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Exkurs Oktober 2016 - Die unerwünschte Diagnose - Dehnen ist wichtig
ОглавлениеDie ersten zehn Trainingstage seit meinem Entschluss waren vergangenen. Mittlerweile waren die Weihnachtsferien seit einer Woche vorbei und ich war wieder im Schulalltag angekommen. Meine Gedanken kreisten jetzt wieder um meine Schüler, Schulaufgaben, Kollegen. Ich musste das Training in den oftmals stressigen Arbeitstag integrieren. Obwohl ich als bayerischer Lehrer das Privileg genieße, oftmals um 13 Uhr bereits den Weg nach Hause antreten zu dürfen, ist mein Arbeitstag damit nicht beendet. Am Nachmittag oder Abend wird korrigiert, für den nächsten Tag Unterrichtsstunden vorbereitet, für die Homepage der Schule Artikel geschrieben, es gibt immer etwas zu tun. Im Januar hatte ich das Riesenglück, am Montag bereits um 11:15 Uhr die Schule verlassen zu können, somit konnte ich am Mittag zu meiner ersten Trainingseinheit starten. Dies war optimal für mich, da Montag typischerweise einer von zwei Krafttrainingstagen in der Woche ist. Jeweils am Abend trafen bzw. treffen wir uns zum gemeinsamen Krafttraining im Fitnessstudio. Im Normalfall laufe ich zunächst 6 – 8 Kilometer, mache dann einige Steigerungsläufe und einen Kraftzirkel, bestehend aus 8 – 10 Übungen. Dieser beinhaltet sämtliche wichtige Beinmuskeln (Oberschenkel Vorderseite und Rückseite, Po, Waden, Oberschenkelinnen- und Außenseite) sowie Bauch, Rücken und Arme. Ich hatte bereits im Oktober mit Maximalkrafttraining begonnen und war jetzt soweit, zum IK-Training umzusteigen.
Beim Maximalkrafttraining trainiert man mit 10 – 12 Wiederholungen (drei Sätze), um Muskelmasse aufzubauen. Beim IK-Training (IK = Intra-Koordinativ) trainiert man nur mit 4 – 8 Wiederholungen bei 85 – 95 % des maximal möglichen Krafteinsatzes. Dabei erzielt man den Kraftzuwachs nicht durch eine Zunahme der Muskelmasse, sondern dadurch, dass die einzelnen Muskelfasern lernen, besser miteinander zu arbeiten. Dies kann man sich ganz einfach vorstellen. Wenn man eine neue Mannschaft für ein Ruderboot zusammenstellt, wie z. B. bei einem Achter-Boot, muss diese Mannschaft einige Zeit lang trainieren, um synchron zu arbeiten, um die Kraft optimal auf das Wasser übertragen zu können. Zunächst erfolgt die Kraftübertragung der einzelnen Ruderblätter in zeitlich leicht versetzten Intervallen. Erst mit der Dauer des Trainings erfolgen die Ruderschläge synchron und in perfekter zeitlicher Übereinstimmung. Die Muskulatur besteht aus vielen einzelnen Muskelfasern, die ebenfalls wie die Ruderer lernen müssen, die Kraft zu einem gemeinsamen Zeitpunkt zu übertragen. Durch das Training mit sehr hohen Gewichten übt man genau dies. Der große Vorteil an dieser Methode ist auch, dass man kein Gewicht zulegt, da die Muskelmasse gleich bleibt. Das ist natürlich für uns Läufer, die auf ihr Gewicht achten müssen, von Vorteil. Man spricht hierbei im Übrigen von „schlanker“ Muskulatur. Dass auch Läufer ein gewisses Maß an Kraft benötigen, hat sich mittlerweile fast überall herumgesprochen. Ich dachte lange Zeit, dass ich genug Kraft hätte, was auch sicherlich in meiner Jugend der Fall war. Allerdings hatte ich in den vergangenen zwei bis drei Jahren bemerkt, wie sie nachgelassen hatte. Im Vergleich zu den meisten anderen Männern in meinem Alter (im Januar 2017 war ich 36 Jahre alt) hatte ich in meinen Beinen und im Rumpf (Bauch und Rücken) mehr Kraft, trotzdem war der Kraftverlust eindeutig. So war dieser vor allem in meinem linken Bein mit bloßem Auge zu sehen, denn Oberschenkel und Wade auf der linken Seite hatten deutlich an Umfang verloren. Im Alltag wurde mir dies dadurch bewusst, dass ich z. B. Treppenstufen mit dem rechten Bein voran hinaufstieg oder, wenn ich von einem Stuhl aufstand, das rechte Bein deutlich mehr aktiviert wurde als das linke. Dieses Kraftdefizit hatte sich in den vergangenen sechs Monaten deutlich verstärkt, da ich im Sommer mein linkes Bein aufgrund von Knieschmerzen unterhalb der Kniescheibe immer mehr entlastete. Gegen Ende des Sommers wurden die Schmerzen so schlimm, dass ich einen Termin beim Orthopäden meines Vertrauens vereinbarte.
Dr. Meichsner, ehemals ein hervorragender Mittelstreckenläufer (1.500-Meter-Bestzeit: 3:43 Minuten), der nach eigenen Aussagen seine Marathon-Bestzeit von 2:21 Stunden als Nebenprodukt seines Mittelstreckentrainings erzielte, ist schon seit Jahren nicht nur mein Sportorthopäde, sondern behandelt fast alle unsere Athleten im Verein. Obwohl er einen mehr als vollen Terminkalender hat, bekommt man bei ihm bei einer akuten Verletzung, oder bei einem Wehwehchen vor einem wichtigen Wettkampf schnell und unkompliziert einen Behandlungstermin. Dafür nehmen ich und unsere Athleten auch gerne die 20-minütige Fahrt nach Bad Tölz in Kauf. Ich wurde also in seiner Praxis an der Isar vorstellig und schilderte ihm mein Beschwerdebild. Ich selbst hatte bereits mit dem Schlimmsten gerechnet und in meinem Kopf verschiedene Szenarien, von einer langwierigen konservativen Behandlung bis zu einer Operation, durchgespielt. Dabei wusste ich ja bislang gar nicht, was ich genau hatte bzw. woher die Schmerzen kamen, geschweige denn kannte ich die Ursachen für die Schmerzen.
Seit vier Wochen war ich nicht mehr gelaufen, denn sobald ich mein linkes Knie abwinkelte, spürte ich einen stechenden Schmerz links oben in meiner Kniescheibe. Während unseres USA-Urlaubs wurden die Schmerzen so schlimm, dass ich selbst im Liegen das Knie nicht mehr abwinkeln konnte. Trotz Laufpause verbesserte sich das Beschwerdebild nicht, es verschlechterte sich sogar. Am zwölften Tag unseres USA-Urlaubs hatte ich aus einem Hotel im US-Bundesstaat Utah eine E-Mail an Dr. Meichsner geschickt, mit der Bitte um einen Termin. Er hatte prompt geantwortet und mir für den Tag nach unserer Rückkehr den letzten Termin des Tages gegeben. Dies machte er gerne, denn so hatte er Zeit, da keine weiteren Patienten warteten. Immer wenn einer von uns bei ihm zur Behandlung ist, nimmt er sich ausführlich Zeit für eine Diagnose. Man merkt, dass ihm das Laufen, obwohl er es schon lange nicht mehr wettkampfmäßig betreibt, weiterhin sehr am Herzen liegt. Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass man einen lauferfahrenen Arzt vor sich hat, dem man nicht erst ausführlich Trainingseinheiten, Laufumfänge, also die Besonderheiten eines leistungsorientieren Lauftrainings erklären muss. Durch seine lange Karriere als Läufer und Mediziner kennt er alle Facetten des Laufsports und die typischen Laufverletzungen. Man fühlte und fühlt sich einfach gut aufgehoben. Nachdem ich Dr. Meichsner also ausführlich über meine Probleme in Kenntnis gesetzt hatte, schaute er mich zunächst an. Mit „mich“ meine ich, dass er mich von oben bis unten betrachtete, er sah sich einfach nur meinen Körper an. Dabei stellte er gleich fest, dass mein linker Quadriceps (Oberschenkel-Vorderseite) deutlich weniger ausgeprägt war als der rechte. Das machte er sofort als ersten möglichen Grund für meine Beschwerden aus, denn schließlich bedeutet ein gering ausgeprägter Muskel, dass die Zugbelastung für die Kniescheibe größer ist, da die Muskulatur die Stoßbelastungen weniger effektiv abfangen kann. Mit dieser ersten schnellen Diagnose hatte ich bereits gerechnet. Ich entschuldigte mich sofort damit, dass ich von dem Problem wüsste (was auch teilweise stimmte). Ich aber aufgrund der Schmerzen, die mich in ähnlicher, aber ansonsten deutlich weniger intensiven Art und Weise schon seit vier Jahren plagten, keine Übungen zur Stärkung der Oberschenkel-Vorderseite durchführen könne.
Vor vier Jahren (im Spätsommer 2012) war ich bei einem Fußballspiel – einige von uns Lehrern spielten gegen die Schüler der 10. Klassen beim großen Fußballturnier unserer Schule – mit einem Schüler zusammengestoßen. Dabei war mein linkes Knie komplett abgewinkelt. Ich spürte einen dumpfen Schmerz, der aber einige Minuten später wieder verschwunden war. Ich hatte mir nichts dabei gedacht. Seit diesem Zusammenprall kann ich mein Knie nur unter Schmerzen gegen einen Widerstand strecken, was mich aber im Alltag so gut wie nicht einschränkt. Dies galt eben bis zu diesem Sommer. Die Kombination aus Wandern (bergauf und bergab) und dem vielen Sitzen im Mietwagen war für den Knorpel unterhalb der Kniescheibe alles andere als förderlich, sodass die Schmerzen während des Urlaubs immer größer wurden.
Als ich Dr. Meichsner von den seit mehr als vier Jahren andauernden Schmerzen erzählte, meinte dieser nur lapidar, dass hier wahrscheinlich ein kleiner Knorpelschaden vorliege, den man mittels MRT lokalisieren und genauer diagnostizieren, man dagegen aber nicht viel tun könne (eventuell Cortisonspritze). Die akute Verschlechterung der Situation im Urlaub hatte aber andere Ursachen. Er hatte sofort etwas in Verdacht. Dazu musste er mich zunächst auf die Untersuchungsliege verfrachten und meine Gelenke auf Beweglichkeit und Funktionalität hin überprüfen. Bereits nach kurzer Zeit stand für ihn die Ursache der Schmerzen fest: Mein Quadriceps sei verkürzt. Diese Antwort wollte ich nicht hören. Nicht, dass diese Aussage falsch gewesen wäre oder mich überrascht hätte, allerdings konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass dies der Grund für die teilweise unerträglichen Knieschmerzen sein sollte. Meine Ungläubigkeit basierte hier auch auf einem „Running-Gag“, der im Verein kursierte, seit viele von uns bei Dr. Meichsner in Behandlung waren. Der erste Athlet, der von uns die Künste unseres Orthopäden in Anspruch nahm, war Sebastian gewesen, ein 400-Meter-Läufer, der große Probleme mit der Achillessehne hatte. Die Diagnose von Dr. Meichsner: verkürzte Wadenmuskulatur. Bei Max und Nick, die ebenfalls Rat bei ihm gesucht hatten, war die die Diagnose ebenfalls recht schnell klar: Die relevanten Beinmuskeln seien verkürzt. Als ich vor drei Jahren bei Dr. Meichsner wegen Schienbeinproblemen vorstellig wurde, war sein Ratschlag ebenfalls eindeutig: „Herr Brennauer, Ihre Muskulatur ist verkürzt.“ Aus diesem Grund wussten wir in unserer Gruppe eigentlich schon, bevor einer von uns in die Praxis nach Bad Tölz fuhr, die Diagnose: verkürzte Muskulatur. Wenige Tage vor meinem Termin bei ihm hatte ich meinen Athleten und Vereinskameraden bereits erzählt, dass ich mich mit dieser Diagnose nicht zufrieden geben könne, denn schließlich war ich doch, im Vergleich zu einem Nichtsportler, relativ flexibel, im Vergleich zu vielen unserer jugendlichen Athleten sogar sehr beweglich. Das sah Dr. Meichsner natürlich ganz anders. Neben dem Dehnen empfahl er mir, dass ich die Faszienrolle in meine tägliche Trainingsroutine aufnehmen sollte. Dieses Foltergerät stand bei mir seit zwei Jahren in der Ecke meines Büros ungenutzt herum. Hin und wieder hatte ich versucht, meine Oberschenkel-Vorder- und Außenseite zu rollen, doch die Schmerzen waren unerträglich, sodass ich gerne auf diese Tortur verzichtet hatte. Aus der Literatur und von den vielen Physiotherapeuten in meiner Trainingsgruppe wusste ich natürlich, dass die Faszien eine sehr wichtige Rolle im Bewegungsapparat einnehmen (vielleicht sogar eine wichtigere als die Muskelfasern selbst). Ich dachte, dass ich auf das Rollen verzichten könnte, schließlich war ich in meiner Leistungssportkarriere, die immerhin schon mehr als 25 Jahre andauerte, bislang nie bei einem Physiotherapeuten in Behandlung gewesen (hatte also auch noch nie eine Massage erhalten).
Ich war erst einmal ziemlich enttäuscht von der Diagnose. Dr. Meichsner bot mir des Weiteren die Stoßwellentherapie an. Ich verzichtete zunächst darauf, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass diese etwas helfen könnte. Etwas niedergeschlagen verließ ich die Praxis. Normalerweise hätte ich froh sein müssen, denn Dr. Meichsner hatte eine schlimmere Verletzung ausgeschlossen und mich mit einem konservativen und leicht umsetzbaren Therapieplan nach Hause geschickt. Dieser konservative Ansatz bestand also aus Dehnen, Krafttraining und der Faszienrolle. Während der Autofahrt über die B472 nach Hause überlegte ich, ob er nicht doch Recht haben könnte. Wenn ich so überlegte, war es schon Monate, ach was, Jahre her, dass ich Dehnen, aber auch Kraft- und Athletikeinheiten regelmäßig in meinem Trainingsalltag berücksichtigt hatte. Das Laufen an sich hatte immer Vorrang gehabt, für die anderen Dinge war eigentlich nie Zeit gewesen. Das ist eine Lüge, meldete sich mein Gewissen bei mir. Du hättest sehr wohl Zeit gehabt, hast die Zeit aber lieber auf der Couch vor dem Fernseher verbracht oder während der Trainingseinheiten nur deine Athleten zum Dehnen und Athletiktraining ermuntert. Du selbst hast dich meistens davor gedrückt. Diese Erkenntnis traf mich nun nicht wie ein Schlag, aber wenn ich ehrlich zu mir war, dann hatte ich meinen Körper ganz schön vernachlässigt.
Am Anfang meiner Karriere als Mittelstreckenläufer war ich noch fleißig gewesen und hatte mich regelmäßig gedehnt. Die damals erworbene Flexibilität schob ich immer wieder als Grund vor, wenn meine Athleten mich fragten, warum ich beim Dehntraining nicht mitmachte. Ich dachte wohl, dass meine athletische Grundausbildung meinen Körper ewig flexibel und meine Muskulatur stark genug halten würde. Mit 36 Jahren hatte sich diese Faulheit aller Wahrscheinlichkeit nach nun gerächt. Als ich fast wieder in Penzberg war, war der Entschluss in mir gereift: Ich musste mehr dehnen und Athletiktraining betreiben.