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Der Trailläufer in mir – Die Einsamkeit des Läufers
ОглавлениеBevor ich mich von einem Arzt durchchecken ließ, wollte ich wieder einmal auf der Internetseite der Trailrunning-WM-Seite vorbeischauen. Vielleicht gab es mehr Informationen zur Strecke und zur Anmeldung. Tatsächlich war der Internetauftritt aktualisiert worden. Für alle Distanzen gab es Links zu den Streckenprofilen, Regeln, Online-Anmeldungen usw. Das große Problem dabei war nur, dass die Links nicht funktionierten. Sobald man darauf klickte, passierte nichts. Ich probierte es bei allen Strecken und allen Links, aber ohne Erfolg. Selbst der große rote Button ganz oben auf der Seite, auf dem in Großbuchstaben „REGISTRATION IS OPEN“ stand, führte zu keinem Erfolg. Auch auf der italienischen Version der Seite war der Link „ISCRIZIONI APERTE“ eine Sackgasse. Zunächst dachte ich, dass mein Browser fehlerhaft sei und öffnete deshalb einen anderen. Hier war zwar die Darstellung der Seite viel übersichtlicher, aber die Links waren ebenfalls defekt. Selbst auf meinem Handy gab es kein Weiterkommen, man war auf der Startseite gefangen. Ich gab bei Google folgende Suchbegriffe ein: „Badia Prataglia Trailrunning WM 2017“. Der erste Treffer machte mich neugierig, um nicht zu sagen, extrem neugierig. Hier war die Rede von einem Bericht vom 08.01.2017, bei dem Medienvertreter die Originalstrecke der WM abgelaufen waren. Sofort klickte ich auf den Link von www.rockntrail.de und begann zu lesen. Mehrere Bilder zeigten herrliche Landschaften und Impressionen, darunter ein Foto von einem sehr schmalen Weg über einen Schieferhang, der mit einem Seil abgesichert war. Damit hatte ich nicht gerechnet. Solche Wege kannte ich aus den Alpen, aber in den italienischen Mittelgebirgen hatte ich auf beschauliche Waldpfade gehofft. In dem Artikel berichtete der Autor vom dem auf dem Bild sichtbaren Pfad, wobei er aber relativ lapidar anmerkte, dass man selbst diesen Abschnitt problemlos laufen könne, obwohl es direkt neben dem Weg steil bergab ging. Dies schien also der schwierigste Abschnitt des Trails zu sein. Ich war erleichtert und kam nach kurzem Überlegen zu der Erkenntnis, dass ich im Training bereits viel gefährlichere und anspruchsvollere Wege gelaufen war. So war ich z. B. bei einer meiner anspruchsvollsten Trainingsrunden am Fuße der Benediktenwand bereits Wege gelaufen, bei denen man nicht hätte ausrutschen dürfen. Ansonsten wäre man einen mehrere hundert Meter langen steilen Abhang hinuntergerollt oder an manchen Stellen einfach 10 – 20 Meter abgestürzt. Zusätzlich kam damals erschwerend hinzu, dass ich oftmals auf diesen Wegen, die sich zwischen 1.000 m – 1.100 m ü. NN befinden, mit vereisten Stellen oder Schneeresten zu kämpfen hatte. Winterliche Verhältnisse würden mich in der Toskana Mitte Juni wohl kaum erwarten. Darüber hinaus waren meine Trainingsrunden deutlich riskanter als ein organisierter Trailrun, bei dem es alle paar Kilometer Kontrollpunkte und Verpflegungsstationen gab, wo an jeder Kreuzung ein Wegweiser den Weg markiert, sodass einem das Verlaufen zwar nicht unmöglich gemacht wird, aber die Wahrscheinlichkeit dafür deutlich sinkt. Bei meinen Trainingsläufen östlich von Benediktbeuern war ich immer alleine unterwegs und musste mir zu Beginn den Weg selbst suchen. Ich hatte zwar vorher Landkarten und Wege online studiert, doch vor allem die kleinen Trails und Trampelpfade tauchten in diesem Kartenmaterial nur sehr selten auf, sodass ich bei meinen ersten Runden zunächst einmal die Wege erkunden musste. Nicht selten kam es vor, dass ich mich in einer Sackgasse wiederfand und mir dann nichts anderes übrig blieb, als denselben Weg zurückzulaufen.
Natürlich hatte ich mich im Vorfeld mit den Verwandten meiner Frau, die in Benediktbeuern leben, über verschiedene Wege ausgetauscht. Viele von ihnen kannten allerdings nur die breit ausgetretenen Pfade zu den bekannten Touristenattraktionen, wie den Weg durch das malerische Lainbachtal hinauf zur Tutzinger Hütte oder den Mountainbike-Weg hinauf zum Windpässel, der die Wanderer und Radfahrer ins benachbarte Isartal bei Bad Tölz führte. Mein großes Ziel war es, diese beiden Wege miteinander zu einer Laufrunde zu verknüpfen. Laut verschiedener Wanderkarten musste es einen kleinen Pfad geben, doch diesen schien niemand zu kennen. Mehrere Male suchte ich diesen Weg, doch erst nach einigen Läufen fand ich ihn letztendlich. Es war ein herrlich schmaler Pfad, der anscheinend nur sehr selten benutzt wird. Zumindest fand ich dort nie Fußspuren, andere Läufer oder Wanderer traf ich nie an. Er führte vom Windpässel parallel am Hang entlang zu einer mir bekannten Höhle, in der im 2.Weltkrieg ein Einsiedler gelebt hatte, von der aus es eine Verbindung zur Sattel-Alm gab. Von dieser Alm verlief eine breite Forststraße in Richtung Tutzinger Hütte, wobei ich diese Forststraße nach ca. zwei Kilometern in Richtung Westen verlassen musste, um ins Lainbachtal absteigen zu können. Auf dem Verbindungspfad zwischen Windpässel und Höhle stieß ich auch auf den oben beschriebenen schmalen Pfad, der mitten durch einen Steilhang verlief. Da dieser Weg durch den Wald verlief, war der Boden meist feucht, matschig und rutschig. Aufmerksames Laufen war das oberste Gebot. Trotz der anspruchsvollen Strecke verlangsamte ich mein Tempo kaum, es machte mir Spaß, mit hoher Geschwindigkeit durch die einsame und verlassene Gegend zu laufen. Ich machte mir nie keine Gedanken darüber, dass ich abstürzen, umknicken oder mich verletzen könnte. Damals hatte ich nie mein Handy dabei. Außerdem hatte ich niemandem, auch meiner Frau nicht gesagt, wo ich laufe, denn meistens entschied ich mich immer sehr spontan, welche Strecke ich für meine Dauerläufe wählen würde. Zu allem Überfluss war ich oftmals in der Abenddämmerung unterwegs, sodass ich geradeso vor Einbruch der Dunkelheit wieder mein Auto erreichte. Eine Verletzung oder eine falsche Entscheidung beim Abbiegen hätte leicht dazu führen können, dass ich den Abstieg durch das Lainbachtal im Dunkeln hätte laufen müssen. Einige Male war es sehr knapp, doch gerade solche Momente waren sehr intensiv.
Erst in diesen Augenblicken wird man eins mit der Umgebung, konzentriert sich ausschließlich auf sich selbst. Man reduziert sich zu einem wirklichen Läufer, man hat nur noch seinen Körper, ist völlig fokussiert auf das Hier und Jetzt, alle Gedanken kreisen ausschließlich um den nächsten Schritt. Das Ziel scheint meilenwert entfernt zu sein. Obwohl ich nie mehr als fünf Kilometer Luftlinie von meinem Auto entfernt war und nie mehr als sechs Kilometer vom Haus meiner Schwiegereltern, fühlte ich mich in solchen Augenblicken verlassen und einsam, völlig auf mich alleine gestellt. Manch einer von uns würde dieses Gefühl auch als Angst bezeichnen. Doch Angst hat für mich etwas Unkontrollierbares, ich war aber Herr der Lage, soweit ich das objektiv beurteilen konnte. Ich war mir in jedem Moment sicher, dass ich gesund und munter am Auto ankommen würde, ich hatte keine Sekunde Zweifel, dass mein Körper die Belastung nicht aushalten würde. Ich war mir sicher, es zu schaffen, egal ob ich noch eine, zwei oder drei Stunden brauchen würde, egal ob ich in völliger Dunkelheit laufen müsste oder ob die Temperaturen unter den Gefrierpunkt fallen würden. Nichts konnte mich aufhalten. Diese Läufe entführten mich für eine kurze Zeit aus dem Alltag, aus dem sicheren Umfeld, das ich mir mit Conny in den vergangenen Jahren aufgebaut hatte. Obwohl man oftmals in Beruf, Schule und Familie unsichere Zeiten durchstehen muss, ist nichts vergleichbar mit der Unsicherheit, wenn man sich im Dämmerlicht auf einem schmalen Pfad befindet und sich nicht sicher ist, welcher Weg der richtige ist und ob man rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit das Auto erreichen wird. Erschwerend kam hinzu, dass ich niemals Proviant dabei hatte. Wasser wäre kein Problem gewesen, schließlich gibt es bei uns in den Bergen unzählige Quellen, kleine und große Bachläufe, die keinerlei Verunreinigungen enthalten. Aber falls ich in Unterzucker gekommen wäre, hätte ich sehr wahrscheinlich Probleme bekommen. Doch gottlob war das nie der Fall. Selbst als ich einmal durch mehr als kniehohen Schnee laufen musste, mir dabei die Schienbeine an der harten und vereisten oberen Schnee- und Eiskruste blutig lief und den richtigen Weg erst nach einer gefühlten Ewigkeit fand, kamen keine Zweifel in mir auf. Warum sollte mir also ein Foto von einem Pfad durch ein Schotterfeld Angst einjagen? Die kurze Verunsicherung beim Lesen des Artikels wich relativ schnell der Vorfreude auf dieses Event, vor allem als ich den Bericht des Reporters weiter las. Er schwärmte von den Wegen, von dem zauberhaften Anblick der mit Nebel eingehüllten Wälder, von der Gastfreundschaft der Leute, von dem zauberhaften Charme der Region. Es schien so, als hätten sich die Verantwortlichen der International Trailrunning Association den perfekten Ort für diese Trail-WM ausgesucht.
Darüber hinaus berichtete der Autor von den „endlosen“ Downhills. Ich muss gestehen, mir war der Begriff „Downhills“ immer nur in Verbindung mit dem Mountainbikesport oder dem Skisport begegnet, aber bislang nie beim Laufsport. Nicht, dass ich in meinem Läuferleben noch nie längere Strecken bergab gelaufen wäre, ganz im Gegenteil, es gibt fast nichts Schöneres als den Weg durch das Lainbachtal bergab zu laufen: 140 Höhenmeter auf ungefähr vier Kilometern. Auch steilere „Downhills“ mit 300 – 400 Höhenmetern war ich schon gelaufen, aber natürlich fast immer nur mit angezogener Handbremse, um meine Knochen und Gelenke zu schonen. Es gab aber auch schon Trainingsläufe, bei denen ich ohne Rücksicht auf Verluste bergab „gedonnert“ war und zur „Belohnung“ einen Muskelkater für die nächste Woche geschenkt bekam. Insgesamt würde ich mich als einen ziemlich guten Bergab-Läufer bezeichnen, die Strecke im Apennin schien mir demnach zu liegen. Wäre da nicht im vorletzten Absatz die Rede von 600 Höhenmetern am Stück bergauf gewesen. So viele Höhenmeter am Stück war ich erst zweimal gelaufen. Damals hatten mich zwei meiner Lauffreunde davon überzeugt, mit ihnen auf den Herzogstand zu laufen. Der Herzogstand ist der Hausberg der Münchner, da er von der bayerischen Landeshauptstadt einer der ersten Berge ist, auf den eine Bergbahn hinaufführt. Der Herzogstand ist 1.731 m hoch und liegt direkt am wunderschönen, azurblauen Walchensee. Wir trafen uns damals an der Talstation der Herzogstandbahn (809 m ü. NN) und liefen den Weg unterhalb des Sessellifts bis zur Bergstation (1.600 m ü. NN). Dieser Singletrail (wir nannten das damals einfach nur Wanderweg) schlängelt sich auf 4,5 Kilometern ungefähr 800 Höhenmeter nach oben. Ich war bislang nie einen „ganzen“ Berg hochgelaufen, gewandert war ich schon hunderte Male und bei meinen Dauerläufen war ich des Öfteren 300 oder 400 Höhenmeter am Stück gelaufen, aber doch keine 800 Meter! Meine beiden Freunde waren schon dutzende Male die Berge um Garmisch-Partenkirchen und Mittenwald (ihre Heimatorte) hochgerannt, waren also deutlich im Vorteil. Zunächst hielt ich mich zurück und lief hinter den beiden her. Doch ab ungefähr der Hälfte der Distanz fühlte ich mich so stark, dass ich einfach an beiden vorbeizog und ruckartig das Tempo erhöhte. Sofort hatte ich die beiden abgehängt und eilte nun der Bergstation entgegen. Ohne Einbruch und mit einem unglaublichen Gefühl der Leichtigkeit flog ich bergauf und erreichte nach 38 Minuten das Ziel.
Diese erste Berglauferfahrung führte dazu, dass ich mich sechs Wochen später für den Herzogstandlauf anmeldete, obwohl ich mich inmitten meiner Bahnsaison befand. Hochmotiviert, unerfahren und unglaublich blauäugig klemmte ich mich gleich nach dem Start auf der Passhöhe des Kesselbergs an den führenden Läufer. Die Strecke beim Herzogstandlauf war eine andere als bei meinem Trainingslauf und verlief zunächst relativ eben bzw. nur leicht ansteigend die Forststraße entlang. Ich klemmte mich gleich an die Fersen von Quirin Schmölz, wohlwissend, dass dieser im Jahr zuvor 17. bei den Jugend-Berglaufweltmeisterschaften war, also ein echter Berglaufspezialist und zu diesem Zeitpunkt einer der besten Bergläufer Deutschlands. Solange der Weg flach war, konnte ich ihm folgen. Als es richtig steil wurde, steil für einen Bahnläufer wie mich, musste ich sofort abreißen lassen. Von nun an wurde ich immer langsamer und langsamer und wurde von einem nach dem anderen Läufer überholt. Völlig außer Atem und konsterniert erreichte ich das Ziel meines ersten Berglaufs nach 35 Minuten. Ich hatte die bittere Erfahrung gemacht, dass ich am Berg wohl nicht so gut bin, wie ich das von mir erwartet hatte. Seitdem war ich nie mehr als 480 Höhenmeter am Stück gelaufen, 600 Höhenmeter wie jetzt bei der Traillauf-WM wären somit seit mehr als zehn Jahren die längste Bergaufstrecke für mich. Ich musste kurz schlucken, doch ich kehrte die Bedenken zur Seite, schließlich bedeutete es ja, dass die meisten anderen Anstiege deutlich kürzer sein würden. Zudem musste es dann auch einige Höhenmeter bergab geben. Bergablaufen liegt mir doch, so, zumindest meine Beschwichtigung für mein Gewissen. Als ich weiter nach unten scrollte und der Text auf den Nationalpark und den atemberaubenden Trail entlang des Stausees einging, hatte ich die vielen Höhenmeter bereits wieder vergessen.
Am Ende des Artikels hieß es, dass die Anmeldung bereits frei geschaltet sei und dass man sich möglichst schnell um ein Hotel kümmern sollte, da der Veranstaltungsort selbst nur über sehr wenige Unterkünfte verfüge. Da ich bis jetzt keinen funktionierenden Link zur Anmeldung gefunden hatte, surfte ich gleich zu meiner Lieblings-Hotelbuchungsseite weiter. Dort wurde ich nach kurzer Suche relativ schnell fündig und buchte für mich und meine Frau ein Doppelzimmer im nahegelegenen Bagno di Romagna. Ich hatte uns erst einmal von Freitag bis Sonntag eingemietet, da ich im Moment nicht genau wusste, wie viele Tage ich hier verbringen wollte. Am Samstag würde auf jeden Fall der Wettkampf sein. Die Unterkunft war gebucht, jetzt gab es eigentlich kein Zurück mehr. Vorsichtshalber aber hatte ich ein Hotel gebucht, das man bis drei Tage vor Anreise kostenlos stornieren konnte, denn man wusste ja nie, ob eventuell etwas geschehen würde, was mich von meinem Start abhalten würde.