei, glaube ich.«

Thorne wusste, dass dieser Teil der Strecke regelmäßig in beiden Richtungen von der Northern Line befahren wurde. »Also … fünf Minuten vielleicht? Kommt das ungefähr hin?«

Josh nickte. »Ewigkeiten.«

»Was hast du dann gemacht?«

»Ich bin aus dem Baum rausgekommen und hab versucht, Kieron zu finden. Ich hab ihn gerufen und bin zu der Stelle gelaufen, wo er sich die Augen zugehalten hat und wo er angefangen hat zu zählen.« Wieder hob er die Arme, dazu riss er verblüfft die Augen auf. »Er war nicht da. Er war nirgendwo

»Dann ist er aus dem Wald gekommen«, sagte Maria. »Als Cat und ich gerade losgegangen waren, um die beiden zu suchen.«

Thorne ignorierte sie. »Hast du im Wald sonst irgendjemanden gesehen, Josh?«

»Da waren jede Menge Leute«, sagte Josh. »Die komische alte Frau mit dem stinkenden Hund. Jede Menge Leute.«

»Zwischen den Bäumen, meine ich. Nachdem ihr vom Spielplatz weggegangen seid.«

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Bist du sicher?«

Maria lehnte sich vor. »Das hat er alles schon im Wald gesagt.«

»Hast du Kieron mit jemandem sprechen sehen?«

»Das hat er dem Inspector schon gesagt, bevor Sie gekommen sind.«

»Können wir jetzt nach Hause?«, fragte Josh.

Thorne schaltete den Kassettenrekorder aus.

Nach seiner Befragung von Catrin Coyne wartete Boyle zusammen mit Ajay Roth draußen auf dem Gang. »Interessant«, sagte er.

»Was?«

»Der Alte von der Mutter wohnt gerade auf Kosten Ihrer Majestät, und das nicht zum ersten Mal. Vor sieben Jahren hat er achtzehn Monate wegen schwerer Körperverletzung abgesessen, und im Augenblick sitzt er wegen versuchten Mordes für zehn Jahre in Whitehill.« Boyle schüttelte den Kopf. »Klingt nach einem richtig miesen Typen. Hat jemanden halb totgeprügelt, weil der ihn auf der North Circular beim Überholen geschnitten hat.«

»Nett«, sagte Roth.

»Und?«, fragte Thorne.

Boyle schaute ihn an.

»Glauben Sie, er ist aus einem Hochsicherheitsgefängnis ausgebrochen und hat seinen Sohn entführt?«

»Interessant, hab ich gesagt, mehr nicht.« Boyle schob einen Finger in den Mund und stocherte zwischen seinen Zähnen herum. »Und das ist es schließlich auch.«

»Hat Mrs Coyne irgendetwas gesagt, woraus Sie schließen, dass wir uns den Mann näher anschauen sollten?«

»Ms Coyne«, sagte Roth. »Sie trägt seinen Namen, aber sie sind nicht verheiratet.«

»Sie leben in Sünde.« Boyle hatte seine Suche beendet und drehte den Kopf, um etwas auszuspucken. »Jedenfalls haben sie das getan, bevor er in den Knast ging.«

»Und, hat sie etwas gesagt?«

»Hören Sie, ich wollte einfach rausfinden, was im Wald passiert ist«, sagte Boyle. »Genau wie Sie. Die Frau hat seinen Namen erwähnt, also hab ich ihn durch den Computer laufen lassen.«

»Also gut«, sagte Thorne. »Schadet sicher nicht, es zu wissen.«

Mit einem Mal wirkte Boyle gereizt. »Ich sag Ihnen was, Tom, warum nehmen Sie nicht Ms Coynes offizielle Zeugenaussage auf?«

»Der Boss hat vor zehn Minuten angerufen«, sagte Roth. »An der Upper Street ist alles vorbereitet. Die Autos warten schon.«

»Klar, wie Sie wollen«, sagte Thorne. Er bemerkte den verschwörerischen Blick, den der DI dem DC zuwarf. Er begriff, dass er ihn bemerken sollte.

»Ich weiß nicht … Vielleicht können Sie ihr die Hand schütteln.« Als er Thornes Miene sah, gab Boyle sich keine Mühe mehr, sein hämisches Grinsen zu verbergen. »Mal sehen, was Ihr Bauchgefühl sagt.«

Was dich nicht umbringt

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