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ZWEI

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Im traditionellen Sinne hätte Thorne sich nicht als abergläubisch bezeichnet. Er hatte kein Problem damit, unter Leitern hindurchzugehen, und hielt nichts von dem Unsinn, dass schwarze Katzen Glück – oder Unglück – bringen sollten. Doch wie die meisten Polizisten, die er kannte, und wie fast alle, die auf die eine oder andere Weise mit Notfalleinsätzen zu tun hatten, achtete er peinlich genau darauf, niemals von einer ruhigen Schicht zu sprechen. Es gab nicht viele Regeln, auf die er schwor, aber diese – auch wenn es eine ungeschriebene war – gehörte eindeutig dazu. Nur Masochisten und Geisteskranke redeten so. Wer dumm genug war, es trotzdem zu tun, musste mit einem leichten Klaps oder zumindest mit etwas ziemlich Ekligem in seinem Tee rechnen.

Bestimmte Dinge sagte man einfach nicht.

Vor einer halben Stunde hatte Thorne noch entspannt im Oak gesessen und vergnügt mit einem Kollegen darüber diskutiert, welche Aufstellung Terry Venables wohl ins Spiel schicken würde. Plötzlich hatte sich der hirnlose DC aber zu ihm herübergebeugt, die Hände gerieben und gesagt: »Zum Glück ist es eine ruhige Schicht.« In diesem Augenblick war Thorne klar gewesen, dass seine Chancen, das England-Spiel live zu sehen, komplett den Bach runtergegangen waren.

Logischerweise hatte sich keine fünf Minuten später sein Piepser gemeldet.

Er hatte eigentlich gerade ein neues Guinness bestellen wollen, jetzt stürzte er stattdessen den Rest seines alten herunter und ging zum Telefon hinter der Bar, um die Zentrale anzurufen. Während er sich Notizen machte, warf er dem DC, der nun von allen am Tisch eins aufs Dach kriegte, zornige Blicke zu. Gleichzeitig fragte er sich, wie er den Arbeitstag, der plötzlich ziemlich lang zu werden versprach, hinter sich bringen sollte, ohne das Resultat zu erfahren. Unwillkürlich musste er an diese Episode der Serie Whatever Happened to the Likely Lads? denken, in der Bob und Terry vor dem gleichen Problem stehen.

Thorne parkte auf der Muswell Hill Road hinter einer Reihe von Streifenwagen und ging ein Stück zurück den Hügel hinauf zum Eingang am Gypsy Gate. Er wurde von einem PC angehalten, der noch unglücklicher wirkte, hier sein zu müssen, als er selbst. In unmissverständlichen Worten wurde ihm erklärt, der Wald sei im Augenblick für die Öffentlichkeit gesperrt. Thorne zeigte dem Mann seinen Dienstausweis und betrat das Gelände. Der Weg unter seinen Füßen war nach einer guten Woche mehr oder weniger ununterbrochenen Sonnenscheins steinhart. Als er an einem der Wärterhäuschen vorbeiging und sich nach links in Richtung Spielplatz wendete, konnte er sich die künstlich aufgeregte Stimme John Motsons vorstellen: »Perfekte Bedingungen fürs Spiel hier in Wembley heute Nachmittag …«

Thorne kannte den Highgate Wood ein bisschen, da er ein- oder zweimal mit Jan hier gewesen war. Er hatte sich nie besonders für Spaziergänge begeistert, es sei denn, sie führten möglichst direkt zu einem Pub. In den unglücklichen Fällen, in denen es Jan gelungen war, ihn aus dem Haus zu zerren, waren sie meist nach Highbury Fields gegangen, was näher an ihrem Haus lag, oder hinüber zum Waterlow Park, etwa anderthalb Kilometer südlich, zwischen hier und Archway.

Vielleicht machte ihr Dozent ja gerne Spaziergänge, dachte Thorne.

Er schob einen Ast zur Seite.

Vielleicht hatte das die große Anziehungskraft ausgemacht.

Vielleicht war das rückgratlose Arschloch ein Wandersmann.

Thorne nickte einem vage bekannten DC zu, der eins dieser hochmodernen tragbaren Telefone mit sich herumschleppte, die inzwischen an ausgewählte Einsatzgruppen ausgegeben wurden, meist zur Benutzung in entlegenen Gebieten. Sie sahen aus, als hätte ein Schweißer-Azubi sie zusammengebaut: unförmige graue Kästen mit einem angedeuteten Griff, einer Gummiantenne und einem Hörer. Thorne begriff den Sinn dieser Geräte, und im Notfall, wenn die nächste Telefonzelle kilometerweit entfernt war, mochten sie ihren Nutzen haben. Bei den wenigen Gelegenheiten allerdings, bei denen er Anlass gehabt hatte, eins zu benutzen, hatte er keinerlei Signal empfangen.

In letzter Zeit allerdings hatte er häufiger richtige Mobiltelefone gesehen. Bei mehreren Gelegenheiten hatte er Yuppies mittleren Alters dabei beobachtet, wie sie in Geräte brüllten, die wie riesige Walkie-Talkies aussahen. Gelegentlich hatte er auch in Autos gesessen, in deren Mittelkonsole das Kabel eines Telefons eingesteckt war. Er rechnete damit, dass diese Dinger in absehbarer Zeit ziemlich verbreitet – und sicher auch kleiner – sein würden, aber seit er im Schaufenster von Dixons ein Preisschild gesehen hatte, bezweifelte er, dass Leute, die nicht mehrere Hunderttausend Pfund im Jahr verdienten, sich je so etwas leisten können würden.

Ein modisches Spielzeug für Deppen und Reiche.

Bis Thorne endlich den oberen Teil des Klettergerüsts sehen konnte, hatte er bei einem weiteren halben Dutzend männlicher und weiblicher Constables seinen Dienstausweis vorzeigen müssen. Rund dreimal so viele Beamte hatte er langsam zwischen den Bäumen hindurchstreifen oder sich den Weg durchs dichte Unterholz bahnen sehen. Was kaum überraschend war. Er wusste, wenn ein Kind vermisst wurde, trommelten die meisten uniformierten Polizisten zunächst so viele Kollegen zusammen wie irgend möglich. Erst wenn das Kind nach einer halben Stunde noch nicht wiederaufgetaucht war, wurde die Kriminalpolizei alarmiert.

Es sei denn, das andere Kind hatte etwas beobachtet.

Das Kind, das nicht vermisst wurde.

Als Thorne aus dem dichter bewaldeten Gebiet heraustrat und das Cricketfeld erreichte, sah er bereits das Absperrband, das um den Spielplatz herum gespannt worden war und auch die beiden Zugänge versperrte. Er entdeckte ein oder zwei bekannte Gesichter und hob die Hand zum Gruß. Egal, wie viele Einsatzkräfte für die Suche nach dem vermissten Jungen mobilisiert worden waren, sie würden alle Hände voll zu tun haben, wenn sie den gesamten Wald vor Einbruch der Dunkelheit gründlich durchkämmen wollten – ob nun Mitte Juni oder nicht.

Auf einer Fläche von rund 300 Hektar konnte sich ein Kind lange verstecken.

Eine Leiche sogar noch länger.

»Tom …«

Er blickte auf und sah, dass sein Vorgesetzter ihn energisch zu sich winkte. Thorne nickte und ging schneller. In mehr als fünf Jahren als Detective Sergeant hatte er unter einer Reihe von DIs gearbeitet, doch Gordon Boyle zählte zu denen, die er am wenigsten mochte. Und das lag nicht nur an ihren Differenzen beim Thema Fußball. Der Schotte war ihm zu sehr darauf bedacht, den erfolgreichen Teamleiter herauszukehren, sobald eine Ermittlung gut lief, bei Fehlschlägen dagegen die Verantwortung anderen zuzuschieben. Für Thornes Geschmack war er einfach zu selbstverliebt.

Fünf Jahre …

Je nachdem, mit wem man sprach, war Thorne entweder zu faul für die Prüfung zum Inspector oder er hatte zu viel Angst vor dem Durchfallen. Vielleicht hatte er aber auch Angst, sie zu bestehen. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, musste Thorne einräumen, dass jede dieser Theorien ein Körnchen Wahrheit enthielt. Gott sei Dank hatte zumindest Jan es aufgegeben, ihm damit auf die Nerven zu fallen, seit sie begriffen hatte, dass der Gehaltsunterschied die Mühe kaum lohnte.

»Irgendwann mach ich es«, hatte er gesagt, als sie zum letzten Mal darüber gesprochen hatte. Damals, als es zwischen ihnen noch Gespräche gab.

Thorne kam an DC Ajay Roth vorbei, der sich, Stift und Notizbuch gezückt, mit einer alten Frau mit Hund unterhielt. Der Blick, den er Thorne zuwarf, ließ durchblicken, dass es sich nicht um das aufschlussreichste Gespräch aller Zeiten handelte.

»Na endlich«, rief Boyle herüber, ehe er sich wieder einer Unterhaltung zuwandte, die er über Funk führte. Als Thorne ihn erreichte, beugte der DI sich vor und brummte: »Schön, dass Sie es zu uns geschafft haben.«

»Sir«, sagte Thorne, als käme die respektvolle Anrede von Herzen; als würde sein Atem nicht nach Bier riechen; als wäre ihm nicht klar, dass auch Boyle noch nicht lange hier sein konnte.

Der DI führte ihn zum Rand des Spielplatzes, wo Thorne einem uniformierten Inspector namens Bob Docherty die Hand schüttelte, mit dem er schon ein- oder zweimal zu tun gehabt hatte und der offensichtlich die Suchaktion koordinierte. »Um ehrlich zu sein, könnte ich noch fünfzig Beamte gebrauchen«, sagte Docherty leise und atmete scharf ein. Dann gingen sie zu dritt zu einer Bank ganz in der Nähe, auf der ein kleiner Junge in einer gelben Jacke zwischen zwei Frauen saß.

Boyle wirkte ein wenig verlegen, als sei er unschlüssig, welche Miene er aufsetzen solle. Ernst, aber nicht zu ernst? Entspannt, um zu demonstrieren, dass kein Anlass zur Panik bestand? Wenn man den Mann mit einem Kerl in den Verhörraum setzte, der einen bewaffneten Raubüberfall begangen hatte, war er ganz in seinem Element. Aber der Umgang mit normalen Bürgern, vor allem, wenn sie Angst hatten oder zu Schaden gekommen waren, war nie seine starke Seite gewesen.

»Also gut«, sagte er.

In letzter Zeit dachte Thorne nicht gern darüber nach, ob vielleicht auch er sich damit schwertat. Seine Empathie – oder das, was er dafür gehalten hatte – hatte zehn Jahre zuvor genug Unheil angerichtet. Trotzdem war es für ihn ziemlich offensichtlich, welche der beiden Frauen, die vor ihm saßen, die Mutter des vermissten Kindes war. Sie schüttelte weinend den Kopf und klammerte sich am Rand der Bank fest, während die andere reglos geradeaus starrte. Der Junge blickte auf seine Füße und stocherte mit einem abgebrochenen Ast im sandigen Boden herum.

Boyle stellte sie einander vor.

Maria Ashton, die ältere der beiden Frauen, blickte zu ihnen hoch, hörte aber nicht auf, sich mit einem Knäuel aus feuchten Papiertaschentüchern das Gesicht abzutupfen. »Ich hab die beiden nur ein paar Sekunden aus den Augen gelassen, das schwöre ich.« Sie nahm die Hand herunter und wandte sich ihrer Freundin zu. »Ein paar Sekunden, mehr nicht.«

Thorne bemerkte, dass er die Situation falsch gedeutet hatte. Offenbar war die jüngere Frau diejenige, nach deren Sohn der Wald durchkämmt wurde. Sie sagte nichts, ihr Gesicht war eine starre Maske, auch wenn Thorne die mühsam unterdrückte Angst nicht entging. Genauso wenig wie das, was sich in ihren Augen offenbarte. Eine Grimmigkeit.

»Es hilft nichts, wenn Sie sich Vorwürfe machen«, sagte Boyle.

»Auf keinen Fall«, stimmte Docherty ihm zu.

Thorne trat einen Schritt auf Maria Ashton zu und deutete mit dem Kopf auf den Jungen. »Hat Ihr Sohn irgendetwas gesagt, als er zurückgekommen ist?« Er beugte sich zu dem Siebenjährigen hinunter, doch der Junge löste den Blick nicht vom Boden und von dem Stock, mit dem er inzwischen noch heftiger stocherte.

Die Frau unterdrückte ein Schluchzen und schüttelte den Kopf.

»Überhaupt nichts?«

»Josh war völlig durcheinander.« Sie griff nach der Hand ihres Sohnes. »Hysterisch.«

»Und seitdem hat er nichts gesagt? Vielleicht …«

Boyle hob die Hand und unterbrach Thorne. »Lassen wir die Uniformierten ihre Arbeit machen.« Docherty nickte zustimmend. »Wir müssen Mrs Ashton und Mrs Coyne so schnell wie möglich befragen. Das Revier Highgate dürfte der beste Ort dafür sein.«

Sofort wurde die jüngere Frau lebendig. Sie schaute Boyle an, als wäre er geisteskrank, und sagte scharf: »Ich gehe nirgendwohin.«

»Hm«, sagte Boyle.

»Das meine ich ernst.«

Boyle hob eine Hand, als wollte er kapitulieren. »Ich verstehe, dass Sie erregt sind, aber es ist wichtig, dass wir Ihre Aussagen aufnehmen, solange die Erinnerungen noch frisch sind.«

Catrin Coyne schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Nicht, bevor hier nicht jeder einzelne Zentimeter abgesucht ist.« Sie schaute zu Docherty auf. »Warum kann ich nicht bei der Suche helfen?«

»Wir könnten beide helfen«, sagte Maria.

Catrin starrte Docherty immer noch an. »Ich kenne mich im Wald aus, und ich weiß, welche Stellen Kieron am meisten liebt.«

»Diese Information haben wir schon von Ihnen bekommen«, sagte der Inspector. »Das war sehr hilfreich.«

»Vertrauen Sie mir.« Boyle beugte sich vor und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Die Frau sah aus, als hätte er ihr einen Stromschlag verpasst. »Das Beste ist, wenn wir Sie aufs Revier bringen. Ich verspreche Ihnen, dass Sie es als Erste erfahren, wenn wir irgendetwas finden.«

Thorne sah, wie ein Schatten über Catrins Gesicht huschte und Maria die Hand vor den Mund schlug. Er warf Boyle einen Blick zu. Offenbar hatte der DI selbst begriffen, was er gesagt hatte. Wie es geklungen hatte.

»Irgendetwas« implizierte, dass er mit einer Leiche rechnete.

»Wir nehmen mein Auto«, erklärte Boyle schnell. Er wandte sich an Thorne. »Tom, Sie folgen mir mit DC Roth. Ich habe schon über Funk Bescheid gegeben. Der Chef erwartet uns dort.«

Kurz darauf machte sich die lose Gruppe auf den Weg zu dem Tor, durch das Thorne gekommen war. Boyle und die Frauen gingen voraus, Thorne und Ajay Roth folgten in zehn Metern Abstand. Inzwischen waren noch mehr uniformierte Beamte zu sehen als zuvor, auch wenn manche nicht viel zu tun schienen. Thorne, der sich leise mit Roth unterhielt, sah einen Beamten hinter einem Baum eine schnelle Zigarette rauchen.

»Sie müssten ihn längst gefunden haben.« Roth schob eine Hand unter den Rand seines Turbans und kratzte sich. »Meinen Sie nicht?«

»Das Gelände ist groß.« Thorne beobachtete das Trio vor ihnen. Er sah, dass Gordon Boyle sein Bestes tat, um die Frauen zum Weitergehen zu drängen. Und er registrierte, dass Maria Ashton und Catrin Coyne einen langen Blick wechselten und deutlich Abstand voneinander hielten.

»Trotzdem«, sagte Roth.

Sie waren nur noch wenige Meter vom Tor entfernt, und Thorne hielt den Autoschlüssel bereits in der Hand. In diesem Moment machte die Gruppe vor ihnen abrupt halt. Catrin Coyne drehte auf dem Absatz um und rief den Namen ihres Sohnes in den Wald hinein. Noch bevor ihr Schrei verhallt war, rief auch Josh Ashton nach seinem Freund, bis seine Lungen zu platzen schienen. Seine Mutter begann wieder zu weinen.

Was dich nicht umbringt

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