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ACHT

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Im zweiten Stock des Reviers Islington war die Einsatzzentrale eingerichtet worden. Der schmale, fensterlose Raum erfüllte unter normalen Umständen seinen Zweck, doch jetzt wurde er plötzlich von dreißig Ermittlern genutzt und war eindeutig überfüllt.

»Hier kann man sich ja kaum umdrehen.«

Der nörgelnde DC – der im allerletzten Moment und mit brauner Soße auf der Krawatte zur sonntäglichen Einsatzbesprechung gekommen war – wollte schon zu einer längeren Tirade ansetzen, als sein Blick auf das große Whiteboard am Ende des Raums fiel und er es sich anders überlegte. Dort hing ein Foto der Mutter des vermissten Kindes, unter das jemand mit Filzstift ihren Namen sowie ihren Spitznamen gekritzelt hatte.

Er setzte sich zu den anderen und zog sein Notizbuch aus der Tasche.

Ungefähr ein Dutzend Arbeitsplätze waren dicht zusammengeschoben worden, wobei einige der Schreibtische von riesigen Computerterminals beherrscht wurden. Auf anderen standen Faxgeräte. Eine Ecke des Raums war für das Home Office Large Major Enquiry System reserviert, das eine zentrale Rolle bei den Ermittlungen spielen würde. In diese HOLMES-Computer würde jede einzelne Aussage eingespeist, jeder Bericht, jede neue Erkenntnis. Das alles würde verschlagwortet und mit anderen Informationen abgeglichen werden. Das System sollte dafür sorgen, dass zu jedem Zeitpunkt der Ermittlungen die rechte Hand wusste, was die linke gerade tat. Darüber hinaus eröffnete es die Möglichkeit, bei Bedarf andere Polizeidienststellen einzubinden und jedem kleinsten Informationshäppchen die angemessene Bedeutung zuzuweisen. Vor allem war das System zu dem Zweck eingerichtet worden, die kopflose Inkompetenz zu vermeiden, die vor fünfzehn Jahren nach den Ermittlungen im Fall des Yorkshire Rippers ans Tageslicht gekommen war.

HOLMES sollte zur Bibel für jeden Ermittler werden.

Zu seinem Gebetbuch.

Pünktlich um neun rief Ajay Roth: »Okay, alle zusammen«, und DCI Andy Frankham erhob sich zur Predigt.

»Ich hoffe, dass ich nur ein einziges Mal hier vor Ihnen stehen muss«, erklärte er. »Dass wir hier möglichst bald wieder wegkönnen. Ich wäre verdammt glücklich, wenn wir diesen Raum morgen dichtmachen und zu unseren anderen Fällen zurückkehren können. Aber solange diese Ermittlung läuft, dürfen wir niemals vergessen, worum es geht. Keine einzige Sekunde lang, klar? Um wen es geht.«

Frankham drehte sich um und deutete auf das größte Foto auf dem Whiteboard. Eine Vergrößerung der Aufnahme, die Roth am Abend zuvor von Catrin Coyne bekommen hatte.

Der DCI ließ seinen Leuten ein paar Sekunden, um sich das Bild gründlich anzuschauen.

Catrin oder Maria, vielleicht auch beide, hatten es am Tag zuvor erwähnt. Trotzdem war Thorne genauso verblüfft wie beim ersten Blick auf das Foto, wie ähnlich Josh Ashton und Kieron Coyne sich sahen. Kein Wunder, dass sie Freunde waren, dachte er.

Sie hätten auch Brüder sein können.

Frankham sprach ein, zwei Minuten über die Dringlichkeit und über die Entschlossenheit, die sie angesichts eines Verbrechens wie diesem demonstrieren mussten. Er betonte seine Zuversicht, dass sie Kieron Coyne und seine Mutter nicht im Stich lassen würden. Dann rief er Gordon Boyle nach vorn und sagte, er solle übernehmen.

Der Schotte begann Verantwortlichkeiten zu verteilen. Den Kollegen, die Vollzeit mit HOLMES arbeiten sollten, wies er verschiedene Rollen zu. Informationen sammeln, Aufgaben delegieren, analysieren, Berichte lesen. Ein Detective wurde zum Verbindungsmann mit dem Rest der Truppe bestimmt, zwei andere sollten den Kriminaltechniker-Teams helfen, die das Waldgebiet zwischen dem Spielplatz und dem Archway-Eingang durchforsteten. Nach der Ankündigung, dass beide Mütter erneut befragt werden mussten, schickte er zwei DCs nach Milton Keynes, um Catrin Coynes Partner im Whitehill-Gefängnis einen Besuch abzustatten.

»Für diejenigen von Ihnen, die es nicht wissen: Diese Einrichtung ist speziell darauf ausgerichtet, einige besonders gefährliche Männer zu beherbergen«, sagte er. »Männer mit Problemen. Es kann also nicht schaden, Billy zu überprüfen. Und wenn Sie schon da sind, überprüfen Sie auch die Leute, mit denen er dort zu tun hat. Lassen Sie uns sehen, ob er jemanden wütend gemacht hat, der sich möglicherweise rächen will und seine Familie aufs Korn nimmt.«

»Was ist mit dem Typen, den er beinahe totgeschlagen hat? Der arme Kerl könnte auch Lust haben, sich zu rächen.«

»Genau, darauf wollte ich noch kommen.« Boyle deutete auf den Beamten, der die Frage gestellt hatte. »Finden Sie ihn und stellen Sie fest, was er gestern gemacht hat.« Er warf einen Blick auf seine hingekritzelten Notizen. »Es versteht sich von selbst, dass wir schon dabei sind, eine Liste der bekannten Sexualstraftäter zusammenzustellen. Die müssen wir durchgehen und Prioritäten setzen. Ganz oben auf die Liste kommen alle, die sich jemals ein Kind geschnappt haben. Alle, die auch nur ein Kind angeschaut haben, klar? Also, klopfen Sie an Türen und kontrollieren Sie, wo die Leute zur Tatzeit waren. Und bemühen Sie sich nicht allzu sehr um Höflichkeit.«

Für diese Aufgabe meldeten sich reichlich Freiwillige.

Boyle musste noch erläutern, welcher Ermittlungsansatz im Augenblick der vielversprechendste war, und diesen Punkt hatte er sich offenbar für den Schluss aufgehoben. Er schien die Neuigkeit unbedingt loswerden zu wollen, von der er Thorne schon vor einer halben Stunde in Kenntnis gesetzt hatte.

»Heute Morgen hat ein Zeuge angerufen, nachdem er eins unserer Flugblätter gesehen hat. Er hat gestern Vormittag, ungefähr zu der Zeit, als Kieron Coyne verschwunden ist, einen Mann und einen Jungen in Kierons Alter beobachtet, wie sie an der Archway Road in ein Auto gestiegen sind.« Er sah Ajay Roth dabei zu, wie er durch den Raum ging und Kopien verteilte. »Wie Sie sehen, haben wir kein Kennzeichen und keine allzu detaillierten Hinweise, aber natürlich ist die Aussage äußerst wichtig für uns. Vor allem, weil der Zeuge den Eindruck hatte, dass der Junge freiwillig in den Wagen gestiegen ist.« Boyle ließ die Information einen Augenblick wirken. »Wir müssen uns also offensichtlich die Frage stellen, ob der vermisste Junge den Mann kannte.«

Ein Detective im hinteren Teil des Raums sagte: »Ein Grund mehr, mit dem Vater zu reden.«

»Exakt«, sagte Boyle. »Könnte dieser Mann ein Freund oder Bekannter des Vaters sein? Jemand, der dem Jungen schon früher begegnet ist? Also: Das Auto ist die Spur, auf die wir uns am meisten konzentrieren müssen.«

In den vorderen Reihen meldete sich jemand zu Wort, und Thorne bemerkte, dass mehr Köpfe als üblich gehoben wurden. DS Paula Kimmel war die einzige weibliche Ermittlerin im Team – eine mehr als beim letzten großen Fall, an dem Thorne beteiligt gewesen war. Wie viele andere auch hatte er die vor wenigen Jahren ausgestrahlte TV-Serie mit Helen Mirren für den Vorboten einer steigenden Anzahl von Frauen in den höheren Diensträngen gehalten. Vielleicht stimmte das bei den Uniformierten, doch bei der Kriminalpolizei hatte Thorne noch keine bedeutende Veränderung wahrgenommen.

»Gibt es auf der Archway Road irgendwelche Überwachungskameras?«, fragte Kimmel.

Diese Frage hörte Thorne immer häufiger, auch wenn er bisher kaum Anzeichen für einen Erfolg der Überwachung gesehen hatte. In den Zentren vieler größerer Städte des Landes waren inzwischen Kameras installiert, mit denen allerdings überwiegend kleinere Vergehen wie Diebstahl und Falschparken verfolgt wurden. Die Befürworter der Kameras nannten sie hilfreich im Kampf gegen Drogenmissbrauch und sonstiges unsoziales Verhalten, andere glaubten, dass diejenigen, die schwerwiegendere Verbrechen begehen wollen, einfach ihre Sachen packen und es woanders tun würden.

»Leider nicht«, sagte Boyle.

Der Beamte neben Thorne schüttelte den Kopf und sagte: »Immer, wenn man die Dinger brauchen könnte, sind keine da, stimmt’s?«

Thorne wusste, dass es Pläne gab, das zu verändern. John Majors Regierung hatte angekündigt, drei Viertel ihres jährlichen Budgets zur Verbrechensverhütung für die Installation neuer Kameras zu verwenden, doch Thorne blieb skeptisch. Die Leute, die die entsprechende Ausrüstung herstellen, würden sich natürlich dumm und dämlich verdienen, doch er glaubte nicht, dass Überwachungskameras in absehbarer Zeit die altmodischen Methoden – Grips und Schuhsohlen – ersetzen würden. Jedenfalls nicht bei umfangreicheren Ermittlungen.

»Wir müssen mehr über dieses Auto erfahren«, sagte Boyle. »Bis jetzt wissen wir, dass es rot war, und klein, möglicherweise mit Heckklappe. Es könnte sich also um einen Fiesta oder einen Golf handeln … Diejenigen von Ihnen, die eine hohe Toleranzschwelle in Sachen Langeweile haben, können sich in den nächsten Stunden damit vergnügen, beim zentralen Fahrzeugregister anzurufen und sich eine Liste aller infrage kommender Autos zu besorgen.« Er sah, wie Blicke gewechselt wurden, und nickte. »Aye, ich weiß, dass es um eine verdammt lange Liste geht, tja, aber so ist es nun mal. Der Rest von Ihnen macht sich auf und klappert noch einmal das fragliche Straßenstück ab. Wir gehen noch mal von Haus zu Haus und achten darauf, dass wir mit jedem sprechen, der gestern nicht da war. Wenn Sie das Auto erwähnen, hilft das vielleicht der einen oder anderen Erinnerung auf die Sprünge. Oh, und wenn Sie den Leuten einen Anhaltspunkt für die Uhrzeit geben müssen, erwähnen Sie einfach das Fußballspiel.« Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Weiß noch jemand, wie es ausgegangen ist?«

Nickend nahm er die Flüche und Zwischenrufe zur Kenntnis, dann hob er die Hand, um den Aufruhr zum Schweigen zu bringen.

»Dasselbe gilt auch, wenn Sie noch einmal mit den Leuten sprechen, die gestern im Wald schon Aussagen gemacht haben. Die Beschreibung des Mannes, der mit dem Jungen gesehen wurde, ist leider genauso vage wie die des Autos, aber auch hier könnte eine Erinnerung wachgerufen werden … So viel für den Moment.« Boyle deutete auf den Kollegen, dem die Rolle zugewiesen worden war, die Aufgaben zu koordinieren. »Terry hat sämtliche Details.« Er vergewisserte sich mit einem Blick zu Andy Frankham, der an einer Wand lehnte, dass dieser nichts hinzuzufügen hatte. Dann wandte er sich wieder ans Team, das bereits unruhig zu werden begann.

»Also dann, bewegt euch!«

Thorne wartete auf dem Gang, neben dem kleinen Büro, das er mit einem DS teilen würde, der von einem örtlichen Team zur Unterstützung abgestellt worden war. Russell Brigstocke war über eins achtzig groß und kräftig gebaut, hatte dichtes schwarzes Haar und eine dicke schwarze Brille, sodass er wie Buddy Holly auf Anabolika wirkte.

»Wie stehen die Chancen?«, fragte Brigstocke.

»Was meinen Sie? Dass die ganze Sache was mit Catrin Coynes Typen zu tun hat?« Thorne schüttelte den Kopf. »Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Ich auch nicht, aber wahrscheinlich müssen wir alle Eventualitäten in Betracht ziehen.« Brigstocke warf ihm einen fragenden Blick zu. »Aber das hab ich nicht gemeint.«

Thorne erwiderte den Blick. Ihm war klar, dass er Brigstockes eigentliche Frage nicht beantwortet hatte. Bei einem einigermaßen »normalen« Fall hätte längst jemand angefangen, heimlich Wetten auf ein gutes Ergebnis anzunehmen und die Quoten anzupassen, je nachdem, welche Fortschritte das Team machte. Das galt auch für die Frage, ob letztendlich jemand vor Gericht gestellt würde. Dann sammelten sich die Zehner und Zwanziger in einer Keksdose, ein kleiner zusätzlicher Ansporn.

Aber nicht, wenn Kinder betroffen waren.

Nicht nach dem Fall James Bulger vor drei Jahren und ganz sicher nicht nach den Morden an sechzehn Kindern in Dunblane vor wenigen Monaten.

Aberglaube oder Sentimentalität? Polizisten neigten zu beidem, aber für Thorne spielte die Frage ohnehin keine große Rolle. Seiner Meinung nach halfen Gedanken darüber, wie die Chancen auf einem positiven Ausgang stehen mochten, letztlich niemandem. Am allerwenigsten denjenigen, die von diesem Ausgang persönlich betroffen waren.

»Weiß der Himmel«, sagte er.

Brigstocke nickte. Beide drehten sich um, als Gordon Boyle in der Tür auftauchte. »Was ist denn hier los? Müttergruppe?«

Thorne versuchte, so zu tun, als fände er die Bemerkung des DIs witzig. Aber er war nicht sicher, ob es ihm gelang, die entsprechende Miene aufzusetzen.

Tatsächlich hatte er gerade an die Mütter gedacht.

Was dich nicht umbringt

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