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Nüchternläufe – Der lange Dauerlauf und ich

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Obwohl die längeren Dauerläufe zeitlich noch weit entfernt waren, machte ich mir doch bereits Gedanken darüber, wie lang diese in der Vorbereitung für die Trailrunning-WM werden sollten. Meine längste Wettkampfdistanz war bislang der Halbmarathon gewesen. Deshalb lief ich selten mehr als 25 Kilometer bei meinen langen Dauerläufen. Im Winter 2015 / 2016 hatte ich über acht Wochen die Streckenlänge meiner sonntäglichen Dauerläufe von 26 auf 34 Kilometer gesteigert. Dies geschah damals eigentlich mehr aus Neugier heraus als aus trainingsmethodischer Rationalität. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, solch lange Strecken zu laufen, denn zum damaligen Zeitpunkt ich war in meinem Leben bisher erst einmal länger als zwei Stunden laufend unterwegs gewesen. Die Streckenlängen bis 30 Kilometer machten mir damals gar nichts aus, die letzten 5 – 8 Kilometer zogen sich zwar meistens ziemlich, ich kam aber immer ohne Probleme zuhause an. Das änderte sich allerdings, als ich meine Läufe auf 32 – 34 Kilometer ausdehnte. Bei diesen Läufen kam es mitunter vor, dass ich mich nicht ganz so gut fühlte. Vor allem mein letzter und längster Lauf in diesem 8-Wochen-Block setzte mir ganz schön zu. Ich weiß nicht ganz genau, wie ich es beschreiben soll, aber auf den letzten sechs Kilometern fühlte ich mich so, als würde ich während des Laufens meinen Körper von außen betrachten. Zwar gab ich weiterhin die Befehle an meine Beine und Arme, doch so recht wollten diese nicht mehr auf mich hören. Ich ertappte mich dabei, wie meine Gedanken in die Ferne schweiften und ich erst nach einigen Sekunden wieder realisierte, dass ich gerade lief. Ich war mir auch nicht ganz sicher, ob ich noch zuhause ankommen würde. Mein Tempo wurde langsamer und langsamer, auch wenn ich gegen Ende zumindest mit 4:30 – 4:40 Minuten pro Kilometer laufen konnte. In dieses seltsame Gefühl der Unsicherheit mischte sich auch zeitweise Angst. Diesen Gefühlszustand kann ich nur sehr schwer in Worte fassen, aber irgendwie fühlte ich mich einsam und verlassen, völlig verloren. Als ob ich in einer unbekannten Wildnis wäre und keine Ahnung hätte, in welche Richtung ich laufen sollte um Rettung zu erfahren. Dabei war ich auf den letzten acht Kilometern dieses Dauerlaufs nie mehr als zwei Kilometer von Penzberg entfernt, meist sogar nur weniger als einen Kilometer von irgendeinem Freund oder Bekannten. Die nächste befahrene Straße war nie weiter als 500 Meter von mir weg. Selbst als ich direkt in der Stadt war und an fahrenden Autos vorbei lief, fühlte ich mich wie der einsamste und verlassenste Mensch der Welt, völlig auf mich alleine gestellt und verloren. Ich musste mich alle paar Sekunden wieder in die Wirklichkeit zurückholen und mir immer wieder vorsagen, dass es mir gut geht, dass ich nach wie vor laufe und ich in weniger als zehn Minuten bei meinem Auto sein würde, wo eine kleine Packung Gummibärchen auf mich wartete.

Verstärkt wurde dieses unwirkliche Gefühl dadurch, dass es immer dunkler und kälter wurde. Zu Beginn des Dauerlaufs wärmte mich noch die winterliche Sonne und die Temperaturen lagen über dem Gefrierpunkt. Am Ende dieser Trainingseinheit sanken die Temperaturen deutlich unter 0 °C und die flachen Sonnenstrahlen spendeten keine nennenswerte Wärme mehr. Mir wurde immer kälter und kälter. Trotzdem verkürzte ich meine Runde nicht, denn mein Ehrgeiz und mein Stolz wollten mich den längsten Lauf meines Lebens nicht vorzeitig abbrechen lassen. Nach 2:20 Stunden und 34 Kilometern erreichte ich mit großer Erleichterung mein Auto, das ich am Fitnessstudio geparkt hatte. Das, was ich nun tat, werden wohl die wenigsten von Ihnen verstehen. Ich schloss die Wagentür auf, schnappte mir meinen Rucksack, öffnete die Eingangstür zum Fitnessstudio, loggte mich mit meiner Magnetkarte ein, zog meine Laufklamotten aus, schlüpfte in meine kurze Hose, zog ein trockenes T-Shirt und andere Trainingsschuhe an, aß eine kleine Packung Gummibärchen und setzte mich auf ein Ergobike. Obwohl ich gerade mit letzter Kraft den längsten Lauf meines Lebens beendet hatte, hängte ich weitere 20 Minuten auf dem Fahrradergometer dran. Ich spürte, wie der Zucker der Gummibärchen meine Lebensgeister wieder weckte und meine Beine an Kraft gewannen. Die Trittfrequenz wurde schneller und schneller, das Display des Fahrrads zeigte bald 38 km/h an. Das beklemmende Angstgefühl war verschwunden und wich einer gewissen Euphorie und Stolz, es trotz aller Widrigkeiten geschafft zu haben.

In den nächsten Tagen dachte ich über diesen Lauf nach: Warum ging es mir damals so schlecht auf den letzten Kilometern? Die Antwort war relativ schnell gefunden. Dieser lange Dauerlauf war die letzte Trainingseinheit eines 3-Wochen-Trainingsblocks mit durchschnittlich 180 Laufkilometern pro Woche gewesen! So fleißig war ich in meinem ganzen Läuferleben bis dahin nie gewesen. Ich hatte die Weihnachtsferien genutzt, um so viel wie möglich zu trainieren. Zusätzlich hatte ich versucht, ein wenig an Gewicht zu verlieren, hatte also relativ wenig gegessen und war in diesen 34-km-Dauerlauf, den ich am späten Nachmittag gemacht hatte, ohne Mittagessen gestartet. Das war so geplant von mir. Einerseits um meinen Magen zu schonen, andererseits aber, um meinen Fettstoffwechsel zu trainieren. Zu diesem Zeitpunkt, in den ersten Januarwochen 2016, war ich der festen Überzeugung, dass Nüchternläufe absolut notwendig seien, um meine Ausdauer und den Fettstoffwechsel zu verbessern. Ich hatte mich ausführlich mit dem Thema auseinandergesetzt, meine Informationsquellen waren entweder Laufzeitschriften, Bücher von Laufexperten, Blogs und diverse Online-Artikel oder eben Erfahrungen von anderen Läufern. Sie werden jetzt wahrscheinlich sagen, dass diese Quellen doch zumeist recht verlässlich und aussagekräftig sind. Das trifft auch sicherlich auf viele zu, allerdings werden hier zu oft subjektive Darstellungen mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft vermischt. Ich beschäftigte mich also intensiv mit der Materie und versuchte aktuelle Studien zu diesem Thema zu finden. Ich las viele Bücher, vor allem aus dem US-amerikanischen Raum, in dem ja seit Jahren die Philosophie der Fokussierung auf den Fettstoffwechsel und der damit verbundenen Kohlenhydratreduzierung in der Sportlerkost auf dem Vormarsch ist. Bevor ich Ihnen aber nun die Ergebnisse meiner Recherche mitteile, muss ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die zum Verständnis meiner Einstellung zum Thema Nüchternläufe und Fettstoffwechsel unabdingbar ist.

Der lange Dauerlauf am Sonntag ist nicht nur bei mir, sondern bei vielen anderen Läufen, fester Bestandteil der wöchentlichen Laufroutine. Meist laufe ich alleine, aber hin und wieder verabrede ich mich mit meinen jungen Teamkameraden, die in den vergangenen Jahren ihre langen Dauerläufe von 12 bis mittlerweile 20 Kilometer ausgebaut hatten. Dabei gibt es immer wieder Diskussionen, um wie viel Uhr wir trainieren sollen. Die Jungspunde wollen am liebsten mittags oder nachmittags trainieren, damit sie am Sonntag ausschlafen können. Alleine die Vorstellung, am Vormittag oder sogar in der Früh zu trainieren, führt bei ihnen zu großem Unbehagen. Ich laufe am liebsten gleich um 8 oder 9 Uhr, im Sommer auch gerne schon einmal um 7:30 Uhr. Die Antipathie meiner Lauffreunde kann ich allerdings gut verstehen, denn als ich Schüler oder Student war, konnte ich mich auch selten vor 10 Uhr zum Training aufraffen. Und falls doch, dann war es mehr oder weniger eine Quälerei, an der ich keinen rechten Spaß hatte. Dies lag zum einen daran, dass ich meinen „Schönheitsschlaf“ brauchte, zum anderen stand ich höchstens 15 Minuten vor Beginn des Trainings auf, stopfte eine Banane in mich hinein und trabte los. Im Halbschlaf startete ich dann zu meinen Dauerläufen und kam, oh Wunder, nicht wirklich in Schwung. Außerdem ging mir nach einiger Zeit die Energie aus. Mit nur einer Banane im Magen kam ich nicht wirklich weit. Aber um ausgiebig zu frühstücken und die Mahlzeit einigermaßen zu verdauen, hätte ich ungefähr zwei Stunden vor Trainingsbeginn aufstehen müssen, also zu einer mehr als unchristlichen Zeit (zumindest aus Studenten- bzw. Schülersicht). Ich konnte also von meinen Vereinskollegen kaum verlangen, bereits um 8 Uhr in der Früh zu starten. Deshalb einigten wir uns meistens auf 9:30 oder 10 Uhr, so konnten sie vorher immerhin ein wenig frühstücken. Im Gegensatz zu ihnen machte es mir nichts mehr aus, völlig nüchtern in die Trainingseinheit zu starten. Selbst die langen Dauerläufe bis 30 Kilometer waren kein Problem für mich. Das war nicht immer so.

Ich kann mich nach wie vor mit Grauen an meinen ersten, wirklich geplanten Nüchtern-Dauerlauf vor einigen Jahren erinnern. Das wirklich Grausame daran war, dass wir an diesem Sonntag eine wirklich große Gruppe waren und wir uns die hügeligste und anspruchsvollste Dauerlaufstrecke in der Umgebung ausgesucht hatten: Den Königsberg in Sindelsdorf, fünf Kilometer von Penzberg entfernt. Der „Kiniberg“ („Kini“ = bayerisch für König) ist eine Moräne, die von der Loisach (einem Zufluss der Isar) von den ersten Bergen der Nordalpen abgetrennt wurde. Die höchste Erhebung liegt auf 830 m ü. NN, also 200 Höhenmeter oberhalb unseres Startpunktes in Sindelsdorf. Mein Abendessen tags zuvor bestand nur aus einem großen bunten Salat und viel Fisch, enthielt also so gut wie keine Kohlenhydrate. Außerdem hatte ich am Nachmittag durch einen anspruchsvollen Tempodauerlauf meine Glykogenspeicher (Glykogen ist die Speicherform der Kohlenhydrate in der Muskulatur und in der Leber) zum Großteil entleert. Auf das Frühstück hatte ich gänzlich verzichtet. Wir hatten uns um 9:45 Uhr am Sportstadion in Penzberg verabredet und fuhren von dort gemeinsam die wenigen Kilometer mit dem Auto nach Sindelsdorf. Insgesamt waren wir sechs Läufer, von denen ich die beste Ausdauer besaß. Andi, der in Sindelsdorf wohnt, war für die Streckenführung verantwortlich und übernahm die Spitze. Gleich zu Beginn führte uns der Weg die ersten 100 Höhenmeter steil bergauf. Sogleich schoss bei uns allen der Puls nach oben, die Unterhaltungen wurden eingestellt. Danach ging es für fünf Minuten eben oder leicht bergab dahin, sodass wir uns nun alle bei Andi beschwerten, warum er gleich mit so einem langen Anstieg starten musste. Ich fühlte mich gut und lief locker in der Gruppe mit. In dieser befand sich auch Stephan (Sie erinnern sich? Der mit einer Halbmarathon-Bestzeit von 63 Minuten), seine Söhne Tom und Nick waren nicht mit dabei, dafür aber zusätzlich vier weitere unserer jungen Nachwuchsläufer. Da ich die Streckenführung kannte, machte ich im Flachen keinen Druck, denn bald würde der längste Anstieg mit beinahe 200 Höhenmetern folgen. Ich machte mir ein wenig Sorgen um meine Mitläufer, denn ich wusste, dass Andi, sobald es bergauf gehen würde, das Tempo kaum drosseln würde, sondern seinen Stiefel durchziehen wollte. Hätte ich mir lieber um mich selbst Sorgen gemacht, denn ab der Mitte des Anstieges erlebte ich etwas noch nie Dagewesenes. Meine Beine fühlten sich urplötzlich leer und kraftlos an. Ich kam den anderen nicht mehr hinterher, obwohl meine 10-km-Bestzeit mehr als fünf Minuten schneller war als die meiner Mitläufer. Ich, der mit Abstand ausdauerndste Läufer in der Gruppe, lief bei einem lockeren Dauerlauf am Ende der Gruppe. Das konnte doch nicht sein. Wegen ein paar Kohlenhydraten, genauer gesagt, wegen ein paar nicht vorhandenen Kohlenhydraten konnte ich einem alten Mann wie Stephan – entschuldige Stephan, ist nicht böse gemeint – nicht mehr folgen. Wenn das Tempo extrem hoch gewesen wäre, ich am Tag vorher ein superhartes Tempoprogramm überstanden, dann vielleicht wenig geschlafen und Bleistiefel getragen hätte, dann hätte ich das Ganze vielleicht, aber auch nur vielleicht, verstehen können. Aber so! Meine Atemfrequenz war nicht sonderlich hoch, mein gefühlter Puls war nicht in der Nähe meines Maximalwertes, aber meine Beine! Am Ende des Anstieges hatte ich einige Meter Rückstand auf die Gruppe, konnte die Lücke aber im Flachen wieder schließen. Dieses Spielchen wiederholte sich bei den nächsten, meist deutlich kürzeren Anstiegen wieder und wieder. Ich erzählte den anderen von meinem Experiment, denn sie wunderten sich natürlich, dass ich ihnen nicht hinterherkam. Nach 13 Kilometern waren wir wieder am Ausgangspunkt. Jeder andere vernünftige Mensch hätte den Dauerlauf hier beendet, so auch meine Vereinskameraden. Aber auf meinem von mir selbst erstellten Trainingsplan standen 21 Kilometer, ich musste weiterlaufen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich fühlte mich nicht so, dass ich jeden Moment umkippen oder gar das Bewusstsein verlieren würde, meine Beine waren einfach nur kraft- und saftlos. Ich lief also weiter, mied aber jeden weiteren Anstieg, soweit dies möglich war. Nach weiteren 36 Minuten war ich wieder am Parkplatz angekommen, stieg in mein Auto und fuhr nach Hause. Auf der Heimfahrt drehten sich meine Gedanken nur um Kohlenhydrate. Was ich dann zuhause machte, muss ich Ihnen wohl nicht genauer erzählen.

Im Nachhinein betrachtet muss ich zugeben, diesen ersten nüchternen Dauerlauf in einem desolaten Zustand beendet zu haben. Ich war zwar weit davon entfernt, ihn Ohnmacht zu fallen, schließlich hatte ich den Lauf immerhin in einem Kilometerschnitt von 4:30 Minuten pro Kilometer durchgezogen und konnte ohne Probleme die 15 Treppenstufen von der Garage zu meiner Haustüre hinaufgehen. Wenn ich mir allerdings ansehe, wie ich heutzutage Nüchtern-Dauerläufe gestalten kann, bei denen ich berghoch überhaupt keine Probleme habe und, wenn es sein muss, auch die letzten zehn Kilometer in 37 Minuten laufen kann, dann hat sich seitdem viel getan.

Seit diesem Erlebnis hatte sich mein Körper an die Abstinenz von Kohlenhydraten zu Beginn eines Dauerlaufs gewöhnt und kann mittlerweile mit dem Treibstoff Fett viel effektiver und besser umgehen als noch vor wenigen Jahren. Vor allem 2016 hatte ich einen großen Schritt in diesem Bereich nach vorne gemacht. Trotz dieser Stoffwechseloptimierung kann ich Folgendes berichten: Der eindeutig verbesserte Fettstoffwechsel führte bei mir nicht zu besseren Wettkampfergebnissen. Ich hatte zwar 2016 neue Bestleistungen über 10 km und im Halbmarathon aufgestellt. Das könnte aber auch daran gelegen haben, dass ich 2016 so viel trainiert hatte wie bislang nie in meinem Leben davor. Darüber hinaus war ich 2016 bei meinen wichtigen Wettkämpfen 2 – 3 Kilogramm leichter als in den Jahren zuvor gewesen, da ich konsequent auf meine Ernährung geachtet hatte. Es gab also gleich mehrere Erklärungen für meine (nicht allzu große) Leistungssteigerung. Diese subjektive Erfahrung deckt sich übrigens mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft: Nüchternläufe oder eine Reduzierung der Kohlenhydrate in der Ernährung führen nicht zu besseren Wettkampfleistungen.

Trotzdem empfehle ich Nüchternläufe und eine gezielte Reduzierung der Kohlenhydrate in der Ernährung zugunsten von Eiweißen und ungesättigten Fettsäuren, zumindest in bestimmten Trainingsphasen. Denn obwohl ich keine signifikanten Leistungszuwächse durch meine Ernährungsumstellung verzeichnen konnte, gewann ich an Lebensqualität hinzu.

Countdown Marathon

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