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Saisonplanung Frühjahr 2017 – Trail, kenn‘ ich schon
ОглавлениеMax‘ Trainingsplan musste warten. Ich trug noch schnell die möglichen Wettkämpfe in Bayern für ihn im Mai und Juni in das Excelblatt ein und machte mich dann sofort im Internet auf die Suche nach der Trail WM 2017. Meine Google-Suche mit dem Suchbegriff „Trail WM 2017 Badia Prataglia“ lieferte als ersten Treffer die Seite www.trailsacredforests.com, darunter ein paar Wörter auf Italienisch, von denen ich zumindest „campionato del mondo“ und natürlich „Trail“ verstand. Anscheinend gibt es selbst im Italienischen, das deutlich weniger Anglizismen als das Deutsche aufweist, keinen anderen Begriff für das Wort „Geländelauf“ oder die Veranstalter wollten die internationale Läufergemeinde einfach auf die Veranstaltung aufmerksam machen. Das musste die richtige Seite sein. Auf der englischsprachigen Version der Seite konnte ich sofort herausfinden, dass es vier verschiedene Strecken zur Auswahl gab: 14 km, 26 km, 50 km, 82 km. Doch auf welcher Strecke wird nun der Weltmeister ermittelt? Diese Frage konnte mir die Seite nicht beantworten. Unter der großen Überschrift „Trail World Championships 2017“ stand „An IAU competition“. Relativ schnell fand ich heraus, dass die Abkürzung „IAU“ für „International Association of Ultrarunners“ steht. Also ab auf Google, weiter auf die Seite der IAU und schon wusste ich, dass der Weltmeistertitel auf der kürzeren 50-km-Distanz vergeben wird. Kürzer!? Natürlich sind 50 Kilometer deutlich kürzer als 82 Kilometer, doch für jemanden wie mich, dessen längste Wettkampf-Distanz bisher der Halbmarathon war, und der im Training darüber hinaus nie länger als 34 Kilometer gelaufen war, sind 50 Kilometer eine ganz neue Hausnummer.
Ach ja, ich hatte bislang ganz vergessen zu erwähnen, dass da auch irgendetwas von 2.500 Höhenmetern stand. Die Gedanken sausten durch meinen Kopf: Kann ich diesen Wettkampf mit meinen Saisonzielen 2017 vereinbaren? Habe ich am 10. Juni überhaupt Zeit? Wo liegt dieses Badia Prataglia? Sind 50 Kilometer nicht viel zu lang? Kann mein Körper diese Belastung überhaupt durchstehen? Habe ich eine realistische Chance, einigermaßen weit vorne im Teilnehmerfeld zu landen? Darf ich einfach so an einer WM teilnehmen? Kann ich …? Viele weitere Fragen schossen durch meinen Kopf, doch bevor ich mich diesen widmen konnte, musste ich erst einmal klären, ob ich an diesem Wochenende überhaupt Zeit hätte und wo Badia Prataglia liegt. Der 10. Juni 2017 war ein Samstag, dies bedeutete, dass ich spätestens am Freitag anreisen musste. Badia Prataglia liegt im Norden der Toskana, ungefähr sieben Autofahrstunden von Penzberg, meinem Heimatort, entfernt. Dies würde bedeuten, dass ich mich gleich nach Dienstschluss um 14 Uhr ins Auto setzen müsste und dann müde und erschöpft um 22 – 23 Uhr ankommen würde. Derart lange zu sitzen ist Gift für meine Muskeln, das hatte ich in meiner langen Karriere schon des Öfteren zu spüren bekommen. Mittlerweile hatte ich zwar für mich herausgefunden, dass ich nach so einer langen Autofahrt noch einmal für 10 – 15 Minuten locker laufen, ein paar Steigerungsläufe machen und kurz meine Oberschenkel mit der Faszienrolle traktieren musste, um die Muskulatur für den nächsten Tag optimal vorzubereiten. Doch wollte ich mir diesen Stress im Vorfeld meines ersten Ultralaufs antun? Ich könnte natürlich auch fliegen, in etwas mehr als einer Stunde wäre ich mit dem Flugzeug von München oder Innsbruck aus in Florenz. Aber wie das immer so ist bei Flugreisen, mit der Anfahrt zum Flughafen, den Wartezeiten an den Terminals und der Tatsache, dass Badia Prataglia weitere zwei Autofahrstunden (natürlich mit einem Mietwagen) von Florenz entfernt liegt, käme man relativ schnell auf eine deutlich längere Anreisezeit als zunächst gedacht, in diesem Fall also fünf bis sechs Stunden. Jetzt gab es nur noch eine Hoffnung. Wenn dieses Wochenende in den Pfingstferien liegen würde, könnte ich bereits am Mittwoch oder Donnerstag ganz entspannt anreisen, und im Optimalfall, falls das Wochenende des 10. /11. Juni das mittlere Ferienwochenende wäre, obendrein einige Urlaubstage mit Conny in der Toskana dranhängen. Das wirkliche Geniale daran wäre zudem, dass sie mir zu Weihnachten einen Gutschein für eine Flugreise zu einem Wettkampf meiner Wahl geschenkt hatte. „Zur Not“, hatte sie gesagt, „kannst du auch mit dem Auto zu einer Meisterschaft fahren, ich übernehme dann die Kosten für die Anfahrt und eventuell anfallende Übernachtungen.“ Wenn also die Trail-WM mitten in den Pfingstferien liegen würde, könnte ich quasi kostenlos ein paar Tage in der Toskana mit meiner Frau verbringen und an einer Weltmeisterschaft teilnehmen.
Während diese Gedanken in meinem Kopf umherschwirrten, hatten meine Finger fast schon automatisch auf meiner Lieblingssuchmaschine die Webseite mit den Ferienterminen in Bayern ausfindig gemacht, und … Yes, das Wochenende der Trail-WM lag mitten in den Pfingstferien, damit war das größte Hindernis aus dem Weg geräumt. Außerdem wäre an diesem Wochenende keine wichtige Meisterschaft für meine Athleten, na gut, die Sparkassen Gala in Regensburg, das bestbesetzte Leichtathletikmeeting Bayerns überschnitt sich mit der Trail-WM. Und falls mein Athlet Julian (genannt Ju) doch nochmal die 3.000 m Hindernis in Angriff nehmen möchte, dann würde er in Regensburg die bayerischen Meisterschaften laufen, genauso wie Nick, unser aktueller C-Kader-Athlet, der mich mit seinen 17 Jahren im Training bereits einige Male abgehängt hatte. Aber für beide wäre dieser Wettkampf nicht der Saisonhöhepunkt, also müsste ich nicht unbedingt in Regensburg mit dabei sein, zudem wäre ja Melanie in Regensburg mit dabei. Melanie ist, genauso wie ich und meine Frau Conny, Trainerin beim TSV Penzberg und betreut neben ihrem Sohn Nick noch eine Menge hoffnungsvoller Nachwuchsläufer, darunter zwei weitere Kaderathleten. Ich schien also wirklich Zeit zu haben, unglaublich. Stopp! Eines meiner Saisonziele für 2017 war die Teilnahme an der Oberland Challenge, einer Laufserie im Landkreis Bad Tölz – Wolfratshausen bestehend aus neun Läufen, an der ich in den vergangenen Jahren regelmäßig teilgenommen hatte und meist in der Gesamtwertung auf dem Podest gelandet war. Um in die Gesamtwertung zu kommen, muss man an mindestens fünf Läufen teilnehmen, sowie die drei Wertungskategorien „Speed“, „Cross“ und „Extreme“ abdecken. In den vergangenen Jahren hatte ich diese Voraussetzungen immer nur ganz knapp erfüllt, da ich als Trainer an mehr als 25 Wochenenden im Jahr im Einsatz bin. Dazu kommen weiterhin die anderen Wettkämpfe, an denen ich selbst teilnehmen möchte. Aus diesem Grund muss ich bereits zu Beginn des Jahres sehr genau planen, an welchen Läufen der Serie ich teilnehme und an welchen nicht. Da die Termine der Oberland Challenge 2017 bereits alle feststanden, konnte ich in Sekundenschnelle herausfinden, dass vier Wochen vor und nach der Trail WM kein Lauf stattfand, an dem ich teilnehmen wollte. Ich hatte also wirklich Zeit!
Aber warum war ich sofort von diesem Wettkampf so fasziniert? Ich hatte noch nie bei einem Traillauf teilgenommen und 50 Kilometer lagen weit außerhalb meiner läuferischen Erfahrungen. Ein Marathon auf der Straße wäre zunächst einmal das naheliegende Ziel für einen Läufer für mich, der sich in den vergangenen drei Jahren im Halbmarathon kontinuierlich gesteigert hatte und nun bei einer Bestzeit von 1:09:39 Stunden angekommen war. Bereits im Herbst 2016 wollte ich eigentlich bei den deutschen Marathonmeisterschaften in Frankfurt mein Debüt geben, meine Zielzeit sollte irgendwo bei 2:25 Stunden liegen. Doch bereits zwölf Wochen vorher musste ich meine Pläne begraben, da mich eine Verletzung (entzündete Patellasehne) zu einer sechswöchigen Trainingspause gezwungen hatte. Natürlich hätte ich mit nur acht Wochen Vorbereitungszeit in Frankfurt an den Start gehen können. Allerdings war ich nach der Trainingspause gerade einmal im Stande, 10 km in 37 – 38 Minuten zu laufen und mein Knie schmerzte immer nach wie vor leicht. Deshalb war für mich klar, dass ich mein Ziel von 2:25 Stunden niemals erreichen könnte. Somit stand im Herbst 2016 relativ sicher fest, dass mein Hauptziel für 2017 der Frankfurt Marathon sein würde. Im Frühjahr wollte ich meine 10-km- und Halbmarathon-Bestzeit steigern. Außerdem hatte ich mir wieder vorgenommen, bei den deutschen Halbmarathonmeisterschaften zu starten, bei denen ich die Jahre zuvor immer Bestzeit gelaufen war und 2015 sowie 2016 jeweils die Bronzemedaille in der Altersklasse M35 gewinnen konnte. Waren 2016 der Termin und der Ort dieser Meisterschaften vom Deutschen Leichtathletik Verband erst wenige Wochen zuvor bekanntgegeben worden (ein Umstand, der nicht nur bei mir, sondern in der ganzen deutschen Läufergemeinde für Unverständnis gesorgt hatte), standen Termin und Ort für 2017 bereits jetzt fest: 9. April, Hannover. In den vergangenen Wochen zuvor hatte ich lange mit meinem Vereinskameraden Hugo diskutiert, ob wir daran teilnehmen oder nicht, denn es gab eine Terminkollision. Hugo war von 2014 – 2016 jeweils deutscher Marathonmeister in der AK 60 und wird seit drei Jahren von mir trainiert. So steigerte er 2016 in Frankfurt seine Bestleistung auf 2:49:48 Stunden und schaffte in den vergangenen Jahren bei diversen deutschen Meisterschaften (Cross, Halbmarathon, 10 km, Marathon) regelmäßig den Sprung auf das Podest. Eigentlich hätte es gar keine Diskussion geben dürfen, denn für uns beide waren die deutschen Halbmarathonmeisterschaften der Höhepunkt der Frühjahrssaison. Mindestens genauso wichtig wie diese Meisterschaften war aber in den vergangenen Jahren unser Ostertrainingslager in Tirrenia (zwischen Pisa und Livorno), das traditionell in der ersten Woche der Osterferien bis zum Ostermontag stattfindet. Begonnen hatte alles bereits 1999, als ich gemeinsam mit meiner Trainerkollegin Melanie und ihrem Ehemann Stephan - seine Halbmarathonbestzeit ist übrigens mit 1:03:23 Stunden - und ihrem damals noch nicht einmal zwei Jahre alten Sohn Tom die Reise nach Tirrenia antrat. Das verschlafene Nest im Westen der Toskana war in den 80er- und auch weiterhin in den 90er-Jahren bei Mittel- und Langstreckenläufern, aber auch Gehern, ein extrem beliebter Ort für das Frühjahrstrainingslager. Mit meinen 19 Jahren war ich erstaunt, wie viele Läuferinnen und Läufer in den herrlichen Pinienwäldern ihre Runden drehten. Hier trafen sich Weltklasseläufer und ganz normale Läufer wie du und ich. So war z. B. 2002 auch Dieter Baumann in Tirrenia. Da Melanie und Stephan bereits seit mehreren Jahren mit Dieter befreundet waren, kam auch ich in Kontakt mit Deutschlands wohl berühmtesten und nach wie vor schnellsten 5.000-Meter- und 10.000-Meter-Läufer. Nach diesem tollen Erlebnis dauerte es neun Jahre, bis ich wieder nach Tirrenia kam, dieses Mal aber als Athlet und als Trainer. Gemeinsam mit Conny und acht Athleten kehrten wir 2011 in die Toskana zurück, wo wir seitdem jedes Jahr unser Trainingslager verbrachten.
Für 2017 hatte ich bereits 30 Zusagen, ich konnte also nicht einfach nach Hannover reisen und so die ersten zwei Tage des Trainingslagers verpassen, vor allem da ich gemeinsam mit Conny und Melanie das gesamte Trainingslager organisiere. Darüber hinaus trennen Hannover und Tirrenia mehr als 1.250 Straßenkilometer. Selbst wenn ich in Hannover direkt nach der Siegerehrung mit dem Auto losfahren würde, wäre ich bestenfalls Montagfrüh in Tirrenia. Ich wäre nicht nur völlig erschöpft, sondern müsste die Zeit in der Toskana als „Erholungslager“ nutzen. Schließlich macht es wenig Sinn, in den Tagen nach einem Halbmarathon ein intensives Trainingslager durchzuziehen. Für mich war also die deutsche Halbmarathonmeisterschaft gestorben. Hugo entschied sich gegen das Trainingslager und für den Halbmarathon in Hannover. Mein Saisonhöhepunkt im Frühjahr war also verschwunden. Nach dieser Entscheidung suchte ich nach einem neuen Wettkampf, dem ich meine volle Aufmerksamkeit nach der Cross-Saison im Februar und März, mit ihren Höhepunkten bei den bayerischen Meisterschaften am 19. Februar in Kemmern (Oberfranken) und den deutschen Meisterschaften am 11. März in Löningen (Niedersachsen), zukommen lassen könnte. Da waren die bayerischen 10-km-Meisterschaften am 1. April in Neuhaus, die bayerischen Halbmarathon-Meisterschaften am 23. April in Augsburg und natürlich die diversen Läufe der Oberland Challenge. Am 1. April würde ich auf jeden Fall starten, denn gemeinsam mit meinen Teamkollegen hatte ich in den vergangenen zwei Jahren jeweils die Silber- und Bronzemedaille im Team gewonnen, und im vergangenen Jahr sogar die Bronzemedaille in der Einzelwertung bei den Männern. Zur Erklärung: Mit „Männern“ meine ich alle Männer, nicht nur die männlichen Läufer meiner Altersklasse, der AK M35.
Der 1. April war also gesetzt. Außerdem wäre ein schneller Zehner im Vorfeld eines Halbmarathons eine optimale Vorbereitung. Die bayerischen Halbmarathon-Meisterschaften wären natürlich ebenfalls ein lohnenswerter Wettkampf, schließlich könnten wir im Team und ich im Einzel ganz vorne mitmischen. Doch eine neue Bestzeit wäre in Augsburg nur schwer zu erzielen. Zwar gilt die Strecke als pfeilschnell, allerdings ist die Konkurrenz bei diesen Meisterschaften meist nicht so gut, sodass ich mit ziemlicher Sicherheit alleine laufen müsste. Was aber nicht heißt, dass ich automatisch der Sieger wäre, denn mit meiner Halbmarathon-Bestzeit war ich 2016 in Bayern nur auf dem 23. Platz der Bestenliste! Vielleicht würde ich in Augsburg starten, aber sicherlich nicht in Topform, denn diese wollte ich mir gerne für einen anderen Wettkampf aufsparen, aber für welchen?
Eigentlich wollte ich ja im Frühjahr meine Halbmarathon-Bestzeit erneut verbessern, vielleicht in die Bereiche von 1:08 oder sogar 1:07 Stunden vordringen. Denn insgeheim erhoffte ich mir für mein Marathondebüt in Frankfurt eine Zeit von unter 2:24 Stunden (2:22 Stunden wären natürlich der Wahnsinn!). Doch wo würde ich ein Teilnehmerfeld finden, in dem ich mich verstecken und so während des Rennens im Windschatten anderer Läufer meine Kräfte schonen könnte? Natürlich hätte ich beim Halbmarathon in Berlin am 2. April die Möglichkeit, ein richtig gut besetztes Rennen zu bekommen, bei dem im vergangenen Jahr mehr als 40 Athleten unter 1:10 Stunden geblieben waren. Aber am 1. April waren ja die bayerischen 10-km-Meisterschaften. Dieser Termin war fest in meinem Saisonplan verankert, ferner waren alle 20.000 Startplätze in Berlin bereits seit Wochen ausgebucht. Beim Silvesterlauf in München hatte ich zwar von einem Laufkollegen erfahren, dass für die Topläufer bis kurz vor dem Start die Möglichkeit besteht, sich anzumelden, auch wenn offiziell das Startplätzekontingent aufgebraucht ist. Doch momentan waren sich die Veranstalter nicht sicher, ab welcher Bestzeit man als „Topläufer“ gilt. „Irgendwas um die 1:10 Stunden“, hatte mein Lauffreund Florian Wenzler zu mir gemeint, der einige Tage vorher mit den Veranstaltern telefoniert hatte, da er mit seiner Bestzeit von 1:11 Stunden gerne in den Startblock der Topläufer gewollt hätte. Sie können es ihm nicht garantieren, ob er in diesen Startblock dürfe oder ob er sich, wie im vergangenen Jahr, zunächst im Pulk der anderen Läufer nach vorne durchkämpfen müsse, so die Veranstalter auf Florians Anfrage. Ich hätte mich also möglicherweise sogar noch für Berlin anmelden können, doch die bayerischen 10-km-Meisterschaften in Neuhaus gingen vor. Ich begann also wieder von vorne, welcher Halbmarathon sollte es sein?
Bevor ich mich dieser Frage widmen konnte, erhaschte ich auf dem Bildschirm meines Laptops unten in der Taskleiste das Excel-Symbol. Dabei fiel mir ein, dass ich ja den Trainingsplan für Max erstellen wollte. Also Gedanken sortieren und zurück zu den 1.500 m. Diese Strecke war das erklärte Saisonziel von Max, er wusste also, was er 2017 wollte. Sein zweites Saisonziel hatten wir (also Melanie und ich) ihm quasi aufs Auge gedrückt, wobei nach kurzer Bedenkzeit auch Max von diesem Ziel mehr als angetan war: Die Qualifikation für die deutschen Meisterschaften über 3 x 1.000 m der Männer. Staffelwettbewerbe haben bei uns im Verein bereits seit mehreren Jahren einen sehr hohen Stellenwert. Ob bayerische oder deutsche Meisterschaften, in großer Regelmäßigkeit nehmen unsere Läufer, egal ob über 4 x 200 m in der Halle, 4 x 400 m, 3 x 800 m oder 3 x 1.000 m an diesen Teamwettbewerben teil, meist sogar mit großem Erfolg. Doch bislang hatte es bis jetzt keine unserer Staffeln geschafft, sich für die deutschen Aktivenmeisterschaften (Meisterschaften der Erwachsenen) in einem Staffelwettbewerb zu qualifizieren. Da aber 2017 Tom und Lucas, zwei unserer stärksten Mittelstreckenläufer, dem Jugendbereich entwachsen waren, war dieses Ziel in greifbare Nähe gerückt. Denn gemeinsam mit Andi, der als 400 m Hürdenläufer ebenfalls eine sehr schnelle 1.000-Meter-Bestzeit aufweisen kann, rückte die Qualifikationszeit von 7:40 Minuten auf einmal in greifbare Nähe. Melanie hatte diesen Plan gefasst und dabei Max ganz vergessen, da sie nicht bedacht hatte, dass er bereits wieder am 7. Mai aus den USA nach Deutschland zurückkehren würde und so für die Staffel zur Verfügung stehen würde. Damit hätten wir sogar vier starke Läufer, die im Bereich von 2:30 – 2:38 Minuten laufen könnten. Die deutschen Staffelmeisterschaften würden Anfang August sein, doch leider gibt es eigentlich immer nur einen einzigen Wettkampf um die Norm zu unterbieten. Das sind die bayerischen Staffelmeisterschaften. Der Termin dafür war der 6. Mai, also einen Tag zu früh, denn Max würde erst am nächsten Tag aus den USA zurückkehren. Zur Sicherheit öffnete ich wiederholt den Terminplan mit den wichtigsten Wettkämpfen für unsere Athleten, den mir Melanie einige Tage zuvor geschickt hatte. Vielleicht hatte ich mich ja getäuscht. Aber leider war dem nicht so. Dafür sah ich, dass am 6. Mai nicht nur die bayerische Staffelmeisterschaft in Türkheim, sondern auch der Stadtlauf Geretsried stattfinden würde. „Das gibt es doch nicht“, sagte ich zu mir selbst. Eigentlich wollte ich bei diesem Stadtlauf über 10 km, der nur 20 Autominuten entfernt von Penzberg stattfindet, mitlaufen, denn der Geretsrieder Stadtlauf ist einer der neun Läufe der Oberland Challenge und war in den vergangenen Jahren fester Bestandteil meines Wettkampfplans. Ich musste mich schon wieder entscheiden, selbst laufen oder als Trainer mit nach Türkheim fahren.
Wie auch immer die Entscheidung ausfallen würde, mir war klar, dass es 2017 schwierig werden würde, in der Gesamtwertung der Oberland Challenge unter die ersten Drei zu kommen. Das große Problem wäre dabei nicht unbedingt, dass ich nicht die notwendigen fünf Läufe schaffen würde, sondern das Punktesystem der Laufserie. Bei jedem einzelnen Lauf wird die Zeit der fünf Erstplatzierten genommen und daraus eine Durchschnittszeit gebildet. Diese Durchschnittszeit wird mit 100 Punkten gleich gesetzt. Von diesem Basiswert aus werden die Punkte berechnet, die jeder Läufer bei dem jeweiligen Lauf erhält. Die Punktzahl, die man bei einem Wettbewerb der Challenge erhält, ist also maßgeblich davon abhängig, welche Konkurrenten am Tag X am Start sind. So kann es also passieren, dass man bei einem 10-km-Lauf mit einer Zeit von 34:30 Minuten als Erstplatzierter 106 Punkte erhält, beim nächsten 10-km-Lauf mit exakt derselben Zeit als Erstplatzierter aber nur 101,50 Punkte. Dieser Umstand macht die Oberland Challenge kaum berechenbar, was vielleicht unfair wirken mag, aber auch den Reiz der Serie ausmacht. D.h. an je weniger Läufen ich teilnehmen würde, desto geringer wäre meine Chance auf eine vordere Platzierung in der Gesamtwertung. Hinter den ersten beiden Läufen der Serie stand also zum jetzigen Zeitpunkt ein Fragezeichen. Aber ich wusste, dass ich beim dritten Lauf der Serie auf jeden Fall Zeit haben würde, da es hier keine Terminüberschneidungen zu geben schien: der Sixtus-Lauf Schliersee am 20. Mai. Dieser Halbmarathon, einmal um den wunderschönen Schliersee herum, war bislang nicht Bestandteil der Oberland Challenge gewesen, wurde aber von den Organisatoren für das Jahr 2017 in die Serie aufgenommen. Davon erfuhr ich bei der Gesamtsiegerehrung, als der Flyer mit den Terminen für 2017 ausgegeben wurde. Ich war zunächst von dem neuen Lauf in Schliersee wenig begeistert, ehrlich gesagt, ich stand diesem Wettkampf sofort ablehnend gegenüber. Warum soll ich bei einem Landschafts-Halbmarathon in Topform antreten? Da gibt es doch viel zu viele Höhenmeter, als dass ich eine vernünftige Zeit laufen könnte? Und dieser Termin, der 20. Mai, da habe ich eh bestimmt keine Zeit. Das waren meine ersten Gedanken, die ich auch sogleich Conny und den anderen Teilnehmern der Siegerehrung, die neben mir an den Tischen saßen, mitteilte. Doch im Verlauf der nächsten Wochen änderte sich meine Einstellung zu diesem Lauf. Zunächst stellte ich fest, dass ich sehr wohl Zeit hatte. Ich freundete mich mehr und mehr mit dem Gedanken an, etwas Neues ausprobieren zu wollen. Außerdem besuchte ich die Webseite des Veranstalters und musste mir eingestehen, dass ich den Organisatoren der Oberland Challenge Unrecht getan hatte. Eigentlich war dieser Lauf perfekt für mich, denn er war genau auf meine Stärken zugeschnitten: welliges Profil, teilweise nicht ganz ebener Untergrund, eventuell warme Temperaturen (ich liebe warmes Wetter bei Wettkämpfen) aufgrund der Startzeit um 12 Uhr und des relativ späten Termins Ende Mai, und natürlich die Streckenlänge mit 21 Kilometern. Außerdem gehört der Schliersee-Lauf in die Extrem-Wertung der Oberland Challenge. Die neun Läufe der Challenge sind in drei Kategorien unterteilt: Speed, Cross und Extrem. Aus jeder der drei Kategorien muss man einen Lauf absolvieren. Dies war in den vergangenen Jahren immer ein großes Problem für mich gewesen, da zwei der drei Extremläufe Bergläufe sind und ich am Berg wesentlich langsamer bin als im Flachen. Ich habe es jedes Jahr erneut versucht, am Berg mit meinen Konkurrenten, die ich im Flachen locker abhänge, mitzuhalten, doch meist hatte ich keine Chance.
Auf der ersten Hälfte eines Berglaufs denke ich mir immer, dass das Tempo „voll langsam“ ist und ich dieses Mal ganz vorne landen kann. Doch spätestens ab der Halbzeit merke ich, dass meine Beine nicht mehr können und ich langsamer und langsamer werde, obwohl ich regelmäßig Höhenmeter in meine Dauerläufe einbaue. Bei meinem letzten Berglaufversuch am Blomberg bei Bad Tölz hatte ich sage und schreibe vier Minuten Rückstand auf den Sieger bei gerade einmal 20 Minuten Laufzeit verloren. Dass der Sieger Toni Lautenbacher kurz darauf deutscher Berglaufmeister wurde, bei der Berglauf-WM als bester Deutscher trotz Seitenstechens Platz 16 belegte und zur Weltklasse im Skibergsteigen gehört, mag man vielleicht als Entschuldigung akzeptieren. Allerdings verliere ich auf Toni, der im Nachbarort wohnt, über 10 km gerade einmal eine Minute. Das ist aber nur eine grobe Schätzung, da Toni sehr wahrscheinlich bei einem Laufwettkampf im Flachen noch nie an sein Limit gehen musste, was vor allem seinen Lauftrainer ärgert, der gerne einmal wissen möchte, was sein Schützling wirklich zu leisten imstande wäre.
Der Sixtus-Lauf Schliersee wäre für mich eine mehr als geeignete Möglichkeit, in der Extremwertung eine hohe Punktzahl zu erreichen, denn über die Halbmarathon-Distanz bin ich relativ gesehen deutlich schneller unterwegs als über 10 km oder andere kürzere Distanzen. Diese Tatsache wird dadurch untermauert, dass meine 10-km-Bestzeit eine Durchgangszeit ist. Damals, bei den deutschen Halbmarathonmeisterschaften 2016 in Bad Liebenzell, durchlief ich die 10-km-Marke nach 32:39 Minuten (falls die Kilometerschilder auf der Strecke stimmten), was neun Sekunden schneller war als meine offizielle 10-km-Bestzeit. Wenn ich in Schliersee in Topform wäre, könnte ich sehr viele Punkte für die Gesamtwertung der Oberland Challenge sammeln. Zudem müsste mir die Tatsache entgegen kommen, dass der Schlierseelauf kein reiner Straßenlauf ist, sondern eine Mischung aus Trail-, Wald- und Straßenlauf. Ich liebe es, wenn es hin und wieder bergauf und bergab geht, über Wurzeln, unebenes Gelände und verschiedene Untergründe. Dabei muss ich kaum mein Tempo reduzieren, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Läufern, die nicht ganz so trittsicher sind wie ich. Obwohl ich, wie oben erwähnt, bislang nie an einem Traillauf teilgenommen hatte, hatte ich schon jede Menge Erfahrung mit verschiedenen Laufuntergründen sammeln können.
Die Aussage „ich habe noch nie an einem Traillauf teilgenommen“ ist allerdings nicht ganz richtig. Korrekt wäre: „Ich habe noch nie an einem Wettkampf teilgenommen, der sich selbst als Trail bezeichnet.“ Der Begriff „Trail“ kam in den vergangenen Jahren immer mehr in Mode, doch eigentlich gibt es Trailläufe schon seit ich denken kann, doch hießen diese entweder Crossläufe, Waldläufe oder verrieten mit ihrem Namen allenfalls den Ort der Veranstaltung, nicht aber den Untergrund. Mittlerweile ist man dazu übergegangen, die Läufe mit der Zusatzbezeichnung „Trail“ zu kennzeichnen, um die Laufgemeinde darauf hinzuweisen, dass der Lauf bergauf und bergab über Stock und Stein führt und nicht eben nur über Asphalt. Dabei sind streng genommen die meisten Berg-, Wald- und Crossläufe ebenfalls Trailläufe, doch vor allem die Begriffe Waldlauf und Crosslauf sind mittlerweile etwas aus der Mode gekommen und haben einen angestaubten Charakter. (Aus diesem Grund haben wir vom TSV Penzberg auch unseren 2015 zum ersten Mal durchgeführten Lauf „Team-Trail“ genannt und nicht „Team-Crosslauf“). Bereits 1989 hatte ich bei einem „Traillauf“ teilgenommen, dem Benediktbeurer Kirtalauf, der über Kieswege und sogenannte „Single Trails“ führt, und auch heute (bei fast identischer Streckenführung) nach wie vor so heißt wie damals. Seit Anfang der 1990er bin ich auch regelmäßiger Gast bei diversen Crosslaufmeisterschaften. Ich liebe Crossläufe, denn hier kann man auch einmal Läufer, gegen die man auf der Straße oder auf der Bahn keine Chance hat, nicht nur ärgern, sondern eventuell sogar bezwingen. Da ich sie so schätze und ich diese als unerlässlich in der Saisonvorbereitung für das Frühjahr bzw. den Sommer erachte, habe ich in den vergangenen Jahren die ganze Entwicklung zum Thema „Trailrunning“ einerseits etwas belächelt, andererseits aber mit Freude verfolgt. Denn bei uns im Leistungssport gehörte Trailrunning schon immer dazu, sei es im Training oder im Wettkampf, wir nannten es nur nicht so.
Ich muss gestehen, ich habe Läufe, die den Namen „Trail“ in sich tragen, sozusagen boykottiert. Trailläufe hatten in den vergangenen Jahren immer Zuwächse bei den Teilnehmern, während traditionelle Crossläufe teilweise mit rückgängigen Teilnehmerzahlen zu kämpfen hatten. Natürlich liegt dies daran, dass die Veranstalter der Trailläufe die breite Schar der Hobbyläufer für sich gewinnen konnten, da sie ihnen Abenteuer und neue Herausforderungen versprachen. Die Crosslaufveranstalter sprachen hingegen oftmals nur der Klientel der Leistungsläufer an, deren Zahl (und Leistungsfähigkeit) sich im Vergleich zu den 1980ern und 1990ern deutlich verringert hatte. Mittlerweile hatte ich den Trend akzeptiert und war sogar etwas neugierig darauf geworden. Der Lauf am Schliersee kam mir also gleich in doppelter Weise entgegen: einmal, so hoffte ich, als wertvoller Punktelieferant für die Oberland Challenge, zum anderen als erste Erfahrung und als hochqualitatives Training für die mögliche Teilnahme an der Traillauf-WM.