Читать книгу Was dich nicht umbringt - Mark Billingham - Страница 17

DREIZEHN

Оглавление

Als Thorne in den Aufzug trat, bemerkte er einen Geruch, den er am Abend zuvor nicht wahrgenommen hatte. Er schaute sich um, entdeckte aber keinen Hinweis auf das, was er für die Ursache hielt. Ein junger Mann rief etwas, lief zum Aufzug und schaffte es gerade noch rechtzeitig hinein, bevor die Türen schlossen. Er verzog das Gesicht und schüttelte angewidert den Kopf.

»Verdammte Kids.« Der Mann hatte einen Akzent. Polnisch, vermutete Thorne, auch wenn er nicht sicher war. »Dreckige Mistkerle.«

Thorne fragte, auf welche Etage der Mann wolle, und drückte für ihn den Knopf.

Er konnte sich kaum vorstellen, dass jemand, der hier wohnte, auf die Idee kam, in den eigenen Aufzug zu pinkeln. Aber genauso absurd war der Gedanke, dass jemand derart unter Druck stand, dass er von der Straße hereinkam, um den Aufzug als Toilette zu benutzen.

»Widerlich«, sagte der Mann.

Thorne hatte es schon lange aufgegeben, darüber nachzudenken, warum Menschen bestimmte Dinge taten. In der knappen Minute allerdings, die er bis zum sechsten Stock brauchte, konnte er sich das Spekulieren nicht verkneifen.

Ging es den Aufzug-Pissern darum, ihr Territorium zu markieren? Vielleicht war es auch die natürliche Reaktion von Menschen, die eine ausgeprägte Angst vor engen Räumen hatten. Als sich die Tür öffnete und er endlich wieder durch die Nase atmen konnte, neigte Thorne der These zu, dass die Leute es einfach taten, weil sie es konnten.

Er hatte auch schon den einen oder anderen Mörder hinter Gitter gebracht, dessen Motive nicht komplizierter gewesen waren.

Catrin Coyne öffnete die Tür und sagte: »Oh!«

Thorne sah, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Schnell griff er in die Tasche und zog den verstärkten Umschlag heraus, in den er ihr Foto gesteckt hatte, damit sie wusste, warum er gekommen war. »Ich dachte, Sie hätten es gern so schnell wie möglich zurück.« Sie machte einen Schritt in die Wohnung, drehte sich um, und er folgte ihr. »Morgen wird es in den Zeitungen abgedruckt.«

Als sie das Wohnzimmer betraten, sagte Catrin, sie sei froh, das Foto zurückzuhaben. Es sei nett, dass Thorne es vorbeibringe. Sie nahm es aus dem Umschlag und legte es auf die schmale Ablage über dem Heizlüfter. Mit dem Rücken zu Thorne betrachtete sie es und sagte etwas, das er nicht verstand.

»Wie bitte?«

Weinend drehte sie sich um.

»Gibt es etwas Neues?«

»Wir folgen einigen Hinweisen«, sagte er.

Thorne hatte den Nachmittag im Büro verbracht. Er hatte eine Zusammenfassung seines Gesprächs mit Felix Barratt getippt, während seine Kollegen von ihrem Besuch im Whitehill-Gefängnis berichteten. Sie sagten, Billy Coyne sei »wie erwartet erschüttert« gewesen. Auch wenn sie mit jedem sprechen würden, der ihn in den letzten Monaten besucht hatte, war ihnen kein einziger Name auf der Liste auffällig erschienen. Der Beamte, der das Opfer von Coynes Mordversuch befragt hatte, erklärte, man könne ihn als Verdächtigen ausschließen. Er sei zum Zeitpunkt von Kierons Verschwinden in Leeds gewesen, wo er jetzt wohnte. Aber natürlich würden auch sämtliche engen Freunde und Verwandten des Mannes befragt werden.

Es gab eine Menge zu tun.

Alle waren beschäftigt.

In Thornes Fall hatte das bedeutet, eine ergebnislose Stunde am Telefon zu verbringen, auf der Suche nach jemandem aus einer örtlichen Vogelbeobachter-Gruppe oder einem ornithologischen Verein. Da an einem Sonntag niemand zu erreichen gewesen war, hatte er diverse Nachrichten hinterlassen. Dann hatte er Boyle über seine Aktivitäten informiert und ihm erklärt, welchen Eindruck er von dem Gespräch mit Felix Barratt hatte. Dass es sich lohne könne, seine Angaben zu überprüfen.

Wie erwartet, hatte der DCI abschätzig reagiert.

»Sie haben ein komisches Gefühl, was ihn angeht, stimmt’s?«

Thorne hatte nichts erwidert, sondern sich einfach nur vorgestellt, wie er dem Schotten ein paar Zähne austreten würde.

Catrin setzte sich hin und starrte ihn an. »Welche Hinweise?«

»Wir haben einige Anrufe bekommen. Und es werden hoffentlich noch viel mehr, sobald am Morgen die Zeitungen rauskommen.«

»Was haben die Anrufer gesagt?«

»Dass sie glauben, ihn gesehen zu haben«, sagte Thorne. »Wir gehen jedem einzelnen Hinweis nach, und sobald es etwas Handfestes gibt, erfahren Sie auf der Stelle davon. Ich verspreche Ihnen, dass wir Sie nicht im Dunkeln lassen.«

Sie nickte ausgiebig. Dann murmelte sie: »Im Dunkeln.« Dabei sah sie ihn an. »Er hat im Dunkeln immer noch Angst, wissen Sie? Wo auch immer er ist, ich hoffe, es gibt wenigstens ein bisschen Licht.«

Auch ohne das halbe Dutzend leerer Harp-Dosen auf dem Tisch hätte Thorne seine detektivischen Fähigkeiten nicht allzu sehr strapazieren müssen, um zu erkennen, dass Catrin getrunken hatte. Er hatte den Alkohol schon gerochen, als er ihr in die Wohnung gefolgt war. Und er hörte ihn ihr an. Nicht so sehr in ihrer Sprache – weder lallte sie noch stolperte sie über die Worte –, sondern wegen der Pausen, die sie machte; sie wirkten ungleichmäßig und deplatziert. Dass sie ein wenig betrunken war, sah er vor allem daran, wie sehr sie sich Mühe gab, nüchtern zu wirken. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass Schauspieler sich diesen Trick zunutze machten.

Mit dem Kopf deutete er auf die leeren Dosen und eine Untertasse voller Zigarettenstummel. »Sie haben ein bisschen Gesellschaft gehabt?«

Cat rang sich ein Lächeln ab. »Billys Schwester war hier.« Sie streckte die Hand aus und richtete zwei Dosen auf. »Ich hab nichts gegen einen Drink, aber nicht mal ich hätte die alle allein geschafft.«

»Es ist gut, jemanden aus der Familie um sich zu haben«, sagte Thorne.

»Wollen Sie eine?« Cat stand auf, sammelte die leeren Dosen ein und ging zur Tür. »Ich hole mir noch eine, also …«

Thorne ließ sich nicht lange überreden. Nach dem Besuch hier würde er sowieso nach Hause gehen. »Dann schließe ich mich gern an«, sagte er.

Eine halbe Minute später war sie mit zweien der Dosen zurück, die Angela in den Kühlschrank gestellt hatte. Sie machten sie auf und stießen an, als hätten sie etwas zu feiern. Vielleicht auch in der Hoffnung, bald Grund zum Feiern zu haben.

»Was ist mit Ihren Eltern?«, fragte Thorne.

»Dad ist abgehauen, als ich sechzehn war«, sagte sie. »Keine Ahnung, wo er jetzt ist. Mum ist vor ein paar Jahren gestorben, nicht lange nach Kierons Geburt.«

»Das tut mir leid«, sagte Thorne.

Sie zuckte die Achseln. Es war nicht der Tod ihrer Mutter, unter dem sie im Moment am meisten litt. »Und Sie?«

»Ja, meine Eltern leben noch. Eigentlich sollte ich sie mal wieder besuchen, aber …«

»Im Moment haben Sie zu viel zu tun. Tut mir leid.«

»Reden Sie keinen Blödsinn.« Thorne trank einen kräftigen Schluck. Und gleich noch einen. »Haben Sie mit Mrs Ashton gesprochen?«

Jetzt war es Cat, die zur Dose griff. »Na ja, sie hat angerufen, aber es lief nicht so toll. Ich war nicht besonders freundlich.«

»Es ist ganz normal, dass man jemanden sucht, dem man die Schuld geben kann«, sagte Thorne. »Auf längere Sicht hilft das allerdings nicht weiter.«

Für eine Weile starrten sie beiden auf ihre Getränke.

»Sind Sie nebenher so eine Art Sozialarbeiter? Oder Telefonseelsorger?«

Er lachte. »Ich kriege ja nicht mal mein eigenes Leben auf die Reihe.«

»Ach.« Cat sah ihm beim Trinken zu und nahm selbst noch einen Schluck.

Thorne fragte sich, ob es Catrin Coyne ein wenig von ihren Problemen ablenken würde, wenn sie sich die Probleme anderer Leute anhören würde. Aber er besann sich schnell. Jan, das Haus, die Scheiße, die er sich auch zehn Jahre nach dem Vorfall mit Frank Calvert von manchen Kollegen noch anhören musste.

Das alles war so unbedeutend.

»Glauben Sie, jemand hat ihn entführt?«, fragte sie. »Und hält ihn gefangen

»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte er.

»Sie können es mir ruhig sagen, wenn Sie das denken.« Sie wartete ab. »Wenn ihn jemand entführt hat, bedeutet das doch, dass er noch lebt, oder?«

Thorne wusste, dass die meisten entführten Kinder relativ schnell umgebracht wurden – meist innerhalb von ein oder zwei Tagen. Aber darüber wollte er jetzt nicht sprechen. Und noch weniger über die erschreckenden Fälle, in denen Kinder aus Gründen am Leben gelassen wurden, die man sich lieber nicht genauer ausmalen wollte.

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich glaube.« Sie drehte den Kopf zum Fenster und sprach leise in die dahinterliegende Dunkelheit. »Entweder ist er schon nicht mehr da … oder er ist irgendwo da draußen, fürchtet sich in der Dunkelheit zu Tode und ruft nach mir. In der einen Minute denke ich das eine, dann das andere. Und letztlich ist es kein großer Unterschied, beides fühlt sich an, als würde man mir ein Messer in die Brust rammen. Verstehen Sie, was ich meine?«

Thorne nickte und trank den Rest Bier aus seiner Dose. Als Cat sich wieder zu ihm umdrehte, hielt er die Dose hoch und sagte: »Sie haben nicht zufällig noch eine von denen?«

Was dich nicht umbringt

Подняться наверх