Читать книгу Was dich nicht umbringt - Mark Billingham - Страница 9

FÜNF

Оглавление

Einen Arm ausgestreckt, um sich an der Kücheninsel mit der Granitplatte abzustützen, nahm Maria den ersten Schluck Wein und seufzte vor Zufriedenheit. Schnell folgte ein zweiter Schluck, dann griff sie nach der Flasche und schenkte sich nach. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so dringend etwas zu trinken gebraucht hatte.

Sie zitterte noch immer. Den ganzen Weg vom Polizeirevier hierher hatte sie an die offene Flasche Pinot im Kühlschrank gedacht. Sie hatte daran gedacht, als sie den Streifenwagen wieder losfahren sah und die Haustür hinter sich schloss. Als sie ihren Mantel abgeschüttelt und Josh in sein Schlafzimmer gebracht hatte, wo sie ihm beim Ausziehen half und ihn schweigend ins Bett steigen sah. Als sie ihm die Tränen abgewischt hatte, die flossen, sobald sie das Zimmer verlassen wollte. Und als sie ihm gesagt hatte, er solle tapfer sein, denn am Ende würde alles gut.

Als sie es sich selbst gesagt hatte.

Josh hatte noch eine halbe Stunde gequengelt, bis sie sich schließlich in der Lage sah, ihn allein zu lassen und nach unten zu gehen. Jetzt, wo sie auf einen der lederbezogenen Barhocker stieg und tief seufzend ihr Glas hob, schämte sie sich. Denn schon in Joshs Zimmer – sein warmes, feuchtes Gesicht an ihrem Hals – hatte sie ihm gegenüber einen Anflug von Unmut verspürt, weil er sie von ihrem Wein abhielt.

Mummys Medizin.

Sie stellte das Glas ab und ermahnte sich, sich nicht lächerlich zu machen. Denn wenn es je eine Entschuldigung … nein, keine Entschuldigung, einen Grund zum Trinken gegeben hatte, dann sicher jetzt.

Was für ein schrecklicher, furchtbarer Tag. Alles war gelaufen wie immer, ganz normal. Sie alle waren glücklich gewesen … Und plötzlich war alles ganz anders, innerhalb – was? – weniger Sekunden? Viel länger konnte es nicht gedauert haben. Bloß die Zeit, in der sie eine Zigarette geraucht hatte, mehr nicht, in der sie für einen kurzen Moment die Augen geschlossen hatte.

Es war nicht ihre Schuld.

Beim Gedanken an Cat schwappte eine Welle von Schuldgefühlen über sie hinweg. Zum ersten Mal, seit sie durch die Haustür getreten war, wenn sie ehrlich sein sollte.

Sie fragte sich, ob Cat schon zu Hause war und, wenn ja, was sie gerade machte.

Sie fragte sich, ob sie anrufen sollte.

Maria trank noch ein Glas und kam zu dem Entschluss, dass es wahrscheinlich keine gute Idee war. Sie würde gleich morgen früh anrufen. Natürlich würde es kein leichtes Gespräch werden, aber es musste sein. Sie wollte helfen, wollte Cat wissen lassen, dass sie für sie da war und alles tun würde, was in ihrer Macht stand.

Ich denke, du hast schon genug getan, oder?

Bitte sag das nicht. Du musst versuchen, die Ruhe zu bewahren.

So würdest du nicht reden, wenn es um deinen Sohn ginge …

Nein, wahrhaftig kein leichtes Gespräch.

Sie setzte sich wieder hin und versuchte, sich vorzustellen, wie sie sich fühlen würde, wenn es tatsächlich Josh wäre, nach dem jetzt gesucht wurde. Wenn sie diejenige wäre, die allein in ein leeres Haus zurückkehren musste. Aber es war unmöglich, nicht nur, weil sie im Kopf langsam den Wein spürte. Sie nahm noch einen Schluck und bemerkte plötzlich, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Ich kann es mir nicht vorstellen, das sagten die Leute immer, wenn etwas Schreckliches geschah, und es war letztlich einfach die Wahrheit. Man konnte sich nicht annähernd in eine solche Situation hineinversetzen. Trauer war sicher am ehesten vergleichbar. Diese innere Kälte, dieses Zumachen, das sie empfunden hatte, als ihr Vater gestorben war.

Oder als Jeffrey gegangen war.

Natürlich war auch das eine Art Trauer gewesen. Eine Leblosigkeit, die zurückgeblieben war. Im Rückblick war es kaum überraschend gekommen. Zwischen ihnen hatte eine Distanz geherrscht, eine Fremdheit. So sehr sie es auch versucht hatte, war sie offenbar nie wirklich die Frau gewesen, die er wollte, und trotzdem … Als er endlich den Mund aufgemacht und ihr erklärt hatte, er wolle die Scheidung – ganz so, als hätte er gesagt, die Socken seien ihm ausgegangen oder er wünsche sich Lamm zum Abendessen –, war es für sie ein echter Tiefschlag gewesen.

Erst Monate später hatte sie wieder Luft bekommen.

Natürlich gingen sie jetzt sehr zivilisiert miteinander um. Alles Schnee von gestern. Sie beide hatten sich um ihr eigenes Leben zu kümmern, und natürlich mussten sie an ihren Sohn denken, vor allem in letzter Zeit, wo er derart aus dem Gleichgewicht geraten zu sein schien. Ihr fiel die Szene im Park wieder ein, als sie Cats Frage ausgewichen war, wie Josh in der Schule zurechtkomme. Es gab weiterhin Probleme, die immer schwieriger zu ignorieren waren – schlechtes Benehmen und gewalttätige Ausbrüche. Auch das Bettnässen kam inzwischen beinahe jede Nacht vor.

Himmel, was machte sie sich eigentlich für Gedanken?

Das alles war meilenweit von dem entfernt, was Cat im Moment durchmachen musste. Sicher lagen überall die Sachen ihres Sohnes herum, sein Geruch war überall in der Wohnung. Und dann daran denken zu müssen, dass er allein dort draußen im Wald war oder … wo auch immer. Noch schlimmer, daran denken zu müssen, dass er vielleicht nicht allein war.

Wieder griff Maria nach der Flasche, doch sie war leer.

Es war nicht ihre Schuld.

»Mummy …«

Sie atmete überrascht ein, dann drehte sie sich um und sah Josh in der Tür stehen. Wieder war er den Tränen nahe, seine dicke Unterlippe bebte. Bis zum heutigen Tag hatte dieser Gesichtsausdruck eigentlich immer bedeutet, dass er etwas wollte. Meistens eine weitere Gutenachtgeschichte.

»Ich glaube, ich kann besser schlafen, wenn ich in dein Bett komme«, sagte er.

Das hatte er schon lange nicht mehr gewollt.

»Dann komm, mein Hühnchen«, sagte Maria. »Packen wir dich gut ein.«

Auf dem Weg zur Treppe nahm Josh ihre Hand und sagte: »Ich hab darüber nachgedacht. Vielleicht hat Kieron es einfach verwechselt. Wer mit Suchen dran war, meine ich.«

»Ja, vielleicht hast du recht«, sagte Maria.

Der Junge nickte zufrieden, als hätte er ein schwieriges Rätsel gelöst. Er streckte ihr die freie Hand entgegen. Nach kurzem Zögern bückte Maria sich und klatschte ihn ab. »Wahrscheinlich hockt er noch immer in seinem Versteck, das ist es.«

Was dich nicht umbringt

Подняться наверх