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Den Sprint zu früh angezogen – Bayerische Cross
ОглавлениеBayerische Crosslaufmeisterschaft in Kemmern am 19.02.2017
2. Platz in der M35 über 7,5 km in 25:23 Minuten / 11. Platz bei den Männer über 3,75 km in 11:56 Minuten / 4. Platz im Team
7:15 Uhr am Pendlerparkplatz an der Autobahn A95 Ausfahrt Wolfratshausen. Meine Frau und ich holen Klaus Mannweiler ab, einen alten Laufbekannten, mit dem wir gemeinsam zur bayerischen Crosslaufmeisterschaft nach Kemmern bei Bamberg aufbrechen. Ich hatte Klaus seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Auf der fast dreistündigen Fahrt durch das nahezu komplett in Nebel eingehüllte Bayern erzählte er stolz von seinem Marathonauftritt in Bad Füssing, bei dem er mit 2:37 Stunden im Gesamtklassement Dritter wurde. Klaus ist 52 Jahre alt und hat in seiner Karriere schon zahlreiche bayerische und deutsche Meistertitel in diversen Altersklassen bei Straßenläufen gewonnen. Der Marathon in der Thermenstadt lag gerade einmal zwei Wochen zurück, und schon fühlte er sich wieder fit für die nächste Herausforderung. Nie zuvor hatte er an einem Crosslauf teilgenommen, betrat also absolutes Neuland. Er hatte sich sogar extra Spikes von einem Lauffreund ausgeliehen. Auf der Fahrt entlang der A9 und der A73 bemerkte ich seine Unsicherheit, da er nicht wusste, wie er das Rennen gestalten sollte. Viele seiner Konkurrenten kannte er nicht, darüber hinaus konnte er nicht einschätzen, wie er auf dem Wiesenuntergrund zurecht kommen würde. Ich kann gleich vorwegnehmen, dass er außerordentlich gut zurechtkam und dem gesamten Teilnehmerfeld der Altersklasse M50 schnell davonzog um mit mehr als 150 Metern Vorsprung über die Distanz von 6,25 km zu gewinnen. Die sehr abwechslungsreiche und zuschauerfreundliche Wiesenrunde war 1,25 Kilometer lang, enthielt drei Senken und einen künstlich aufgeschütteten Anstieg. Dieser aus Erde und Sand aufgeschüttete Hügel überwand auf 20 Metern Länge ungefähr vier Höhenmeter, hatte an seiner steilsten Stelle bergauf mehr als 20 % Steigung und war auf der bergab führenden Seite sehr matschig. Um das Ganze obendrein anspruchsvoller und abwechslungsreicher zu gestalten, hatten die Veranstalter außerdem zwei Reihen Strohballen, die ungefähr 50 Zentimeter hoch waren, auf die Strecke gelegt. In meinem ersten Lauf um 12:20 Uhr, also nur wenige Minuten, nachdem Klaus souverän gewonnen hatte, war ich an der Reihe.
Im Vorfeld der Veranstaltung wurde ich auf der Homepage des Bayerischen Leichtathletikverbandes als der uneingeschränkte Favorit für den Lauf der Altersklasse M35 – M45 angekündigt. Kurz vor dem Lauf kam der Autor dieses Artikels auf mich zu und fragte mich nach meinem Befinden und wie meine Renntaktik aussähe. Ich antwortete ihm, dass ich mich gut fühlte und davon ausgehe, dass ich das Rennen für mich entscheiden müsste, da die anderen starken bayerischen Läufer nicht am Start waren. Ich teilte ihm außerdem mit, dass ich zweieinhalb Stunden später im Mittelstreckenrennen der Männer erneut an den Start gehen würde um mit dem Team eventuell eine Medaille zu gewinnen. Deshalb empfahl er mir, einfach im Feld mitzulaufen und die Entscheidung auf der letzten Runde zu suchen. Dieser Taktik konnte ich nur zustimmen, und versicherte ihm, das so umzusetzen, wobei sie auch beinahe funktioniert hätte. Gleich nach dem Startschuss um 12:20 Uhr positionierte ich mich im Spitzenfeld und ließ erst einmal die anderen im Wind laufen. Nach der ersten von sechs Runden hatte ich mich auf den 2. Platz nach vorne gelaufen und folgte dem gleichmäßigen Tempo des Führenden. Das Tempo fühlte sich nicht so locker wie erwartet an, wobei wir mit ungefähr 3:32 Minuten pro Kilometer liefen. Ich hatte kalte Hände und Füße. Leider hatte ich mich nur drei Kilometer warmgelaufen, weil ich meine Beine für den Mittelstreckenlauf der Männer schonen wollte. Da es in Kemmern immer noch neblig und mit 0 °C erstaunlich kühl war, war ich nicht richtig warm geworden. Vor dem Start hatte ich das nicht als Problem erachtet, da ich davon ausging, dass keine ernstzunehmende Konkurrenz am Start sein würde und ich sowieso locker gewinnen würde. Diese Naivität, man könnte auch sagen, meine Überheblichkeit, sollte sich wenige Meter vor dem Ziel rächen. Im Verlauf des Rennens wurde die Gruppe kleiner und zu Beginn der letzten Runde waren wir zu viert. Die vorletzte Senke rückte näher und einer meiner Konkurrenten beschleunigte. Ich konnte dem Tempo folgen, genauso wie Edwin Singer, die anderen Läufer waren bereits zurückgefallen. Als es dann bergab in die Senke ging, konnte ich nicht mehr warten. Ich drückte sprichwörtlich das Gaspedal bis zum Bodenblech durch und lief den Gegenanstieg so schnell ich konnte hinauf. Ruckzuck hatte ich zehn Meter Vorsprung, aber noch waren 600 Meter zu laufen. Ich merkte, dass meine Beine bereits jetzt fast am Limit waren. Sie wurden blauer und blauer, also schwerer und schwerer. Trotzdem hielt ich mein Tempo. Leider wurde auch Edwin Singer nicht langsamer, der Vorsprung bzw. der Rückstand änderte sich nicht. Ich hoffte inständig darauf, dass mein Kontrahent, der mir zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt war, nachlassen würde. 200 Meter vor dem Ziel spürte ich förmlich seinen heißen Atem in meinem Nacken. Vor der letzten Kurve hatte ich bereits den Glauben an den Sieg aufgegeben, da meine Beine völlig kraftlos und bleiern waren und er schon neben mir auftauchte. Obwohl ich alle Kräfte mobilisierte, wurden meine Schritte kürzer und kürzer, die Schrittfrequenz blieb identisch. Enttäuscht erreichte ich als Zweiter das Ziel, die Titelverteidigung war mir nicht gelungen. Sofort ratterte es in meinem Kopf. Hatte ich mich zu wenig aufgewärmt? War die Renntaktik falsch? Hätte ich früher die Führung übernehmen und für ein höheres Tempo sorgen sollen? Hätte ich mit dem Schlussspurt bis kurz vor dem Ziel warten sollen? War ich doch nicht so fit, wie ich glaubte? Wer hat mich da gerade geschlagen? Die letzte Frage war die interessanteste, denn wenn mein Konkurrent eindeutig stärker als ich wäre, dann wären sämtliche andere Fragen bedeutungslos. Dann wäre es völlig gleichgültig gewesen, wie ich das Rennen gestaltet hätte.
Die erste Info erhielt ich durch einen Blick auf sein Trikot: LG Allgäu / Kempten prangte von der Rückseite seines schwarzen Lauftrikots. Ein Schwabe hatte mich geschlagen. Diese Information führte zunächst zu keinem weiteren Erkenntnisgewinn. Kurze Zeit später erfuhr ich allerdings, dass Singer sich selbst als guten „Spurter“ bezeichnete, als jemanden, der am Ende eines Rennens über einen guten Schlussspurt verfügt. Das konnte ich von mir bzw. wollte ich von mir nicht behaupten, schließlich hatte ich schon mehr Rennen im Schlussspurt verloren als gewonnen. Somit konnte ich schon einmal eine der oben gestellten Fragen beantworten. Ich hätte mich nicht auf einen kurzen Endspurt verlassen dürfen. Als Nächstes erfuhr ich, dass mein Bezwinger einer der besten bayerischen Bergläufer ist, also jemand, der sich mit anspruchsvollen Strecken auskennt und über außerordentlich gute Kraftausdauerfähigkeiten verfügt, gute Voraussetzungen für einen Crosslauf. Zuhause angekommen recherchierte ich dann im Internet und fand zumindest heraus, dass Singer bereits mehrere Male beim Hochgratlauf auf dem Podest gelandet war. Außerdem hatte er bei den schwäbischen Crosslaufmeisterschaften Anfang Februar über 7.700 m nur etwas mehr als eine Minute Rückstand auf den ehemaligen deutschen Crosslaufmeister Tobias Gröbl. Ich hatte demnach gegen einen mehr als ebenbürtigen Gegner verloren, damit konnte ich leben. Da ich kurz nach dem Zieleinlauf in Kemmern nicht über diese Informationen verfügte, war ich erst einmal nicht so gut anzusprechen. Ich versuchte, mich sofort auf das nächste Rennen in zwei Stunden zu fokussieren, den Mittelstreckenwettbewerb der Männer. Zunächst war allerdings unser jüngster Athlet an der Reihe. Luk zeigte in der Altersklasse U16 ein äußerst mutiges Rennen und versuchte von der Spitze seinen hartnäckigsten Konkurrenten los zu werden. Leider konnte er diesen trotz mehrfacher Tempoverschärfungen nicht abschütteln und musste ihn 100 Meter vor dem Ziel vorbeiziehen lassen. Ihn ereilte dasselbe Schicksal wie mich. Allerdings konnte er sich keinen Vorwurf machen. Ganz im Gegensatz zu mir, da er bereits nach einem der Viertel der insgesamt 2.500 Meter langen Wettkampfdistanz die Initiative übernommen und das Teilnehmerfeld quasi in seine Einzelteile zerlegt hatte.
50 Minuten vor dem Mittelstreckenrennen liefen sich meine Vereinskameraden Ju, Lucas und Paul warm. Ich wollte noch warten, schließlich war ich erst vor 45 Minuten kurz ausgelaufen, außerdem war in zehn Minuten meine Siegerehrung für den ersten Lauf. Siegerehrungen gehören zu einem Wettkampf dazu, genauso wie das Warmlaufen oder der Wettkampf selbst. Vielleicht hat man nicht immer Lust darauf. Vor allem wenn man verloren hat oder es keine tollen Preise zu gewinnen gibt, aber die Siegerehrung ist ein Teil des Wettkampfs. Hier kann man den Siegern bzw. den anderen Läufern gratulieren, sich eventuell gratulieren lassen. Und, was eigentlich das Wichtigste ist, dem Veranstalter den Respekt zukommen lassen, den die meisten Organisatoren verdient haben, die sich ja auch im Vorfeld eine Menge Gedanken über die Siegerehrung gemacht haben. Es gibt nämlich für einen Veranstalter kaum etwas Demütigenderes, als wenn die Athleten nicht zur Siegerehrung kommen. Denn schließlich ist die Organisation einer gelungenen Siegerehrung eine zeitaufwändige Sache. Da es bei dieser bayerischen Meisterschaft sogar einen extra Zeitplan für die Siegerehrungen gab, wusste ich genau, wann ich dran sein würde. Die Veranstalter, die diese Meisterschaften perfekt organisiert hatten, hielten sich exakt an den Zeitplan. Meine Siegerehrung war bereits um 14:05 Uhr beendet, sodass ich 35 Minuten bis zum Start des nächsten Laufs hatte. Diese Zeit reichte mir, um mich erneut zehn Minuten warmzulaufen, meine Spikes zu holen, mich umzuziehen und ein paar Steigerungsläufe zu machen. Meine Beine fühlten sich dabei alles andere als frisch an. Ich kam kaum von der Stelle und konnte mir nicht vorstellen, wie ich jetzt gegen die deutlich stärkere Konkurrenz mithalten sollte. Ich hatte sogar ein wenig Angst.
Bereits beim Einlaufen und umso mehr in den letzten Minuten vor dem Start machte ich mir Gedanken darüber, welche Mannschaften wir im Kampf um die erhoffte Medaille schlagen könnten und welche nicht. Die LG Telis Finanz Regensburg und die LG Zusam waren ganz klar die Favoriten. Diese beiden Teams waren nicht zu schlagen, vor allem da sie in Bestbesetzung waren, zumindest die LG Zusam. Die LG Telis Finanz Regensburg hatte einige ihrer Spitzenläufer nicht mit dabei, so z. B. Olympiastarter Florian Orth, der an diesem Wochenende bei den deutschen Hallenmeisterschaften in Leipzig startete. Trotzdem waren Jonas Koller, Tim Ramdane Cherif und Moritz Beinlich zu gut für uns. Als Hauptgegner um die Bronzemedaille hatte ich das LAC Quelle Fürth ausgemacht, eventuell konnte auch die LG Region Landshut in den Kampf um die Podestplätze miteingreifen. Allerdings fehlte ihr bester Mann, Valentin Unterholzner, ein ausgemachter Hindernisspezialist, der in Normalform eindeutig stärker als meine Vereinskameraden und ich wäre. Aus diesem Grund motivierte ich meine Jungs kurz vor dem Rennen, dass sie jeden Läufer des LAC Quelle Fürth und der LG Region Landshut überholen sollten, koste es, was es wolle. „Die Läufer der LG Telis Finanz Regensburg und der LG Zusam müsst ihr nicht unbedingt überholen, gegen die haben wir keine Chance“, ergänzte ich schmunzelnd. Trotzdem erinnerte ich sie daran, dass jeder Platz zähle. Die besten drei Läufer eines Vereins bilden dabei ein Team. Wir waren zu viert, hatten somit teamintern einen kleinen Kampf auszutragen, wobei wir eigentlich bereits im Vorfeld wussten, dass Paul aufgrund seines fast vierwöchigen verletzungsbedingten Trainingsausfalls aller Wahrscheinlichkeit nach aus diesem heraus fallen würde. Allerdings war es für uns gut zu wissen, falls Lucas, Ju oder ich umknicken oder einen Einbruch erleben würden, dass unser Team durch Paul abgesichert wäre. Wir stellten uns an die Startlinie, noch waren es zwei Minuten. Moderator Arthur Schmidt, ein Urgestein der deutschen Laufszene, der seit Jahrzehnten viele deutsche und bayerische Meisterschaften moderiert hatte, ließ es sich nicht nehmen, die Favoriten vorzustellen. Da sich Schmidt extrem gut in der deutschen Läufergemeinde auskennt, dauerte die Vorstellung der Favoriten deutlich länger als die zwei Minuten, die es bis zum Start gewesen wären. Irgendwann, nach ungefähr zehn Läufern, hatte er dann doch Gnade mit uns und beendete seine Vorstellung mit den Worten, dass er den Rest der 43 Läufer während des Laufens vorstellen wollte. 30 Sekunden bis zum Start, die Spannung stieg. Die Startlinie und die Startgerade waren sehr großzügig dimensioniert, sodass es kein großes Gerangel beim Start geben würde wie so bei manch anderer Meisterschaft. Die letzten zehn Sekunden, es war mucksmäuschenstill. Selbst die Zuschauer sprachen nicht mehr miteinander. Die Musik war aus. Die Anspannung war förmlich greifbar. „Auf die Plätze“ – Schuss.
43 der besten bayerischen Mittel- und Langstreckenläufer liefen wie die Wahnsinnigen los, alle versuchten in der Spitzengruppe einen Platz zu finden. Ich hielt mich zurück und reihte mich erst einmal so auf Platz 25 ein. Denn erfahrungsgemäß wusste ich, dass das Tempo auf den ersten 300 – 400 Metern immer unglaublich hoch war. Erst danach würde sich das Feld etwas einbremsen, dann könnte ich die so entstandene kleine Lücke schließen. Bereits am Ende der ersten von drei Runden waren die Spitzenläufer dem restlichen Feld einige Meter enteilt. Dahinter war eine 10-köpfige Gruppe, in der sich unter anderem Lucas aufhielt. Aufgrund der vielen gemeinsamen Trainingseinheiten der vergangenen Wochen wusste ich, dass wir beide ungefähr in derselben Verfassung waren. Im Moment lief er 30 Meter vor mir, startete also sehr mutig in seine ersten bayerischen Crosslaufmeisterschaften bei den Männern, nachdem er vergangenes Jahr noch in der Jugendklasse startberechtigt war. Ju lief neben mir, Paul war bereits deutlich hinter uns zurückgefallen. In der ersten Runde war ich mit dem Tempo, ich muss es zugeben, leicht überfordert. Meine Beine waren immer müde vom ersten Lauf. Aber urplötzlich, es muss zu Beginn der zweiten Runde gewesen sein, fand ich das Tempo gar nicht mehr so hoch. Waren die anderen einfach langsamer geworden oder war ich jetzt erst so richtig im Wettkampf angekommen? Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Es war höllisch anstrengend, mein Herz schlug mit nahezu höchstmöglicher Frequenz und ich spürte langsam aber sicher das Laktat in meinem Körper. Irgendwie fühlte es sich jetzt besser an als ein, zwei Minuten vorher. Langsam arbeitete ich mich näher an Lucas heran, wurde aber zeitgleich von Ju überholt, der sich von mir absetzen konnte. Der kleine Aufwärtstrend während der zweiten Runde ließ aber leider relativ schnell wieder nach. Die Selbstzweifel in mir meldeten sich. Ich war mir nicht sicher, ob ich das hohe Tempo durchhalten könnte.
Als ich wieder bei Start und Ziel vorbei kam, lauschte ich Moderator Arthur Schmidt, der Dario Tippmann vom LAC Quelle Fürth entdeckt hatte, der anscheinend genau hinter mir lief. Schmidt stellte den Zuschauern den 21-jährigen 800-Meter-Spezialisten kurz vor, der immerhin eine Bestzeit von 1:51 Minuten hat. Sofort fiel mir natürlich die mögliche Mannschaftsmedaille ein. Wirklich alles schien auf einen Zweikampf um Bronze zwischen uns, dem TSV Penzberg und dem LAC Quelle Fürth, hinauszulaufen. Die Landshuter waren, soweit ich das beurteilen konnte, nicht so im vorderen Mittelfeld präsent wie wir und die Fürther. Könnten Lucas, Ju und ich vor Dario bleiben, wären wir eindeutig im Vorteil, denn die anderen beiden Fürther Läufer waren zu Beginn der letzten Runde direkt vor uns, also ebenfalls in Schlagdistanz. Meine Motivation nahm wieder zu, vor allem als ich sah, dass Ju sich langsam einem der beiden näherte und Lucas und ich gleichauf mit anderen Fürther Läufer waren. Am künstlich aufgeschütteten Erdhaufen zog dann auf einmal Dario Tippmann mit raumgreifendem Schritt an Lucas und mir vorbei. Sofort klemmte ich mich an seine Fersen und überholte dabei Lucas. 600 Meter vor dem Ziel überholte ich Dario, genauso wie den schnellsten Landshuter Läufer, Felix, der bis vergangenes Jahr für unseren Verein gelaufen war. Das motivierte mich zusätzlich und ich versuchte, das Tempo weiterhin hoch zu halten. Wäre das Rennen jetzt zu Ende gewesen, hätten wir Mannschaftsbronze, denn Lucas befand sich zu diesem Zeitpunkt genau hinter mir.
300 Meter vor dem Ziel änderte sich die Situation nun zu unseren Ungunsten. Dario setzte zum Schlussspurt an. Ich versuchte sofort ihm zu folgen, obwohl ich mir keine großen Hoffnungen machte, mit dem 800-Meter-Spezialisten mithalten zu können. Zu meiner großen Verwunderung verlor ich allerdings nur wenige Meter. Jetzt waren es keine 100 Meter mehr bis ins Ziel. Sämtliche Läufer um mich herum hatte ich überholt, nur Dario und ein Läufer von der LG Telis Finanz Regensburg waren vor mir. Mein Kampfgeist war jetzt voll geweckt. Ich merkte, wie ich mich dem Regensburger näherte, wobei Dario zeitgleich die Lücke zu Ju besorgniserregend schnell schließen und diesen kurz vor der Ziellinie passieren konnte. Ich konnte meinerseits den Regensburger Läufer überholen, wurde aber zeitgleich von einem Konkurrenten aus Augsburg überspurtet. Während des Schlussspurts verlor Lucas zwar nur acht Sekunden auf mich, allerdings war dies gleichbedeutend mit sechs Plätzen. Im Ziel angekommen, warf sich Lucas sofort zu Boden, der bis zur Erschöpfung gekämpft hatte. Ju und ich blieben stehen, und beglückwünschten uns zu einem mehr als gelungenen Rennen. Paul erreichte 40 Sekunden nach uns das Ziel und war ebenfalls mehr als zufrieden mit seinem Auftritt. Nur Lucas war etwas enttäuscht, weil er in der zweiten Runde Magenbeschwerden bekommen hatte. Das war der Grund dafür, warum er nicht mit Ju und mir mithalten konnte. Ich wusste sofort, dass es mit der Teammedaille extrem eng werden würde, denn sowohl Dario Tippmann als auch der zweite Fürther Läufer hatten das Ziel vor Ju, Lucas und mir erreicht. Welchen Platz der dritte Fürther Athlet belegt hatte, war bei dem engen Zieleinlauf nicht festzumachen. Sicher war nur, dass er anscheinend nach Lucas das Ziel erreicht hatte. Bei bayerischen Meisterschaften werden die Ergebnisse relativ schnell nach dem Zieleinlauf ausgehängt. Allzu lange mussten wir nicht warten.
Aber zunächst einmal fokussierten wir uns alle auf den nächsten Lauf. Nun würde der Stärkste von uns allen in den Wettbewerb eingreifen. Nick würde sich im Jugendlauf über 3.750 Meter gegen die stärksten bayerischen Läufer behaupten müssen. An der Startlinie wurde er explizit als einer der Favoriten vorgestellt, schließlich hatte er vergangenes Jahr den Titel des bayerischen Meisters errungen und war bei den deutschen Crosslaufmeisterschaften Zweiter geworden. Etwas verlegen trat er bei der Nennung seines Namens einen Schritt nach vorne und winkte den knapp 500 Zuschauern an der Strecke zu. Vielleicht war diese Verlegenheit der Grund dafür, dass er den Start ein wenig verschlief und sofort ins Hintertreffen geriet. Mit einem kleinen Zwischenspurt und etwas Körpereinsatz gelang es ihm, sich relativ schnell in die Spitzengruppe nach vorne zu schieben, in der er sich gleich auf den zweitem Platz hinter Gabriel Allgayer, einem Triathleten im Dienste der LG Stadtwerke München, positionierte. In der zweiten von drei Runden setzte er sich sogar an die Spitze, wobei er, zumindest was wir von außen beobachten konnten, nicht so entspannt wie sonst aussah. Nach dem Rennen erfuhren wir von Nick, dass er seltsamerweise bereits kurz nach dem Start Magenprobleme bekommen hatte und diese Beschwerden während des Rennens nicht verflogen. Dies war auch dann der Hauptgrund, warum er Allgayer, der zu Beginn der dritten Runde deutlich beschleunigte, nicht mehr folgen konnte und schließlich als Zweiter das Ziel erreichte. Trotz Magenbeschwerden war Nick zehn Sekunden schneller als Ju und 13 Sekunden schneller als ich. Wir gratulierten ihm natürlich trotzdem zu seinem silbernen Erfolg, wobei er die Niederlage gar nicht als solche wahrnahm. Schließlich hatte Allgayer eine deutlich schnellere 5.000-Meter-Bestzeit (14:56 Minuten) als er selbst, der zu diesem Zeitpunkt nur 15:40 Minuten auf der Haben-Seite hatte.
Als ich zu Nick gehen wollte, um ihm zu gratulieren, fiel mein Blick auf die Ergebnistafel. Die Resultate des Männerlaufes hingen bereits aus. Innerhalb weniger Millisekunden hatte ich die Teamwertung erspäht und sah leider sofort die enttäuschende Wahrheit. Das LAC Quelle Fürth hatte uns mit 33 Punkten die Bronzemedaille weggeschnappt, wir hatten 37 Punkte. Der starke Schlussspurt von Dario Tippmann hatte uns die Bronzemedaille gekostet. Wäre der junge Fürther hinter Ju und mir ins Ziel gekommen, hätten wir uns über die erste Medaille für unseren Verein überhaupt bei einer bayerischen Crosslaufmeisterschaft in der Männerklasse freuen können. Natürlich waren wir kurz enttäuscht, unser Auftreten stimmte uns allerdings optimistisch für die weiteren Aufgaben in dieser Saison. Neben der Ergebnistafel traf ich auf Harald Schmaus, den Erfolgstrainer der Fürther Mittel- und Langstreckenläufer, dem ich sofort mitteilte, dass seine Jungs uns gerade eben die Medaille vor der Nase weggeschnappt hatten. In seiner gewohnt amüsanten und selbstbewussten Art und Weise zeigte er sich zunächst unwissend, da er das Mannschaftsergebnis bislang gar nicht gelesen hatte. Dario, der mit seinen 1,95 m sogar mich und Lucas – wir beide sind ebenfalls über 1,90 m groß – deutlich überragte, stand neben uns. Ich erklärte Harald, dass sein Schützling mit seinem starken Schlussspurt die Teammedaille für seinen Verein gesichert hatte. Darauf ging er nicht groß ein, verwies aber sofort darauf, dass er bis vor ein paar Jahren deutlich größer als seine Athleten war. Seit einigen Jahren trafen wir uns regelmäßig bei verschiedenen Meisterschaften, wobei die Fürther Läufer in diversen Staffel- und Teambewerben fast immer vor uns das Ziel erreicht hatten. Nur zweimal war eine 4 x 400-Meter-Staffel von uns vor den Fürther Jungs im Ziel. In den vielen anderen Rennen, wie zuletzt bei den bayerischen 4 x 400-Meter-Staffel-Hallenmeisterschaften Ende Januar in Fürth zogen wir Penzberger immer den Kürzeren. Bei Crosslaufmeisterschaften waren wir noch nie vor den Fürthern, das hatte sich auch heute leider nicht geändert. Während der letzte Lauf des Tages im Gange war, die Langstrecke der Männer, gönnte ich mir mit Conny im Vereinsheim des SC Kemmern Kaffee und Kuchen. Ich beschränkte mich auf drei Stück Kuchen, zwei davon waren Käsekuchen. Conny begnügte sich mit einer Tasse Kaffee. Gemeinsam mit Klaus und Paul machten wir uns im Anschluss auf die Heimreise.
Während der dreistündigen Fahrt kam Klaus auf seinen Vereinskollegen Günter Marhold zu sprechen, der einer der besten deutschen Ultraläufer ist. Er war bereits mehrere Male mit ihm gelaufen und erzählte uns von seinen Dauerläufen mit ihm, die schon mal 4 – 5 Stunden dauerten. Ich hatte zwar gewusst, dass Klaus nicht nur ein routinierter Marathonläufer ist, sondern auch schon an dem ein oder anderen Ultralauf (maximal 50 Kilometer) teilgenommen hatte. Doch dass er im Training so lange Läufe machte, überraschte mich schon. Dabei kam er auf das Tempo der gemeinsamen Dauerläufe zu sprechen. „So langsam kann ich gar nicht laufen“, stellte Klaus fest. „Günters Laufschritt ist so flach. Seine Flugphase ist so minimal ausgeprägt. Dafür scheint sein Schritt aber sehr ökonomisch zu sein.“ Darüber hatte ich bislang gar nicht nachgedacht. Vielleicht waren einige Läufer nicht für das ganz lange und langsame Laufen geschaffen, genauso wie einige Läufer nicht für das schnelle Laufen geboren waren. Ich erinnerte mich an meinen Lauf mit meinem Bruder. Damals fühlte sich mein Laufschritt aufgrund des langsamen Tempos ziemlich unrund an. Es war allerdings nicht so gewesen, dass es sich völlig „falsch“ angefühlt hätte. Klaus fügte hinzu, dass sein Laufschritt völlig ungeeignet für die ganz langen Ultradistanzen sei und deshalb wohl nicht die Ergebnisse von Günter erreichen könnte, obwohl er über die Marathondistanz deutlich schneller als sein Wolfratshauser Vereinskamerad ist. Wir diskutierten über diese Frage, bis ich ihn wieder am Pendlerparkplatz in Wolfratshausen aus dem Auto stiegen ließ. Wir verabschiedeten uns, wobei Klaus bemerkte, dass wir uns in diesem Jahr öfter sehen würden. Er wollte 2017 an den Läufen der Oberland Challenge teilnehmen, also genau an den Läufen, die auch ich zu meinen Saisonhöhepunkten auserkoren hatte.
Bayerische Crosslaufmeisterschaft in Kemmern am 19.02.2017
Paul, Ju, Lucas und ich nach dem Mittelstreckenrennen der Männer