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SIEBEN

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Es war kurz nach Mitternacht, als Thorne in sein Haus in Highbury zurückkehrte, halb eins, als er mit ein paar Scheiben Käsetoast und einer Dose Kestrel ins Wohnzimmer trat. Er nahm vor dem Fernseher Platz. Eigentlich hatte er nicht damit gerechnet, dass der Tag so heftig werden würde, aber da er dazu neigte, sich grundsätzlich aufs Schlimmste gefasst zu machen, hatte er für alle Fälle den Videorekorder programmiert. Netz und doppelter Boden … Beim Essen sah er sich das Spiel an, in einer Hand die Fernbedienung, um jederzeit den schnellen Vorlauf drücken zu können. Trotzdem fiel es ihm schwer, mehr als ein flüchtiges Interesse aufzubringen, was nicht nur daran lag, dass er – Gordon Boyle sei Dank – das Ergebnis schon kannte.

Er hatte Catrin Coyne auf ihrem Sofa schlafend zurückgelassen.

Mehr als eine Stunde lang hatte er sie festgehalten, während sie weinte, wobei er sich mehr als unbehaglich fühlte. Als ihr Kopf an seiner Schulter lehnte, war er den Eindruck nicht losgeworden, dass eigentlich jemand anders an seiner Stelle hätte dort sein sollen. Unter normalen Umständen hätte wahrscheinlich Maria Ashton sie getröstet, allerdings war ihre Beziehung vermutlich im Augenblick ziemlich angespannt. Er hoffte für sie beide, dass sie irgendwann über diese Situation hinwegkommen würden.

Auf dem Bildschirm fiel gerade das Tor von Shearer, und die Menge stimmte, wie zu erwarten war, »Three Lions« an.

Thorne dachte, dass schon verdammt viel weniger als ein vermisstes Kind reichte, um eine Beziehung zu vergiften. Er trank den letzten Schluck Bier. Viel war nicht nötig, um die Magie zu zerstören.

Eine winzige Lüge, eine egoistische Bemerkung.

Der kleinste Vorfall konnte reichen.

Nach Hause zu kommen und zu sehen, wie seine Frau sich von ihrem Dozenten vom Schreibkurs bumsen ließ, hatte jedenfalls Wirkung gezeigt.

Ihre verzweifelten Beteuerungen. Sein verdammter haariger Rücken.

Beim Betreten des Hauses hatten ihn zwei Nachrichten von Jan erwartet. Der passende Abschluss eines rundum beschissenen Tags. Fast immer bedeutete das blinkende Licht vom Anrufbeantworter irgendwelche schlechten Neuigkeiten, aber in letzter Zeit hatte Thorne geradezu darauf gehofft, dass irgendein Kollege ihm Autopsieergebnisse durchgeben oder ihn an einen Tatort rufen wollte. Alles besser als ein Steuerberater oder, Gott bewahre, ein Anwalt.

Mit Mord konnte er umgehen.

Stattdessen hatte er, als er in der Küche stand und zusah, wie sein Brot auf dem Toaster langsam braun wurde, Jans Stimme gehört. Höflich, schließlich waren sie erwachsen und hatten schon vor langer Zeit aufgehört, sich gegenseitig anzubrüllen. Trotzdem klang ihre Stimme so scharf, dass er seinen Cheddar an ihr hätte reiben können.

»Wir müssen den Hausverkauf organisieren, Tom … es zieht sich hin … wir hängen beide in der Schwebe.«

Thorne fragte sich, seit wann »in der Schwebe« gleichbedeutend war mit »in wilder Ehe mit einem geilen Dozenten in Cockfosters lebend«. Aber er wusste, worauf seine Frau hinauswollte. Seine Frau im juristischen Sinne, wenn schon in keinem anderen mehr. Nachdem sie sich vor Jans Auszug vor ein paar Monaten auf einen vernünftigen Umgang verständigt hatten, war Jan nur zu bereit gewesen, ihm die Abwicklung des Verkaufs zu überlassen. Nicht weil sie sich im Entferntesten geschämt hätte, ihn nach zwölf Jahren zu verlassen, sondern weil Thorne als Polizeibeamter »vielleicht einen besseren Stand gegenüber Maklern und solchen Leuten« haben würde. Zwar hatte Thorne nicht widersprochen, weil er die Sache auf keinen Fall Jan oder ihrem neuen Freund überlassen wollte. Bisher hatte er allerdings nicht genügend Enthusiasmus aufgebracht, um auch nur das Geringste zu unternehmen.

Jan vermutete, dass das Haus ihnen hundertfünfundsiebzig Riesen einbringen würde, genug, dass sich beide eine anständige Wohnung leisten konnten. Hundertfünfundsiebzig Riesen, wo sie gerade mal sechzigtausend bezahlt hatten. Inzwischen wechselten Immobilien für geradezu unanständige Summen den Besitzer.

Er dachte daran, was er zu Catrin Coyne in diesem Wohnblock gesagt hatte.

Hübsch …

Und an ihre spitze Antwort, die er sich redlich verdient hatte.

Er lehnte sich zurück und schaute sich im Zimmer um, das wesentlich mehr Platz bot, als Catrin und ihrem Sohn zur Verfügung stand. Inzwischen kam er sich hier wie ein Geist vor, vor allem seit dem Tag, an dem Jan gekommen war, um ihre Sachen in den Transporter zu laden, den der Dozent für den Tag gemietet hatte. Es war ja nicht so, als hätten sie jemals viele Sachen angeschafft.

Vor zwölf Jahren war alles so anders gewesen.

Thornes alter Herr hatte eine beträchtliche Summe auf die hohe Kante gelegt, die er ihnen nur zu gern gespendet hatte. Zusammen mit dem Geld, das Jans Eltern in den Topf geworfen hatten, war es genug für eine ordentliche Anzahlung gewesen. Das Haus lag nahe genug an dem Revier, in dem Thornes Team arbeitete, und an der Schule, in der Jan unterrichtete. Für Thornes Geschmack hätte eine größere Entfernung zum Stadion von Arsenal nicht geschadet, dafür gab es einen hübschen Park, und die U-Bahn-Station Highbury lag praktisch vor der Haustür. Sie waren noch nicht ganz einen Monat verheiratet gewesen und konnten es kaum abwarten, in dieses Haus zu ziehen, das ihnen so perfekt erschien. Sich dort für ein oder zwei Jahre einzurichten, ein bisschen Geld beiseitezulegen und dann zu versuchen, das Baby zu bekommen, das sie sich beide wünschten.

Eine Weile versuchen, eine Weile scheitern.

So tun, als hätte man vergessen, dass man es überhaupt versucht hat.

Weitermachen, als wäre es letztlich nicht wichtig.

Thorne drückte den schnellen Vorlauf und musste unwillkürlich grinsen, als er die Spieler wie Verrückte hinter dem Ball herrennen sah. Vor dem späten Elfmeter der Schweizer schaltete er auf normale Geschwindigkeit zurück. Er bekam von alldem nicht mehr viel mit. Stattdessen saß er ruhelos im Sessel und fühlte sich nicht annähernd so müde, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Ihm war klar, dass eine Dose schwaches Lager nicht viel bringen würde, weshalb er aufstand, in die Küche ging und eine zweite holte.

Er fragte sich, ob Catrin Coyne dieselben Schlüsse gezogen hatte, zu denen er und seine Kollegen vor einigen Stunden gelangt waren. Auch wenn es unausgesprochen geblieben war und sich daran zumindest bis morgen nichts ändern würde, ging das Team schon von der Vermutung aus, dass Kieron Coyne in absehbarer Zeit nicht einfach wiederauftauchen würde.

Dass er sich weder verlaufen hatte noch sich versteckte.

Dass sie nach einem vermissten Kind und einem oder mehreren Entführern suchten.

Thorne vermutete, dass auch Catrin es so sah. Er glaubte, es in ihren Augen gesehen zu haben, in dem Moment, als er die DNA-Probe erwähnt hatte und jeglicher Kampfgeist aus ihr gewichen war. Er hatte es gespürt, als sie ihr Gesicht gegen seine Jacke gedrückt und sich an den Sofakissen festgeklammert hatte.

Thorne ging zurück Richtung Wohnzimmer, blieb aber in der Tür stehen. Er lehnte sich an den Rahmen, öffnete die Dose und starrte auf den Fernseher. Er mochte es, von hier aus zuzusehen.

An derselben Stelle hatte er vor ein paar Monaten gestanden und die unglaublichen Szenen in den Nachrichten beobachtet, als Take That ihre Auflösung angekündigt hatten. Das Heulen, die Hysterie, die Anrufe bei Suizid-Hotlines. Als er jetzt daran zurückdachte, schüttelte er den Kopf. Wenn diesen jungen Leuten in ihrem Leben kein schlimmerer Schmerz mehr bevorstand, konnten sie wahrhaftig von Glück reden.

Im Studio quasselten Des Lynam und die in Anzügen steckenden Experten, während im Hintergrund die Menge im Stadion, vom Endresultat offenbar nicht entmutigt, wieder diesen verdammten Song grölte.

Es war alles bloß Lärm.

Thorne blieb noch eine Weile stehen, trank und dachte an Catrin Coyne. Wie das Leid sich bei ihr einnisten und es sich mehr oder weniger gemütlich machen würde, bis es zu etwas wurde, mit dem sie einfach lebte. Welche Richtung ihr Leben nehmen würde, wenn sie den Entführer ihres Sohnes nicht schnappten. Wenn sie Kieron nie wiedersehen würde.

Dreißig Jahre Schmerz.

Was dich nicht umbringt

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