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SECHZEHN

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Es war schon nach Mitternacht. Grantleigh Figgis war kurzerhand in einen Verhörraum gesetzt worden, um ein paar unverblümte Fragen von Gordon Boyle und Ajay Roth zu beantworten.

Abgesehen von Heroin war bei der ersten Durchsuchung seiner Wohnung nichts Auffälliges gefunden worden. Auch nichts, was der »flotten Kappe« ähnelte, die Felix Barratt gesehen haben wollte. Aber Thorne wusste, dass inzwischen ein Team von Kriminaltechnikern die Wohnung durchkämmte, auf der Suche nach Beweisen, die für das bloße Auge unsichtbar waren. Und was vielleicht noch wichtiger war: Ein anderes Team nahm sich den VW Polo des Festgenommenen mit derselben Gründlichkeit vor. Falls sie Barratt glauben konnten und Kieron Coyne mit diesem Auto fortgebracht worden war, würden sie beinahe sicher auf DNA-Spuren stoßen, die das beweisen konnten.

Haare, Hautpartikel, Fasern des karierten Anoraks.

Blut.

Zur gleichen Zeit schwärmten sämtliche Uniformierte, die das örtliche Revier entbehren konnte, im Seacole House aus, wo sie Verteilerkästen und Abfallcontainer durchsuchten. Jeden Winkel, in dem der entführte Junge versteckt sein konnte. Sie würden versuchen, Zutritt zu jeder einzelnen Wohnung auf den zwölf Etagen zu erhalten. Zu jeder Wohnung mit Ausnahme der von Catrin Coyne natürlich.

Thorne besorgte sich den Kaffee, den er dringend nötig hatte, und trieb sich ungefähr fünf Minuten lang auf dem Gang vor dem Verhörraum herum. Sobald er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, stellte er sich dicht vor die Tür.

»Sagen Sie uns einfach, wo er ist, Grantleigh.«

»Das kann ich nicht.«

»Lebt er noch? Sagen Sie uns wenigstens das.«

»Das ist lächerlich. Ich schwöre, ich dachte, Sie wären von der Drogenfahndung.«

Als deutlich wurde, dass sie keine schnelle Antwort erhalten würden, dass Boyle nicht jeden Moment aus dem Verhörraum stürmen und verkünden würde, wo sich Kieron Coyne aufhielt, ging Thorne zurück in den Einsatzraum.

»Was glauben Sie, wo er ihn hingebracht hat?«

Thorne hatte schon den Eindruck gehabt, dass DC Russell Brigstocke zu den Leuten gehörte, die das Kind beim Namen nannten, und offenbar hatte er sich nicht getäuscht. Ihm war klar, dass Brigstocke, als er »ihn« gesagt hatte, in Wirklichkeit »seine Leiche« gemeint hatte.

Er schüttelte den Kopf.

»Spitzenleistung übrigens.«

»Wie bitte?«

»Figgis aufzuspüren.«

»Er hat mich aufgespürt.«

Sie traten in das kleine Büro, das sie sich teilten. Als Thorne Platz nahm, sah er, dass eine Reihe von welligen Post-its auf seinem Schreitisch klebte. Jemand von der Staatsanwaltschaft wollte mit ihm über einen Beziehungsmord sprechen, den Thorne versuchte vor Gericht zu bringen. Die entscheidende Zeugin einer Brandstiftung wollte ihm mitteilen, dass sie nicht mehr so sicher war, was sie in der Woche zuvor beobachtet hatte.

Catrin Coyne hatte viermal angerufen.

Brigstocke lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und erklärte Thorne, er habe die Nachrichten angenommen und den Eindruck gehabt, die Frau wolle unbedingt mit ihm sprechen. Er sah zu, wie Thorne wählte.

»Wahrscheinlich ist sie froh, dass Sie gute Neuigkeiten für sie haben.«

Das war sie nicht.

»Scheiße, was läuft da?«

»Es tut mir leid, dass ich nicht hier war, als Sie …«

»Überall sind Bullen.« Es war nicht eindeutig zu erkennen, ob Catrin Coyne eher panisch oder wütend klang. »Jede Menge Typen in Plastikanzügen, wie in Silent Witness oder so. Irgendwas geht da in der Nachbarwohnung vor sich.«

»Ich sollte Ihnen wohl sagen, dass wir jemanden festgenommen haben«, sagte Thorne.

»Sie sollten es mir sagen. Warum zum Teufel haben Sie das nicht längst getan?«

Thorne versuchte, ihr zu erklären, dass er mehr als üblich um die Ohren gehabt hatte, als sie ihn zu erreichen versucht hatte. Dass er es jetzt erst schaffte, sich bei ihr zu melden. Doch er kam nicht weit.

»Grant? Sie haben Grant verhaftet?« Sie lachte humorlos. Wie jemand, bei dem gerade eine tödliche Krankheit diagnostiziert worden ist. »Wie kommen Sie bloß darauf …? Grant ist ein bisschen seltsam, mehr nicht.«

»Wir haben ihn nicht festgenommen, weil er ein bisschen seltsam ist.«

»Er ist ein Junkie, das wissen Sie doch, oder?«

»Ja, aber …«

»Ein harmloser Junkie.«

»Ich fürchte, ganz so einfach ist es nicht«, sagte Thorne. »Er fährt ein Auto, wie es ein Zeuge gestern Vormittag am Wald beobachtet hat. Der Mann hat gesehen, wie ein Junge, auf den Kierons Beschreibung passte, in den Wagen gestiegen ist.«

Wieder lachte sie, diesmal ein wenig nervös, verwirrt. Sie ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ein Auto? Und deshalb zerren die Bullen hier alle aus dem Bett?«

»Er wurde schon einmal festgenommen«, sagte Thorne. »Wegen sexueller Belästigung.«

Jetzt war die Pause noch länger. »Was für eine Art Belästigung?«

»Es tut mir leid, aber ich kann im Moment noch nicht in die Einzelheiten gehen.« Thorne hörte Catrins abgehackten Atem und wurde sich bewusst, dass Brigstocke ihn immer noch beobachtete. »Im Moment führen wir eine sogenannte dringliche Befragung durch, und mit ein bisschen Glück wissen wir mehr, wenn sie beendet ist.« Er drehte sich um, hörte Boyles Stimme auf dem Gang und sah, wie Brigstocke aufstand, um nachzusehen, was los war. »Okay?«

»Mit ein bisschen Glück«, sagte sie. »Na klar.«

»Hören Sie, ich weiß, wie frustrierend das sein muss, aber ich hoffe wirklich, dass ich Ihnen bald mehr sagen kann.« Thorne sah auf, als Boyle mit Roth und Brigstocke im Schlepptau durch die Tür trat. Brigstocke bemerkte Thornes Blick und schüttelte den Kopf. »Catrin …?«

»Einen Versuch war’s wert, aber Fehlanzeige«, sagte Boyle.

Thorne nahm den Hörer herunter und legte eine Hand auf die Sprechmuschel.

»Wir lassen ihn jetzt ein bisschen schlafen. Vorher schicken wir noch einen Arzt mit einer Dosis Methadon zu ihm, damit Mr Figgis morgen früh hübsch entspannt ist, wenn wir ihn uns noch einmal vornehmen. Klingt das nach einem Plan?«

»Und wie«, sagte Roth nickend.

Thorne hielt sich den Hörer wieder ans Ohr, aber Catrin Coyne hatte aufgelegt.

»Morgen wird er uns liefern, was wir brauchen«, sagte Brigstocke. »Er muss sich bloß noch darüber klar werden, wie er es uns am besten präsentiert, so läuft es immer.«

Boyle gähnte theatralisch und breitete die Arme aus. »Sie legen sich besser ein bisschen hin, solange es noch geht.«

Thorne glaubte nicht, dass es eine gute Idee wäre, sich hinzulegen. Damit würde er den Gedanken, die ihm durch den Kopf zu rattern begannen, bloß die Chance geben, sich dauerhaft einzunisten. Im Augenblick erschien es ihm sicherer, sich beschäftigt zu halten. Also sagte er, er wolle gern noch ein bisschen bleiben, und bot an, den Arztbesuch bei ihrem Verdächtigen zu überwachen. Doch davon wollte der DI nichts wissen.

»Ich glaube, wir schaffen es ein paar Stunden ohne Sie.« Lächelnd drehte Boyle sich um und gähnte noch einmal. Die beiden DCs folgten ihm. »Jetzt verziehen Sie sich nach Hause.«

Als Thorne nach Hause kam, fand er auf dem Anrufbeantworter eine leicht gereizt klingende Nachricht von seinem Vater. Der alte Herr wollte wissen, warum Thorne nicht wie versprochen übers Wochenende bei ihnen vorbeigeschaut hatte, wo seine Mutter doch extra für ihn mitgekocht hatte. Warum er sich nicht mal die Mühe gemacht hatte, ihnen abzusagen. Und was zum Teufel eigentlich dagegensprach, einfach höflich zu sein.

Die zwei Nachrichten von Jan waren noch übellauniger.

»Du kannst es hinauszögern, solange du willst, Tom, aber davon wird das Problem nicht verschwinden. Wir müssen mit dem Haus etwas unternehmen, und auch wenn du das immer so machst, kannst du dir nicht ewig die Finger in die Ohren stecken und so tun, als wäre es nicht so. Ich dachte, wir wollten die Angelegenheit vernünftig hinter uns bringen …«

Thorne glaubte, kurz vor Schluss den Dozenten dazwischenreden zu hören, jedenfalls schien er es zu versuchen. Thorne spulte das Band zurück und hörte es noch einmal ab, aber er war noch immer nicht sicher. Vielleicht war das Wort »komm« zu hören gewesen.

Komm schon, warum machst du dir überhaupt die Mühe, den Kerl zur Vernunft bringen zu wollen.

Komm schon, morgen rufen wir einfach selbst einen Makler an.

Komm wieder ins Bett, Schatz …

Thorne hämmerte auf die Löschtaste. »Arschloch.«

Um das Hinlegen so lange wie möglich hinauszuzögern – wahrscheinlich würde es in seinem Kopf dann bloß noch lauter rattern –, legte Thorne eine Johnny-Cash-CD ein und tigerte einige Minuten von Zimmer zu Zimmer. Als er sich schließlich aufs Sofa fallen ließ, war ihm klar, dass er nicht mehr lange gegen die Erschöpfung ankommen würde.

Er fragte sich, wie viel Ruhe Grantleigh Figgis finden würde. Oder Catrin Coyne.

Plötzlich sehnte er sich nach Schlaf.

Er dachte an das, was Boyle in seinem Büro gesagt hatte, und wenige Minuten später noch mal, als Thorne gerade im Aufbruch gewesen war. Boyle und Roth hatten draußen auf dem Parkplatz gestanden, gelacht und geraucht, wie man es macht, wenn der Job praktisch erledigt ist.

»Kommen Sie schon, gehen Sie nach Hause und legen Sie die Füße hoch, Mann. Sie haben es sich verdient.«

Jetzt lag Thorne komplett angezogen auf dem Sofa, wünschte sich nichts sehnlicher als den Schlaf und war nicht mehr sicher, ob er irgendetwas verdient hatte. Aus Gründen, die er nicht benennen konnte und über die er auch nicht lange nachdenken wollte, kam es ihm eher so vor, als wäre er jemandem etwas schuldig.

Was dich nicht umbringt

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