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ZEHN

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Felix Barratt wohnte im Erdgeschoss einer viktorianischen Doppelhaushälfte in Wood Green. Er arbeitete als Verwalter einer städtischen Sozialwohnungssiedlung – »nicht der spannendste Job der Welt, aber mir passt er gut« – und wohnte nur mit einer Katze zusammen, weil ihm das, wie er Thorne ungefragt erklärte, am liebsten war.

»Ich liebe die Frauen, verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte er. »Manchmal zu sehr, um ehrlich zu sein. Aber ich will mir von niemandem sagen lassen, was ich tun und lassen soll. Was ich mir im Fernsehen ansehen und welche Klamotten ich tragen soll.« Er schüttelte sich theatralisch und zog eine Grimasse. »Nein, vielen Dank.«

Sie saßen in einem penibel aufgeräumten Wohnzimmer mit prallvollen Bücherregalen, einer Sammlung von Vogelfiguren in einem Schrank mit Glasfront und einem großen Erkerfenster mit Blick auf die baumbestandene Straße, durch das Barratt alle paar Minuten einen Blick warf.

Er hatte Tee in Porzellantassen serviert, dazu einen Teller mit Keksen.

»Als Sie angerufen haben, sagten Sie, Sie seien kurz vorher selbst im Wald gewesen.«

»Korrekt«, sagte Barratt. »Ungefähr eine Stunde bevor ich den Wagen gesehen habe, bin ich aus dem Wald gekommen. Ich habe oben in Muswell Hill vorbeigeschaut, nur um eine Weile in den Läden herumzustöbern. Ich war auf dem Rückweg zu meinem Auto, als ich den Mann mit dem Jungen gesehen habe.«

Barratt war Anfang vierzig, aber wie ein deutlich älterer Mann gekleidet. Er trug eine braune Cordhose, sorgsam polierte Budapester sowie Hemd und Krawatte unter einer Tweedjacke. Sein Sonntagsoutfit, dachte Thorne, es sei denn, er hätte sich für den Besuch eines Polizeibeamten ein bisschen herausgeputzt. Thorne wusste aus Erfahrung, dass manche Leute so etwas taten. Doch aus irgendeinem Grund glaubte er nicht, dass Barratt zu dieser Gruppe gehörte. Thorne selbst zog sich nur dann schick an, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ, und er konnte nicht nachvollziehen, warum andere es freiwillig taten.

»Warum der ganze Weg bis zum Highgate Wood?«

»Wie bitte?«

»Na ja, ich hab nur gedacht, der Alexandra Park ist nicht so weit von hier.« Thorne wandte sich um und deutete zum Fenster. »Er müsste bloß … fünf Minuten entfernt liegen.«

»Oh, im Wald ist es so viel schöner«, stellte Barratt fest. »Er ist wesentlich älter und viel üppiger. Es gibt dort Buntspechte und Kleiber. Hin und wieder auch Baumläufer. Summa summarum einundsiebzig verschiedene Arten.« Mit dem Kopf deutete er auf den verglasten Schrank. »Ich mag Vögel.«

»Haben Sie ein paar gute gesehen?«

»Gute was?«

»Irgendwelche guten Vögel gestern Morgen?«

»O ja, aber leider keine, die ich nicht schon früher gesehen hätte.«

Thorne notierte sich alles. »Und können Sie sich erinnern, in welche Läden Sie gegangen sind? Wo Sie herumgestöbert haben?«

Barratt trank einen Schluck Tee. Auf Thorne machte der Mann einen leicht gereizten Eindruck, aber falls er sich fragte, warum ihm, wo er sich doch mit wichtigen Informationen an die Polizei gewandt hatte, so viele Fragen gestellt wurden, behielt er es für sich. »Eigentlich nicht«, sagte er. »Ich war in ein paar Wohltätigkeitsläden. Und kurz bei Woolworth, glaube ich.«

»Vielen Dank«, sagte Thorne und machte sich wieder Notizen. »Das ist alles sehr hilfreich. Ich komme gleich zu dem, was Sie beobachtet haben, aber ich fürchte, wir brauchen diese ganzen Details.«

»Natürlich, tun Sie sich keinen Zwang an.« Wieder nippte Barratt an seinem Tee und schaute zur Straße hinaus.

»Haben Sie etwas gekauft?«

»Wo?«

»Bei Woolworth. Oder in einem der anderen Geschäfte.«

»Nein.« Barratt lächelte. »Ich habe ein bisschen Zeit totgeschlagen.«

Thorne machte sich eine Notiz und unterstrich sie. »Warum wollten Sie Zeit totschlagen?«

»Na ja, die Wochenenden können ziemlich lang werden, um die Wahrheit zu sagen. Ja, normalerweise verbringe ich gern Zeit allein zu Hause, aber wir alle können uns hin und wieder selbst auf die Nerven gehen, nicht wahr? Eigentlich fühle ich mich am wohlsten, wenn ich arbeite.«

»Okay.«

»Wie ist es mit Ihnen?« Barratt musterte ihn über seine Teetasse hinweg. »Es sieht so aus, als würde die Arbeit Ihnen Spaß machen.«

»Manche Tage sind besser als andere«, sagte Thorne. Er ließ das Notizbuch einen Moment auf den Schoß sinken. »Ich kann nicht behaupten, dass mir ein Fall wie dieser Spaß machen würde.«

»Nein, natürlich nicht. Jedenfalls nicht, bevor Sie ihn geschnappt haben. Diesen Mann …«

Thorne sah zu, wie Barratt sich zu der rotbraunen Katze hinunterbeugte, die ins Zimmer gekommen war, und sie streichelte. Als er ihre Ohren kraulte, machte er Kussgeräusche. »Nun, wir hoffen natürlich, dass Ihre Beobachtungen uns dabei helfen.«

Barratt richtete sich wieder auf und sah ihn lächelnd an. Dann hob er die Tasse, als wolle er einen Trinkspruch ausbringen. »Ganz Ihrer Meinung.«

Natürlich hatten sie den Namen Felix Barratt durch die landesweite Datenbank der Polizei laufen lassen. Thorne wusste, dass er sich außer Falschparken nichts hatte zuschulden kommen lassen und dass sein Name nicht auf der Liste bekannter Sexualstraftäter stand. Trotzdem saß er nicht nur deswegen teetrinkend in Barratts Wohnzimmer, um sich die reichlich vagen Beobachtungen noch einmal wiederholen zu lassen, von denen der Mann am Telefon berichtet hatte.

Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein Täter die Nähe zu den ermittelnden Beamten gesucht oder falsche Hinweise geliefert hätte, um Thorne und seinesgleichen in die Irre zu führen.

Ein am passenden Ort abgestelltes Fahrzeug. Ein Verdächtiger, den es nie gegeben hat.

»Ich fragte mich gerade, ob Ihnen nach dem Anruf vielleicht noch etwas zu diesem Auto eingefallen ist«, sagte Thorne. »Es war rot, sagten Sie.«

»Ja, das stimmt. Ein knalliges Rot, wie ein Briefkasten, und gründlich gewaschen.«

»Okay, das ist sehr hilfreich.«

»Wie ich Ihrem Kollegen am Telefon schon sagte: Es war so ein kleines Auto, wie ein Golf.«

»Oder ein Fiesta?«

»Ja, genau. Ich kenne mich nicht besonders gut aus, aber das Auto war irgendwie sportlich.«

»Sonst noch etwas? Irgendwelche Auffälligkeiten? Beulen oder Kratzer?«

»Nein, jedenfalls habe ich keine gesehen«, sagte Barratt. »Ich war auf der anderen Straßenseite.«

»Was ist mit dem Mann, den Sie haben einsteigen sehen?« Thorne schaute in seine Notizen und fand die Beschreibung, die Barratt bei der Hotline angegeben hatte. »Mittelgroß, dunkle Jacke … Wissen Sie, ob er dunkle Haare hatte, oder blonde …?«

»Er trug eine Mütze«, sagte Barratt. »Ich meine keine Wollmütze oder so etwas, schließlich war es auch nicht besonders kalt, stimmt’s? Eher eine Art Kappe, aber auch keine Baseballkappe oder etwas in der Art.« Er machte eine Pause, um nach dem richtigen Begriff zu suchen. »Sie wirkte irgendwie flott.«

»Und wenn Sie sein Alter schätzen müssten?«

Barratt blies die Wangen auf. »Ich bin wirklich nicht sicher. In den Vierzigern vielleicht?«

»Und der Junge?«

Barratt lehnte sich zurück. Die Katze strich ihm immer noch um die Füße herum. »Nun, wie gesagt, er war sechs oder sieben, denke ich. Das kann man so genau nicht sagen, oder? Manche Kinder sind in einem bestimmten Alter größer als andere.«

»Können Sie sich noch immer nicht erinnern, was der Junge anhatte?«

»Nein, und ich habe mir wirklich den Kopf zerbrochen. Es ist komisch: Der Mann ist mir im Gedächtnis geblieben, der Junge aber nicht.«

Thorne sagte, das sei kein Problem, die Leute würden sich immer an bestimmte Einzelheiten erinnern und andere nicht deutlich wahrnehmen. Im Stillen aber fand er es ein bisschen seltsam, dass Barratt den auffälligen Parka mit Schottenmuster und Fellkapuze, den der Junge getragen hatte, nicht registriert hatte. Aber natürlich war es gut möglich, dass der Junge, den Barratt gesehen haben wollte, etwas wesentlich Unauffälligeres getragen hatte, einfach, weil es nicht Kieron Coyne gewesen war.

»Das war alles im Vorbeigehen«, sagte Barratt. »Ich habe es kaum richtig wahrgenommen … Erst als ich den Handzettel mit der Bitte um Informationen gesehen habe, ist es mir wieder eingefallen.«

»Gut.«

»Ich hatte den Eindruck, sie gehörten irgendwie zusammen, daran erinnere ich mich, denn der Junge hielt die Hand des Mannes.« Barratt beugte sich vor. »Sie kannten sich, so sah es jedenfalls aus. Das ist doch sicher wichtig, oder?«

Thorne stand auf und bedankte sich bei Barratt für die Hilfe und für den Tee. »Nur um diesen Punkt noch einmal klarzustellen: Sie haben das Flugblatt an der Anschlagtafel gesehen, als Sie gleich heute Morgen noch einmal in den Wald gegangen sind?«

Barratt erhob sich ebenfalls und sah seiner weglaufenden Katze hinterher. »Wie gesagt, die Wochenenden sind manchmal ein bisschen öde. Die Sonntage noch mehr als die Samstage.«

Auf dem Weg zur Tür warf Thorne einen letzten Blick auf den verglasten Schrank. Er nahm sich vor herauszufinden, wie viele Vogelarten man im Alexandra Park beobachten konnte.

Was dich nicht umbringt

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