Читать книгу Punished - Markus Gotzi - Страница 10
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ОглавлениеNachdem er sein kleines privates Machwerk fünf Mal genossen hatte, fühlte er sich träge und matt. So wie früher, wenn Oma ihn mit zu viel Schokolade und Erdnussflips gefüttert hatte. Seine Oma. Milton musste lächeln bei dem Gedanken an sie. Er lächelte, weil er sie gehabt hatte und er lächelte, weil sie gegangen war. Milton nahm den Bilderrahmen auf dem Sideboard in die Hand und betrachtete das Foto. Es zeigte seine Großmutter in ihren letzten Jahren, eine Frau mit gewaltigen Ausmaßen. Sie trug ein Kleid aus leichter Baumwolle, das ihren voluminösen Körper bedeckte wie ein Gewölbe aus Stoff. Aus den kurzen Ärmeln ragten ihre nackten Arme heraus, wulstig und wabbelig wie gekochtes Fleisch. Sie hielt ihre Arme umklammert, mühevoll um den robbenartigen Leib gepresst. Das Foto war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, die die Originalfarbe ihrer fahlen Haut gnädigerweise in einem schmutzigen, neutralen Ton darstellte – in einem ähnlichen Weiß wie ihre Haare, die sie sorgfältig frisiert wie einen Helm über ihrem runden Gesicht trug. Die Wangen fielen wie Teig unter der Brille mit den dicken Gläsern, hinter denen ihre Augen, wie unter einer Lupe vergrößert, den Betrachter fixierten.
Milton entdeckte nichts in diesen Augen. Weder Milde noch Zorn, weder Liebe noch Verachtung. Andere hatten sich unbehaglich unter dem abschätzenden, harten Blick der grauen Augen gefühlt, die trübe glänzten wie ein Metallspiegel von der Art, wie sie in Gefängniszellen hängen, damit kein Gefangener ihn zerbrechen und sich mit den Splittern die Pulsadern aufschlitzen kann.
Oma war keine Frau, die ihre Umwelt beeindrucken wollte, es aber mit ihrem Verhalten jeden Tag aufs Neue tat. Es war ihr egal, was die Nachbarn von ihr dachten. Wichtig war, welche Meinung sie hatte. Und nur sie. Ihre Persönlichkeit bestand aus Schubladen. Einmal dort einsortiert, bekam niemand eine zweite Chance, und die Kategorisierung fand innerhalb weniger Sekunden statt. Ein Mann mit einem Zahnstocher im Mundwinkel? Nichtsnutz! Eine Frau trägt ihre Sonnenbrille in den Haaren? Arrogantes Flittchen, hält sich für was besseres, kniet sich aber für jeden Kerl hin! Raucher? Willensschwache Subjekte!
Omas Schubladen waren wie Todeszellen. Niemand kam jemals wieder dort heraus. Erst recht nicht, nachdem Opa Normans Leben mit einem Doppel-Schlaganfall ein Ende fand. Mit ihrer damals 12-jährigen Tochter alleine in der Welt, witterte sie überall Bedrohung. Sie schottete sich ab, zog einen Zaun um sich und ihre Michelle, so wie sie das später mit ihrem Enkel wiederholen sollte.
Wen wollte es verwundern, dass das Mädchen immer häufiger aus dem häuslichen Gefängnis ausbrach? Grund dafür war nicht nur die durch die Pubertät genährte Provokation der Jugend, sondern Michelles Charakter. Sie war eine Rebellin, mit eigenem Kopf und eigenen Vorstellungen von ihrem Leben. Schnaps und Bier, Joints, ab und zu eine Nase Koks, wenn sie von ihren meistens deutlich älteren Bekannten dazu eingeladen wurde – Michelle ließ nicht viel aus.
Wohl auch, um die ständigen Streitereien mit ihrer Mutter zu benebeln. Sie brüllten sich so häufig laut und lange an, dass sich die Nachbarn bald daran gewöhnten, wie an das Gebell nervöser, allein gelassener Hunde.
Mit 17 Jahren wurde Michelle schwanger. Ihrer Mutter teilte sie mit, sie würde den Vater nicht kennen, was vielleicht auch stimmte. Oma hörte, was ihre Tochter sagte und schaute sie dabei mit ihren Knast-Spiegel-Augen an. Sie öffnete den Mund leicht, wie um etwas zu erwidern. Doch dann schloss sie ihn, und was immer sie ihrer Tochter sagen wollte, blieb ihr Geheimnis. Stattdessen steckte sie Michelle in eine Schublade, drehte den Schlüssel um und brach ihn ab: Schlampe, undankbares Kind, macht mir Schande. Das stand auf dem Etikett darauf. Die Frau, die in sieben Monaten Oma werden sollte, drehte sich um, schaltete den Fernseher an und wuchtete sich wortlos in ihren Sessel.
Michelle ertrug das Schweigen, so wie ihr Vater es ausgehalten hatte, während ihr Bauch immer dicker wurde, aber sie änderte ihr Leben. Sie ging zurück zur Schule und machte ein Viertel Jahr später ihren Abschluss. Sie präsentierte ihrer Mutter das Zeugnis und war bereit für eine Versöhnung. Michelle hätte es besser wissen müssen. Die Schublade blieb zu. Wenige Wochen später, nicht lange vor der Geburt ihres Sohnes, packte sie ihre Sachen und verließ das Haus, das ihr Vater Norman Taylor gebaut hatte. Michelle zog in ein winziges Zimmer und zahlte regelmäßig ihre Miete. Das Geld dafür stammte von dem Mann, der durchaus der Vater ihres Kindes sein konnte.
Der Mann, ein Familienvater in den 40-ern, hatte sie nach einem Abend in der Bongo-Bar mit ungezählten Bloody Marys und Whiskey-Colas auf ein billiges Hotelzimmer mitgenommen. Er war nicht Michelles erster One-Night-Stand mit vom Alkohol benebelten Kopf. Anschließend hatte der Schwachkopf ihr seine Visitenkarte gegeben mit der Aufforderung, ihn anzurufen, wenn sie noch mal was richtig Geiles erleben wollte.
Was Geiles? Gestörte Selbstwahrnehmung, hatte Michelle gedacht und an seine schwitzigen Finger gedacht, mit denen er ihren Körper erkundete. Selbst die Visitenkarte aus seiner Hand war feucht und pappig gewesen wie ein fettiges Butterbrotpapier. Er hatte sogar seine Socken angelassen. Wäre sie nicht so dermaßen breit gewesen, hätte sie seine nervöse Fummelei beendet und wäre geflüchtet.
Michelle rief ihn an, kurz nachdem der dritte Schwangerschaftstest keinen Zweifel ließ: Sie war gesegneten Leibes. Als sie ihn um ein Treffen bat, rechnete er allen ernstes mit einer weiteren schnellen Nummer. Er hatte sogar wieder ein Zimmer gebucht, diesmal in einem etwas besseren Hotel. Als Michelle dort an der Tür zum Zimmer 217 klopfte, öffnete er ihr mit seinem Ständer in der Hand. Offensichtlich hatte er fleißig an sich herumgespielt. Michelle schaute auf das erigierte Glied und konnte ein Grinsen nicht verhindern. Au Mann, dachte sie. Die ganze Mühe umsonst. Sie verlor keine Zeit und berichtete ihm von der Schwangerschaft, sobald die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war.
Binnen Sekunden schrumpfte sein Schwanz zusammen. Michelle dachte an einen Luftballon ohne Knoten, der ziellos umherflog und schlaff zu Boden trudelte.
Das Gesicht des Mannes wurde heiß, und er setzte sich kraftlos auf die Bettkante. Er vergaß, seinen Bauch einzuziehen, so dass die Plauze wie eine Schürze aus Speck über sein Gemächt fiel. Michelle war froh, dass sie es nicht mehr sehen musste.
Zunächst warf er ihr vor, ein anderer sei der Vater – was durchaus möglich sein konnte. Als Michelle entgegnete, darüber würde sie gerne mit seiner Frau diskutieren, einigten sie sich schnell, und auf Michelles Konto ging Monat für Monat eine Überweisung mit unbekanntem Absender ein.
Wenige Tage, nachdem ihr Kind im Krankenhaus St. Joseph zur Welt kam, rief Michelle ihn erneut an und erfreute ihn mit der Nachricht, dass seine Kinder ein neues Geschwisterchen hätten. Sie würden sich doch bestimmt freuen, den kleinen Milton kennenzulernen. Mit einer Schlusszahlung von 5.000 Dollar könnte der Mann dafür sorgen, dass ihr Milton ein Einzelkind blieb.
Miltons Vater, wenn er es denn war, dachte kurz darüber nach, ihr einfach den Schädel einzuschlagen, aber wie realistisch wäre das bei einem Mann, der mit heißen Gesicht auf der Kante eines Hotelbettes sitzt, den eingeschrumpelten Schwanz von seinem Bauchfleisch verdeckt? Das war auch ihm klar, und er hoffte daher, dass die Erpressung nach der Bonuszahlung aufhörte.
Und womit er kaum gerechnet hatte, geschah. Michelle ließ ihn in Ruhe.
Mit dem Ersparten aus den monatlichen Überweisungen auf ihr Sparkonto und der Sonderzahlung besaß sie knapp 8.000 Dollar. Sie hob das Geld bis auf einen Dollar ab, packte Milton in den Kinderwagen, den sie kurz zuvor günstig und gebraucht erstanden hatte, und setzte sich mit dem Baby in einen Fernbus.
Von ihrer Mutter verabschiedete sie sich mit ein paar dürren Zeilen, nachdem ein Versöhnungsversuch gründlich misslang. Michelle hatte sie gemeinsam mit ihrem Kind besucht, wenige Tage, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Michelle hatte sogar Fotos gemacht. Von ihr, dem Baby und ihrer Mutter. Sie positionierte die Kamera auf dem Holztisch im Garten und stellte den Selbstauslöser ein. Nach sieben oder acht Schnappschüssen hatte ihre Mutter genug. Wortlos ging sie ins Haus zurück. Michelle ließ die Bilder entwickeln und schickte sie ihrer Mutter. Der beiliegende Brief war kurz gehalten: »Such mich nicht, ich komme nie wieder.« Oma betrachtete die Bilder mit ihren grauen Augen ohne Gefühlsregung. Sie schüttelte den Kopf. Warum sollte sie ihre Tochter suchen? Das Kapitel Michelle war für sie beendet. Der abgebrochene Schlüssel steckte im Schloss der Schublade.
Ein halbes Jahr später schickte Michelle eine Karte aus Toronto. In Kanada hatte sie einen Job als Kassiererin in einem Supermarkt gefunden. Um Milton kümmerte sich eine Tagesmutter. Oma las die Karte zwei mal, zerriss sie und warf sie weg.
Sechs Monate später fand Oma einen Brief mit kanadischem Stempel in ihrem Postkasten. Der Absender sagte ihr nichts. Es stellte sich heraus, dass Miltons Tagesmutter den Brief geschrieben hatte. »Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Tochter Michelle Taylor verstorben ist«, las Oma. Ein übermüdeter LKW-Fahrer hatte Miltons Mutter von der Straße gefegt, als sie dabei war, am Randstreifen einen Reifen ihres rostigen VW Käfers zu wechseln. Als er den 20-Tonner 150 Meter später schließlich zum Stehen brachte, hatte Michelles toter Leib die Straße rot gefärbt, er besaß keine Beine mehr, und der Fahrer sollte bis zu seinem Lebensende regelmäßig schreiend aus Alpträumen schrecken.
Wie grausam Michelle gestorben war, stand natürlich nicht in dem Brief der Tagesmutter, aber sie erzählte es Miltons Großmutter zwei Tage später, als Oma nach Toronto gefahren war, um ihren Enkel zurückzuholen. Jeden Tag acht fremde Kinder zu hüten war ein stressiger Job, und ein paar Bloody Mary halfen da Wunder, lösten aber auch die Zunge. Michelles Mutter registrierte die Einzelheiten mit reglosem Gesicht. Sie wirkt völlig unbeteiligt, dachte die betrunkene Tagesmutter in einem wachen Moment. Sie sieht aus wie ein Profispieler bei einem Pokerturnier.
Milton lebte inzwischen in einem Kinderheim. Seine Oma hatte das Familienstammbuch mitgenommen, um sich auszuweisen, und holte ihn ab. Sie fuhr mit dem Jungen zum Friedhof und besuchte das frische Grab ihrer Tochter. Michelle war bereits beerdigt worden, denn zunächst konnte kein Verwandter ausfindig gemacht werden.
»Möchten sie ihre Tochter mitnehmen, um sie in ihrer Heimat zu beerdigen?«, fragte der Mann vom Friedhofsamt, der sie auf dem Weg zum Grab begleitet hatte.
Oma schaute ihn mit demselben Gesichtsausdruck an, mit dem sie kurz zuvor die Tagesmutter bedacht hatte.
»Kein Problem. Wir graben den Sarg aus, fahren ihn zum Flughafen, und in Nullkommanix ist er bei ihnen. Wäre nicht das erste Mal.« Der Mann unterdrückte einen Rülpser. Mehr oder weniger.
Oma machte eine Schublade auf. Das Alkoholiker-Fach war bereits randvoll, erst vor wenigen Stunden war hier die Tagesmutter eingezogen.
»Nein, danke«, sagte Oma und wandte sich ab, um nicht länger den Geruch nach saurem Bier und Whiskey einzuatmen.
»OK, war nur eine Frage«, murmelte der Mann und ging.
Miltons Großmutter blickte auf das Holzkreuz mit den Daten ihrer Tochter. »19 Jahre, selbst noch ein Kind«, murmelte sie. Und dann: »Wer weiß, wozu es gut ist.« Damit war Omas Trauerarbeit beendet. Sie drehte sich um, schaute in den Kinderwagen und steckte Milton den Schnuller wieder in Mund, den er im Schlaf verloren hatte. Das Kind nuckelte daran und schlief weiter.
»So, und jetzt fahren wir nach Hause«, sagte Oma leise genug, um das Baby nicht aufzuwecken.