Читать книгу Was dich nicht umbringt - Mark Billingham - Страница 15
ELF
ОглавлениеDie Frau, die Catrin aufs Sofa half und ihr ein kleines Päckchen Papiertaschentücher reichte, war dünn und hochgewachsen, ihre stachligen blonden Haare an den Ansätzen dunkel. Sie trug hautenge stonewashed Jeans und ein Jeanshemd, darüber eine schwarze Bomberjacke. Ihre hohen Wangenknochen und feinen Gesichtszüge wirkten eindrucksvoll, aber ungeschminkt waren die Schatten unter ihren großen Augen ebenso unübersehbar wie die Furchen rings um ihren Mund, die normalerweise als Lachfalten durchgingen. Dabei konnte man sie kaum als Frau bezeichnen, die häufig lachte.
Fünfzehn Jahre zuvor, in einer anderen Welt, wäre sie vielleicht Model geworden, aber im nördlichen Teil Londons des Jahres 1996 bekam Angela Coyne einen Laufsteg allenfalls dann zu Gesicht, wenn sie die Cosmopolitan aufschlug. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie mit dem Verkauf von preisreduzierten Haushaltswaren an einem Marktstand in Shepherd’s Bush.
»Hat Billy es dir erzählt?« Cat hatte am Abend zuvor im Gefängnis angerufen, woraufhin sich Billy eine halbe Stunde später zurückgemeldet hatte. Sie tupfte sich die Augen ab. »Er klang so erschüttert.«
Billy Coynes große Schwester nickte. Sie hatte die Nase hochgezogen, zu weinen aufgehört und sich mit dem Handrücken das Gesicht trocken gerieben, sobald sie in die Wohnung marschiert war. »Ja, er hat vor zwei Stunden angerufen, aber ich wusste schon vorher Bescheid. Die Polizei war heute früh an meinem Stand und hat mir Fragen gestellt. Wann ich Kieron zuletzt gesehen hab, was ich gestern zur Mittagszeit gemacht hab, alles Mögliche.«
Cat schaute zu ihr hoch. »Es tut mir leid, Ange. Das ist so dämlich.«
Angela zuckte die Achseln. »Wenn man darüber nachdenkt, ergibt es Sinn. Und immerhin zeigt es, dass sie ihren Job vernünftig machen.« Sie hielt eine Plastiktüte hoch, in der Bierdosen klapperten. »Also dann.« Sie ging in die Küche, legte vier Dosen in den Kühlschrank und brachte die anderen vier wieder mit. Dann setzte sie sich neben Cat, öffnete für jede von ihnen eine Dose, nahm ihre Zigaretten aus der Tasche und bot ihr das Päckchen an.
Catrin nahm eine Zigarette und beugte sich vor, um sich Feuer geben zu lassen. Es gelang ihr nur mit Mühe, die Hand ruhig zu halten, als sie sich daran erinnerte, wann sie das letzte Mal eine Zigarette zwischen den Fingern gehalten hatte: gestern Vormittag, auf dem Spielplatz. Josh hatte geweint, und sie war losgelaufen.
Sie unterdrückte ein Schluchzen und grinste, als es sich in so etwas wie einen Schluckauf verwandelte. Als Angela lachte, fiel sie mit ein. »Schön, dass du gekommen bist, Ange.«
»Red keinen Quatsch. Warum hätte ich nicht kommen sollen?«
»Trotzdem.«
»Er ist mein Neffe, oder?«
»Ja.«
»Ich bin seine Tante Ange, stimmt’s? Und du kommst mir mehr wie eine Schwester vor als wie eine Schwägerin.« Sie nahm einen schnellen Zug und stieß den Rauch zischend aus. »Auch wenn du das nicht wirklich bist, klar, aber du weißt schon.«
Cat nickte. »So gut wie«, bestätigte sie. »Und ja, du bist wie eine Schwester.«
Die Frau schaute ihr ins Gesicht. »Ich hab mich immer gefragt, warum Billy und du nicht geheiratet habt.«
»Ich wollte ja«, sagte Cat. »Aber Billy hat wohl geglaubt, wir sind besser dran, wenn wir uns gar nicht darum kümmern. Irgendwas mit den Sozialleistungen, weil wir sie leichter bekommen, wenn wir nicht verheiratet sind. Ich weiß nicht genau.«
»Ja, normalerweise kennt er sich mit solchen Sachen aus und hat raus, wie alles funktioniert. Schade, dass er in anderen Dingen nicht auch gründlicher nachdenkt.« Angela trank einen Schluck Bier und schüttelte den Kopf. »Die meiste Zeit hat er seinen Kopf nur, damit es ihm nicht in den Hals regnet.«
Cat grinste, aber das Lachen blieb ihr in der Kehle stecken. »Trotzdem vermisse ich ihn.« Sie wischte Zigarettenasche vom Kissen und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich wünschte, er wäre jetzt hier.«
Angie beugte sich herüber und legte ihr eine Hand auf den Arm, sodass sich die langen Fingernägel in Cats Haut gruben. »Ich weiß.«
Dicht beieinander saßen sie auf dem Sofa, tranken, rauchten und sagten eine Weile kein Wort. Die alte Frau in der Wohnung darunter hatte ihren Fernseher laut aufgedreht. Sie konnten den Schluss des Pferderennens verfolgen, das sie sich offenbar ansah, die vornehme Stimme des Kommentators, die sich ganz am Ende eine Spur in die Höhe schraubte.
»Ich hoffe, das alte Mädchen hat ein paar Pfund gewonnen«, sagte Cat. »Das letzte Mal, als sie aufs richtige Pferd gesetzt hat, hat sie Kieron Süßigkeiten geschenkt.«
Angela leerte ihre Dose, knallte sie auf den Tisch und öffnete eine neue. »Wenn sie den Typen schnappen, der das gemacht hat …«
»Was?«
»Der Bastard wird keine Freude am Leben mehr haben … nie wieder, egal wo er hinkommt.«
»Glaubst du das wirklich?«
»So geht’s diesen Typen im Knast, nicht wahr? Die sind vogelfrei.« Sie kniff den Mund zusammen, sodass die Lachfalten plötzlich noch tiefer und dunkler wurden. »Na ja, du weißt das ganz sicher.« Sie nickte und hob die Dose zum Mund. »Wenigstens etwas, würde ich sagen.«
»Ich meine, glaubst du wirklich, jemand hat ihn entführt? Kieron?«
»Na ja, Himmel, ich hoffe es nicht … Aber es hilft nichts, sich irgendwas vorzumachen, Schätzchen.« Angela Coyne drückte ihre Zigarette aus, griff in die Tasche, um Nachschub zu holen, und lehnte den Kopf gegen das dicke Lederkissen. »Ich meine, sonst hätten sie ihn doch längst gefunden, oder?«