Читать книгу Was dich nicht umbringt - Mark Billingham - Страница 8
VIER
ОглавлениеEs war nicht nötig, noch einmal durchzugehen, was vor vier Stunden im Highgate Wood passiert war. Thorne wusste inzwischen, dass Catrin Coyne nichts gesehen hatte. Und natürlich wusste er auch, dass sie – wie jemand, der nicht aufhören konnte, an einer Entzündung im Mund herumzukauen – es sich höchstwahrscheinlich immer wieder auszumalen versuchte.
Was passiert sein könnte.
Das Schlimmste, immer das Schlimmste.
Im Moment zwang der Job Thorne dazu, in ihren schrecklichsten Ängsten zu stochern und sie ans Tageslicht zu zerren. Mit aller gebotenen Einfühlsamkeit Fragen zu stellen, die diesen Ängsten nur weitere Nahrung gaben. Er kam sich vor, als flüsterte er durch ein Megafon. Als schliche er auf Zehenspitzen in Doc Martens Größe 44 um das schlimmstmögliche Szenario herum.
»War mit Kieron alles … okay?«
»Okay?« Die Frau starrte ihn an. »Was soll das überhaupt heißen?«
Sie redeten jetzt seit einer halben Stunde, und sie hatte eindeutig genug. Vielleicht sehnte sie sich nach ein bisschen Zeit für sich, um mit ihren Qualen allein zu sein. Oder sie wollte mit Freunden oder Familienmitgliedern sprechen, von denen Thorne noch nichts wusste. Vielleicht wollte sie jetzt, wenige Stunden vor Einbruch der Dunkelheit, auch zurück in den Highgate Wood und sich an der Suche beteiligen. Möglicherweise fragte sie sich inzwischen aber auch einfach, wie diese dummen Fragen dabei helfen sollten, ihren Sohn zurückzubekommen. Und warum dieser Detective sie ein weiteres Mal stellte.
»Gab es irgendwelche Probleme in der Schule?«, fragte Thorne.
»Eigentlich nicht.«
»Dann vielleicht irgendwelche anderen Probleme?«
Thorne hatte sein Bestes gegeben. Vor dem Gespräch hatte er, ohne die Gründe näher auszuführen, erklärt, diese zweite ausführliche Fragerunde könne entscheidend sein. Er hatte sie darauf hingewiesen, dass ihre Unterhaltung aufgezeichnet wurde – wie auch die Gespräche, die an anderer Stelle im selben Gebäude mit Josh Ashton und seiner Mutter geführt wurden –, weil sie sich später als wichtig erweisen konnte. Dies sei das übliche Vorgehen. Thorne merkte, dass die Frau nicht dumm war, vermied aber trotzdem den Hinweis darauf, dass die Befragungen beweiserheblich waren und vor Gericht verwendet werden konnten, falls wegen des Verschwindens ihres Sohnes am Ende eine oder mehrere Personen vor Gericht gestellt werden sollten.
Wegen … welcher Anklage auch immer.
Wieder diese Sache mit der Empathie.
»Er hatte ein bisschen Mühe, sich einzugewöhnen, aber das ist schon zwei Jahre her.« Im Wald war ihm Catrin Coyne erregt vorgekommen, bereit zu kämpfen. Inzwischen machte sie einen müden, erschöpften Eindruck. Thorne wusste, dass sie noch nicht ganz dreißig war, doch im Augenblick hätte sie auch für vierzig durchgehen können. Sie zupfte an ihren kurzen dunklen Haaren und schien in der Puffa-Jacke zu verschwinden, die sie angelassen hatte, obwohl der Raum geheizt war. »Es gefiel ihm nicht, dass er Josh nicht mehr so oft sehen konnte. Es gefällt ihm immer noch nicht.«
»Wo ist seine Schule?«
»In Tufnell Park. Ich hab versucht, ihn in derselben anzumelden, in die Josh geht, aber es hat nicht geklappt.«
»Das ist schade«, sagte Thorne. »Offenbar sind sie richtig gute Freunde.«
»Ja.«
»Und Sie sind gut befreundet mit Joshs Mutter.«
Sie stieß ein tiefes, knappes Brummen aus. Dann wandte sie den Blick ab und schüttelte den Kopf. Auf Thorne wirkte es eher wie eine Geste der Verwirrung oder Ungläubigkeit, nicht wie eine entschlossene Verneinung. Er begriff, dass man in Situationen wie der, in die sie so unerwartet geraten war, um sich schlug und nach etwas – oder besser jemandem – suchte, dem man die Verantwortung zuschieben konnte. Als er sah, wie sie die Augen schloss und in ihrer großen blauen Jacke noch kleiner zu werden schien, vermutete Thorne, dass die Wut, die sie auf Maria Ashton gespürt hatte, schon ein wenig nachließ. Und dass sie begonnen hatte, sich Selbstvorwürfe zu machen, weil sie jemanden anderes – enge Freundin oder nicht – auf ihren Sohn hatte aufpassen lassen.
Eine Verletzung, über die sich über kurz oder lang eine hübsche dicke Kruste legen würde, die sie immer wieder aufkratzen konnte.
Thorne warf einen Blick auf die Uhr und auf das rote Licht der Videokamera, die gleich daneben montiert war. »Gibt es irgendjemanden, von dem Sie sich vorstellen können, dass er Ihrem Sohn etwas antun würde, Catrin?«
Sie riss die Augen auf. »Was?«
»Tut mir leid, aber ich muss das fragen.«
»Er ist sieben!«
»Also schön … Gibt es jemanden, von dem Sie sich vorstellen können, dass er Ihnen etwas antun würde?«
Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und starrte ihn mehrere Sekunden lang an. »Nein.«
»Wirklich niemanden?«
»Nein.«
»Erzählen Sie mir von Kierons Vater«, forderte Thorne sie auf.
Sie nickte und seufzte, als hätte sie bereits darauf gewartet. »Ist das wirklich nötig? Ich meine, Sie wissen doch offensichtlich schon alles.«
»Ich würde es gern von Ihnen hören.«
»Schauen Sie, Billy ist ein richtig guter Vater, klar?«
Thorne mühte sich um eine ausdruckslose Miene, was ihm offenbar nicht ganz gelang.
»Ja, okay, er ist im Augenblick nicht bei uns. Ich meine, in der Zeit, als er bei uns war. Er liebt Kieron wie verrückt. Er … liebt uns beide.«
»Aber er hat eindeutig einen Hang zur Gewalttätigkeit. Sie können also hoffentlich verstehen, warum wir ein bisschen mehr über ihn erfahren möchten.«
»Er ist das eine Mal ausgerastet.«
»Es war nicht nur das eine Mal, Catrin.«
»Die erste Sache war gar nichts«, sagte sie. »Die sogenannte schwere Körperverletzung. Ein Bier zu viel im Pub, und er hat nicht mal angefangen. Die Sache mit dem Autofahrer war idiotisch, da widerspreche ich Ihnen nicht. Und das weiß er.«
»Also ist zu Hause nichts in der Art vorgefallen?«
»Ich sag doch …«
»Gegenüber Ihnen oder …«
»Billy hat nie die Hand gegen mich erhoben, und er würde Kieron auf keinen Fall etwas antun.« Sie schüttelte den Kopf und lehnte sich entschlossen zurück. »Niemals.«
»Ist angekommen«, sagte Thorne. »Vielen Dank.«
»Ich kapiere es sowieso nicht.« Plötzlich wirkte die Frau wieder aufgebracht. »Ich meine, der arme Kerl sitzt in seiner Zelle, wozu soll die Fragerei also gut sein?«
Thorne nickte. Hatte er Boyle nicht mehr oder weniger dieselbe Frage gestellt? »Wie gesagt, ich muss diese Fragen stellen.«
Es klopfte laut an der Tür. Ajay Roth steckte den Kopf herein und erklärte, er müsse Thorne kurz sprechen. Thorne unterbrach die Befragung und versprach Catrin Coyne, sich zu beeilen.
Vor der Tür sagte Roth: »Ich hab’s dem Boss schon gesagt, aber ich dachte, Sie sollten auch Bescheid wissen: Wir mussten mit Josh Ashton aufhören.«
»Weil …?«
»Weil der arme kleine Kerl fix und fertig ist. Es ist, als würde man gegen eine kleine Ziegelwand anreden.«
»Hat er etwas zu essen bekommen?«
»Ja, klar. Die Sozialarbeiterin hat ihm ein Sandwich besorgt, ehe wir angefangen haben, aber sie meint, dass er immer noch nicht in der Lage ist. Es könnte mehr schaden als nützen, sagt sie.«
»Vielleicht braucht er ein bisschen Schokolade oder so was.«
Roth nickte. »Das war auch mein erster Gedanke. Soll er ein bisschen Zucker bekommen, ein paar Dosen Fanta vielleicht. Aber seine Mutter sagt, er darf nichts mit Kohlensäure trinken.«
»Orangensaft?«
Der DC schüttelte den Kopf. »Er und seine Mutter sind schon auf dem Weg nach Hause, Kumpel. Sie sagt, sie kommt gleich morgen früh wieder mit ihm her.«
»Also gut.« Thorne trat auf die Tür des Vernehmungsraums zu.
»Wie läuft’s da drin?«, fragte Roth.
»Tja, zuerst hatte ich den Eindruck, sie macht auch dicht, aber dann ist sie wieder etwas munterer geworden. Mal sehen.«
Ehe Thorne die Tür öffnen konnte, kam Gordon Boyle mit einem Plastikbecher Kaffee um die Ecke. Er schaute auf die Uhr. »Was glauben Sie, wie lange Sie noch brauchen?«
»Eine Stunde vielleicht«, sagte Thorne.
»Gut.« Boyle trank seinen Becher aus und schaute sich nach einem Abfalleimer um. »Ich organisiere ein Auto, das sie nach Hause bringt, und suche jemanden, der sie begleitet.«
»Das mache ich schon.« Thorne wandte sich an Roth. »Haben Sie Lust, mitzukommen?«
Roth antwortete, dass er nichts Besseres zu tun habe.
»Wie Sie wollen«, sagte Boyle. »Das übliche Vorgehen, wenn Sie da sind, klar? Sie wissen, was wir brauchen.«
»Aber auf die sanfte Tour.« Thorne warf Roth einen fragenden Blick zu. »Einverstanden?«
»Sanft wie ein Baby, Kumpel.«
Thorne wandte sich zur Tür.
»Eigentlich schade«, sagte Boyle.
Thorne hielt inne. »Was?«
»Der Ausgleich der Schweizer.« Er schüttelte den Kopf. »Ich schätze, eure Jungs wollten nicht mit einem Unentschieden anfangen.«
»Das haben wir 1966 auch«, sagte Roth. »Null-null gegen Uruguay.«
Thorne hörte schon nicht mehr zu. Er ging im Kopf noch einmal das Gespräch mit Catrin Coyne durch. Wie lebhaft sie unmittelbar vor der Unterbrechung gewesen war und was sie ihm über den Vater ihres vermissten Kindes gesagt hatte.
Vielleicht hatte Boyle nicht ganz unrecht gehabt, als er ihn ins Spiel gebracht hatte.
Dieses kurze Zögern.
Er … liebt uns beide.