Читать книгу Was dich nicht umbringt - Mark Billingham - Страница 4
ОглавлениеAuf halber Höhe der Haustür, dort wo die kackbraune Farbe nicht langsam abblättert oder vollständig fehlt, sieht er eine Reihe von Handabdrücken. Er stößt den Atem aus, den er unwillkürlich angehalten hat, beugt sich ein Stück vor und denkt an die feuchte Hand, die er am Tag zuvor im Revier geschüttelt hat, an den schwieligen Daumen und die dicken Finger; ihre Umrisse sind auf der Oberfläche perfekt zu erkennen, in Ziegelstaub und Blut.
Er legt seine eigene, viel kleinere Hand auf einen der Abdrücke und schiebt die Tür auf.
Schnell wie immer tritt er ins Haus.
Ein paar Sekunden bleibt er im Halbdunkel stehen.
Er lauscht und atmet prüfend ein.
Die Musik, die er aus einem der an die Diele grenzenden Zimmer hört – blechern, wie aus einem billigen Radio – ist dieselbe, die er am Tag zuvor aus dem Umkleideraum des Reviers gehört hat. Dieser Eurythmics-Song über Engel und Herzen. Auch die Gerüche sind vertraut, wenn auch nicht auf Anhieb zu identifizieren.
Aus der Küche etwas … Verbranntes oder im Topf Angesetztes. Der Schimmel hinter der Strukturtapete oder vielleicht in den nackten Dielen unter seinen Füßen … und ein wesentlich satterer Gestank, der aus dem oberen Geschoss herunterdringt und stärker zu werden scheint. Schwitzend bleibt er stehen und streckt einen Arm aus, um Halt zu suchen. Er könnte schwören, dass der Gestank sich wie weicher Nieselregen auf sein Gesicht und seinen Hals legt.
Verwesendes Fleisch und feuchtes Metall.
Im Gegensatz zur Diele ist die Treppe mit einem dicken Teppich ausgelegt. Sobald er den ersten Schritt nach oben macht, spürt er, wie sein Fuß tief in den Flor einsinkt. Er sieht hinab und entdeckt eine zähflüssige graugrüne Flüssigkeit, die hochsteigt und in seine Schuhe sickert. Schnell hebt er den Kopf und fixiert die oberste Stufe. In diesem Moment spürt er, wie etwas an seinem Fußgelenk entlangstreift. Als er das obere Ende der Treppe erreicht, ist er außer Atem, seine Socken sind durchweicht, und unter seinen Schuhsohlen bewegt es sich. Er drückt beide Füße fest auf den Boden, etwas wird zusammengepresst und platzt schließlich.
Die Galle steigt ihm hoch, er greift nach dem Treppengeländer. Für einen Moment hat er das Gefühl, jeden Augenblick hintenüberzufallen und die Treppen hinunterzustürzen.
Zu fallen wäre in Ordnung, denkt er, immer weiter zu fallen. Der Schmerz würde nicht lange dauern, und die Dunkelheit wäre besser als das hier.
Die Leere.
Er zwingt sich, einen Schritt zu machen, hält sich nach rechts und geht durch die Tür am Ende des Gangs, der schmaler wird und einen Bogen um den Fuß einer zweiten Treppe macht. Über ihm liegt das ausgebaute Dachgeschoss, und er weiß, dass die drei kleinen Betten, die dort stehen, ordentlich gemacht sind, eins wie das andere. Er muss nicht nachschauen, denn er weiß, dass dort oben niemand ist. Die Zeit drängt, er kann sich keine Verzögerung leisten.
Drei dicke Kissen, das ist alles. Drei Paare plüschiger Pantoffeln mit Augen, Ohren und Schnurrhaaren. Drei frisch gewaschene Kissenbezüge mit in Rot, Blau und Grün eingestickten Initialen.
L, S, A-M.
Er geht weiter auf das große Zimmer auf der Vorderseite des Hauses zu, das Elternschlafzimmer. Auf dieser Etage gibt es noch andere Räume, eine ganze Reihe von Türen, aber er weiß genau, wohin er gehen muss.
Wo er gebraucht wird.
Es sind noch sechs Meter, mehr als sechs Meter, aber es kommt ihm vor, als würde er die Tür mit wenigen Schritten erreichen. Sie öffnet sich, als er nach dem Türknauf greifen will. Sofort hebt er die Hand, um Nase und Mund zu bedecken.
Der Mann, der dort mit ausgebreiteten Beinen im Kamin sitzt, schaut auf, als würde er sich nicht darum scheren, dass sein halbes Gesicht fehlt und dass der größte Teil seines Gehirns wie getrockneter Porridge auf dem Spiegel über dem Kaminsims klebt. Als wäre ihm nicht klar, dass er eigentlich nichts sehen kann. Sanft schüttelt der Mann die Reste seines Kopfes, ein bisschen eingeschnappt, weil man ihn hat warten lassen.
Er sagt: »Da sind Sie ja endlich.«
Die drei Gestalten, die Seite an Seite auf dem Bett gegenüber liegen, rühren sich nicht. Ihre Haare sind gewaschen und gebürstet, ihre Nachthemden tadellos sauber. Sie schlafen, das ist alles, so muss es sein, auch wenn es natürlich seltsam ist, dass der Gewehrschuss sie nicht geweckt hat.
Um auf sich aufmerksam zu machen, räuspert sich der Mann im Kamin. Es klingt rasselnd vor Blut, wobei es kaum vorstellbar ist, dass er noch Blut in sich hat. Es rinnt so viel an der Wand herunter, durchtränkt seine Weste, kriecht an seinen Beinen entlang über die Fliesen. Er hebt einen Arm und bietet Thorne das Gewehr an. Lässt es baumeln.
»Es ist immer besser, auf Nummer sicher zu gehen«, sagt er. »Und ich weiß, wie sehr Sie es wollen.«
Beim ersten Mal hat er gezögert, auch noch bei den nächsten paar Malen. Jetzt aber tritt er vor, nimmt in Ruhe, was ihm angeboten wird, und beugt sich hinunter, um den Lauf gegen die Stirn des Mörders zu pressen. Er sieht, wie das Metall ins zerrissene weiße Fleisch eindringt, schiebt es in die Höhle, die einmal das Gehirn des Mannes enthalten hat.
»Netz und doppelter Boden, Tom«, sagt der tote Mann. »Netz und doppelter Boden …«
Er schließt die Augen und drückt nur zu gern den Abzug.
Als er den Rückstoß nach der Explosion spürt, spritzt etwas Warmes auf seine Wange und seine Ohren dröhnen. Er dreht sich um und sieht die sechs weißen Füße, die in einer Reihe auf der Bettkante liegen. Es ist eigentlich seltsam, denn er kann kaum etwas hören, aber plötzlich wird diese Stimme lauter – die Musik, die immer noch unten aus der Küche dringt, das Lied über Engel. Wenn man es gründlicher bedenkt, ist es vielleicht nicht seltsamer als alles andere, trotzdem ist ihm jedes Mal bewusst, wie sonderbar es ist, und wie passend.
Inzwischen glaubt er, dass es einfach daran liegt, dass der Song den perfekten Soundtrack für den Moment bietet, wenn das jüngste Mädchen leise stöhnt und dann die Augen öffnet. Wenn die drei sich, eins nach dem anderen, aufsetzen und ihn mit großen Augen anschauen, blinzelnd und verwirrt.
Inzwischen wachte Thorne morgens nicht mehr ruckartig auf. Er keuchte und schrie nicht mehr. Stattdessen war es mittlerweile eher so, als stiege er aus der dunklen Tiefe des Wassers langsam an die helle Oberfläche. Dabei blieb alles still, bis seine Bartstoppeln über das Kissen kratzten, wenn er mit einem Ruck den Kopf drehte, um zu sehen, ob seine Frau neben ihm lag.
Natürlich tat sie das nicht.
Es war besser, dachte er, dass Jan nicht mehr da war, die nur noch auf dem Papier seine Ehefrau war. Er konnte sich gut ausmalen, was sie wahrscheinlich gesagt hätte. Und in welchem Tonfall. Darin hätte Sorge mitgeschwungen, klar, aber auch etwas anderes, das ihm deutlich machte, dass sie der Sache überdrüssig war und langsam die Geduld verlor. Was auch für viele andere Dinge galt.
Wieder der Traum?
Nicht genau derselbe.
Zehn Jahre, Tom.
Es ist wohl kaum meine Schuld.
Sogar noch mehr …
Er zog sich schnell an und ging nach unten. In der Küche schaltete er den Wasserkocher ein, dann das Radio und steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster. Er holte Butter und Marmite aus dem Kühlschrank und merkte, dass er »There Must Be An Angel« vor sich hin summte. Als er sich schließlich Milch in seinen Tee goss, ging er allerdings dazu über, stumm den Song der beiden Comedians aus Fantasy Football League mitzusingen, der alle fünf Minuten im Radio zu laufen schien. Ehrlich gesagt ging er ihm langsam auf die Nerven, was auch daran liegen mochte, dass einer der beiden ein verdammter Chelsea-Fan war. Thorne konnte nicht richtig glauben, dass der Fußball nach Hause kommen und der Schmerz von dreißig Jahren in der nahen Zukunft enden würde. Aber es ließ sich nicht leugnen, er freute sich auf die drei bevorstehenden Wochen.
Vorausgesetzt, es kam nichts dazwischen.
Jan und der Wichser, mit dem sie jetzt zusammenlebte.
Ein Mord.
Er hatte mit ein paar Jungs auf der Arbeit gesprochen und versucht, seine Schicht zu tauschen, um am Nachmittag das Eröffnungsspiel zwischen England und der Schweiz sehen zu können, aber davon wollte sein DI nichts wissen. Thorne hatte sich alle Mühe gegeben, seinen Ärger nicht zu offen zu zeigen. Sicher lag es daran, dass der Mann Schotte war. Wahrscheinlich würde das miese Arschloch sowieso die Schweizer anfeuern. Sollte ein Wunder geschehen und der Arbeitstag ruhig verlaufen, hatte er vielleicht immer noch die Möglichkeit, um die Ecke ins Oak zu laufen und das Spiel dort zu sehen. Im schlimmsten Fall würde er irgendwo ein Radio auftreiben.
Bis dahin würde er auch damit aufgehört haben, seine Wange zu berühren, um Spritzer abzuwischen, die nicht da waren. Und der üble Geruch, von dem er glaubte, er klebte an ihm, würde ein wenig nachgelassen haben.
Nicht, dass es viel zu bedeuten hatte.
Er machte sich nichts vor.
Die Erinnerung daran, was in dem Haus tatsächlich geschehen war, würde natürlich immer gegenwärtig sein, aber so hartnäckig sie sich auch hielt, der Traum unterschied sich doch deutlich von der Wirklichkeit. Aus unerfindlichen Gründen tauchte die Ehefrau selten auf, die erwürgt in der Küche lag, die Thorne nie betrat. Die Mädchen waren in Wirklichkeit in einem kleinen Schlafzimmer im hinteren Teil des Hauses gefunden worden, nebeneinander auf dem Boden liegend, zwischen Etagenbetten und einer Matratze. Und das Entscheidende: Menschen starben immer nur einmal.
Thorne brachte sein schmutziges Geschirr zum Abtropfbrett. Er schaltete das Radio aus. Dann nahm er seine Tasche und die Lederjacke vom Stuhl, auf den er sie am Abend zuvor geworfen hatte, und ging hinaus in den Flur.
Er hob eine Hand, drückte sie flach gegen die Haustür und staunte, wie klein sie wirkte. Die Abdrücke auf jener Tür waren ein neues Element in seinem Traum gewesen, wie auch das schleimige Zeug auf der Treppe. Alles so unangenehm wie immer, aber nichts, womit er nicht leben konnte, nichts, mit dem er nicht bereitwillig leben würde. Er öffnete die Tür, blinzelte ins Sonnenlicht und sah dem Nachbarn von gegenüber eine Weile dabei zu, wie er sich abmühte, eine Fahne mit dem Georgskreuz an die Antenne seines Wagens zu montieren.
Der Mann schaute auf und winkte. »Was meinen Sie, lockerer Sieg heute?«
»Ich will es hoffen«, sagte Thorne.
Er dachte: Netz und doppelter Boden …
Der Traum war jedes Mal viel besser als die Erinnerung.
Denn im Traum konnte er sie retten.