Читать книгу Punished - Markus Gotzi - Страница 9
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Оглавление»Wieso macht es so etwas«, fragte sich Milton. Er stand bereits seit einer halben Stunde unter der Dusche und schrubbte die Haut mit einem Schwamm. Sein Körper war krebsrot, sowohl vom heißen Wasser als auch von der Schrubberei. »Wieso ist es so garstig?« Dabei wusste er es genau. Lässt die Wirkung der hallozinogenen Droge nach, die er den beiden Frauen verabreichte, konnte sie bei manchen Probanden zu einem Flashback übersteigerter Aggression führen. So etwas geschah gar nicht mal so selten. Die Literatur sprach von einem unter hundert Fällen. Daran hätte ich denken müssen, dachte Milton. Wieso war ich auf die Nebenwirkung nicht vorbereitet? Er ärgerte sich über sich selbst.
Milton drehte das Wasser ab. Der Strahl war weder so kalt noch so hart wie bei seiner Folter unten im Keller, doch darüber dachte er im Moment nicht nach. Er fragte sich vielmehr, ob tatsächlich alle Kot- und Urinpartikel aus seinen Haaren verschwunden waren. Er drehte das Wasser wieder auf und massierte sich zum fünften mal einen Klecks Shampoo in die Haare.
Als er 20 Minuten später aus dem Badezimmer kam, eingehüllt in einen flauschigen Bademantel aus Frottee, bemerkte er, dass die Zahl eins auf seinem Anrufbeantworter blinkte. Lionel wollte wissen, ob er nicht Lust hätte, morgen mit ihm und Harold ein paar Partien Jenga zu spielen. Milton überlegte kurz. War er morgen in Stimmung dazu? Er zuckte die Achseln. Warum nicht? Er öffnete das Fach seines Schranks, in dem er Brett-, Karten- und sonstige Gesellschaftsspiele aufbewahrte, und griff nach der Verpackung des Jenga-Spiels. Er legte es auf den Tisch und daneben eine Schutzbrille. Er hatte die theoretische Möglichkeit berechnet, sich beim Herabfallen der Holzklötzchen eine Augenverletzung zuzuziehen, und das Ergebnis hatte ihn beunruhigt. Er überlegte, seinen Helm aus Hartplastik zu holen, verwarf den Gedanken daran jedoch. Nicht übertreiben, dachte er. Die Schutzbrille sollte genügen.
Zufrieden mit seinen Vorbereitungen für den morgigen Spieleabend, setzte er sich an seinen Laptop und verfasste einen weiteren Eintrag seines Logbuchs. »Werde die Ernährung umstellen. Probanden benehmen sich wie Tiere im Käfig. Umstellung auf Tiernahrung«, schloss er seine Notizen. »Ende Logbuch-Eintrag 430.« Er öffnete ein anderes Programm.
»Warum willst du nicht mit mir reden?« Die Frau mit den braunen Haaren stand an der Gittertür und umfasste die Stäbe mit beiden Händen. »Ich bin Yvonne. Sprich mit mir, sonst werde ich noch wahnsinnig! Ich weiß doch, dass du da bist!«
»Psst! Sei leise«, antwortete die andere Frau und zischte die Worte dabei durch ihre Lippen. »Er kann uns beobachten. Irgendwo hier hat er eine Kamera installiert.«
»Es ist doch stockdunkel! Wie will er da etwas erkennen?«
»Du hast ja keine Ahnung! Die Kamera kann auch im Dunklen alles aufzeichnen. Wie ein Nachtsichtgerät. Außerdem hört er, was wir sagen. Das reicht schon.«
»Reicht für was? Was macht dieser Verrückte?«
Die Frau mit den roten Haaren antwortet nicht mehr. Zu groß war die Angst vor dem offenbar wahnsinnigen Entführer.
Suzan hatte erlebt, was passiert, wenn seine Verbote missachtet werden. Zu reden, sich mit Leidensgenossen zu unterhalten, war ein absolutes No Go. Das hatte sie erfahren, als sie in ihren Tagen selbst versucht hatte, Kontakt zu einem anderen Opfer aufzunehmen. Suzan hatte überlebt, ihre Leidensgenossin nicht. Und das war reine Glückssache. Oder Pech.
Sie drehte sich auf der Matratze zur Wand und atmete den Geruch der Pferdehaare in ihrer feuchten Unterlage ein. Suzan dachte zurück an die ersten Stunden in diesem Höllenloch. Sie hatte sie in einem Dämmerzustand zugebracht. Wie nach einer Vollnarkose. Das waren die Nachwirkungen der Betäubung, die Milton ihr verpasst hatte, kombiniert mit dem Kater als Folge ihres Alkoholkonsums.
Der Gedanken-Nebel hatte sie umhüllt wie eine schützende Membran, doch mit der Zeit löste er sich auf. Was dann geschah, beanspruchte einen unauslöschlichen Platz in ihren Erinnerungen. Wie eine Tätowierung auf ihrer Seele. Je klarer sie denken konnte, desto größer wurde ihre Angst. Sie schlich in ihre Knochen und füllte nur kurze Zeit später die kleinste Zelle ihres Körpers aus. In absoluter Dunkelheit begann sie zu schreien. Sie rüttelte an den Gitterstäben ihrer Zellentür. Sie schrie um Hilfe, sie schrie nach ihrer Mutter, sie schrie, bis ihr Hals schmerzte.
Ihre Schreie verebbten in einem Schluchzen. Suzan weinte, bis die Tränen in ihren Augen versiegten, und danach weinte sie trocken weiter.
Zunächst dachte Suzan, sie sei alleine in dieser Dunkelheit. Dann hörte sie etwas. Ein Geräusch, das sie nicht einordnen konnte. Ratten, dachte sie als erstes und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, es innerhalb weniger Sekunden vor Ekel zum Glühen brachte. Als kleines Kind hatte Suzan mit ihren Freundinnen Verstecken gespielt und sich dabei in ein rundes, großes Abflussrohr gehockt. Auf leisen Pfoten hatte sich in ihrem Rücken eine Ratte herangeschlichen, war an ihr vorbei gelaufen und hatte dabei ihre Hand berührt, mit der sich Suzan auf dem Boden des Rohres abgestützt hatte. Noch Jahre später war sie nachts feucht vor Schweiß von ihrem eigenen Schrei aufgewacht. In ihren Träumen wuselte eine ganze Rattenarmee über ihren Körper. Von Ratten würde Suzan künftig nur noch in ihren guten Nächten träumen.
»Oh nein, bitte keine Ratte«, hatte Suzan in ihrer Zelle gewimmert und erneut zu weinen begonnen.
»Pssst! Hör auf!«
Oh Gott, eine menschliche Stimme.
»Wer bist du? Wo bist du?« Suzans eigene Stimme klang schrill wie eine Sirene.
»Sei leise. Er wird uns töten! Wir dürfen nicht miteinander sprechen.«
»Wer ist er? Was geschieht mit uns?«
»Hör auf! Bitte! Glaub mir! Er bringt uns um!« Die Frau war kaum zu verstehen, denn sie sprach sehr leise. Wie in einem Beichtstuhl, in dem die katholisch erzogene Suzan vor ihrer Erstkommunion ihre Sünden beichten musste. Ich habe gelogen. Ich war neidisch. Ich habe schlecht über meine Eltern gedacht...
Suzan versuchte weiterhin, die Frau in ein Gespräch zu verwickeln. Ganz genau so, wie Yvonne sie nun seit Tagen bedrängte. »Sag doch was, bitte. Rede mit mir!« Doch sie hatte keine Antwort mehr bekommen.
Ein paar Minuten später war der Wahnsinnige die Holzleiter in den Bunker hinabgestiegen. Sie hatte es nur gehört, ihn aber nicht gesehen. Alles blieb stockdunkel, denn er hatte sein Nachsichtgerät aufgesetzt. Sie spürte, dass er eine Zeit lang vor ihrer Zelle stand, fühlte seine Blicke in der Finsternis auf ihrem Körper. Dann hörte sie, wie sich seine Füße auf dem Boden bewegten, und kurze Zeit später drangen gesprochene Worte an ihr Ohr. Ganz leise. Sie musste sich konzentrieren, um den seltsamen Singsang zu verstehen. Es war ein Abzählreim, den Suzan früher selbst aufgesagt hatte. »A, be, buh und raus bist du. Raus bist du noch lange, lange nicht. Sag mir erst, wie alt du bist...« Eine Pause. Seine Stimme erhob sich. »He, du da! Rothaariges. Wie alt ist es?«
Suzan schrak zusammen. Hatte er sie angesprochen? »Was...?«, fragte sie.
»Wie alt ist es? Ist es taub, oder was?«
»19. Ich bin 19 Jahre alt.«
Milton begann zu zählen »Eins, zwei, drei...«
Auf wen würde sein Finger zeigen? Und was würde es bedeuten, »raus« zu sein? Suzans Gedanken rasten. »... 17, 18, 19.«
Sekunden später hörte sie, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Es war nicht ihre Tür, oder? Nein, als der Mann zu sprechen begann, ortete sie seine Stimme vor der Zelle nebenan. Zunächst redete er in ruhigem Tonfall, als würde er ein kleines Kind maßregeln, das Schokoladeneis auf die Tischdecke gekleckert hat, doch bald schon wurde er immer lauter. »Es weiß doch, dass es nicht reden darf! Das weiß es doch!« Immer wieder: »Das...weiß...es...doch!« Zwischen den Worten hörte Suzan ein klatschendes Geräusch. Es klang, als würde er einen nassen Lappen gegen die Wand der Zelle schlagen. Doch Suzan wusste, dass es so harmlos nicht sein konnte. Mit einem Stück Starkstromkabel prügelte Milton auf ihre Leidensgenossin ein.
»Das...weiß...es...doch!«, brüllte Milton und malträtierte die Frau mit dem Kabel, bis er völlig außer Atem geriet und endlich, endlich aufhörte. Schweiß tropfte von seiner Stirn in das Gesicht der Frau. Ihre Schreie waren längst verstummt. Der vierte ungeschützte Schlag auf ihren Kopf hatte ihr Licht nicht gedimmt, sondern endgültig ausgeknipst. Die meiste Zeit hatte Milton auf totes Fleisch eingedroschen.
Suzan hatte sich den Daumen in den Mund gesteckt und daran genuckelt. Dabei summte sie ein Kinderlied, das ihr ihre Mutter früher immer vorgesungen hatte. »Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserem Haus herum, widebum...«
Ohne das Summen zu kommentieren, hatte sich Milton über die schweißnasse Stirn gewischt, war die Leiter hochgestiegen und hatte die Luke verschlossen.
Der Mord an der jungen Frau war für Milton eine Vergangenheit ohne Nachhall. Er hatte dieselbe Bedeutung für ihn wie für andere Menschen ein optimal gegrilltes Steak: Lecker, aber schnell wieder vergessen. Milton verschwendete keinen Gedanken mehr daran.
Milton ärgerte sich vielmehr über die Gegenwart. Er saß vor seinem Laptop und betrachtete den Bildschirm. Ein grobkörniges, in Grüntönen gehaltenes Kamerasignal zeigte das Verlies in einer Totalen aus erhöhter Position. Milton hatte die lichtempfindliche Mini-Kamera an der gegenüberliegenden Wand so positioniert, dass er beide Zellen und die Frauen gleichermaßen darin erkennen konnte.
»Wieso können sie einfach nicht gehorchen«, fragte er sich, ehrlich erstaunt. Er beobachtete, wie sich beide Frauen in ihren Zellen bewegten, die Hände voran, tastend, damit sie sich in der Finsternis nicht die Köpfe anstießen. Jetzt hörte er nur die schlurfenden Schritte, doch zuvor hatten sie sich unterhalten. Verbotenerweise. Das Mikrofon der Kamera war empfindlich genug, dass er jedes Wort hatte verstehen können, jedes noch so leise Flüstern.
»Da braucht wohl jemand etwas Nachhilfe«, sagte er zu sich. Er stand auf und ging in den Keller. Zeit, mal wieder eine kleine Lektion zu lehren. Diesmal hatte er sich bereits entschieden. Diesmal würde er auf den Abzählreim verzichten.
Als er sich eine halbe Stunde später wieder vor den Bildschirm setzte, klebte ihm das verschwitzte Haar wie damals an der Stirn, und er sah tatsächlich ein wenig aus wie ein junger Leonard Nimoy als Mr. Spock. Sein T-Shirt war mit dem Cover eines Marvel-Comics bedruckt. Es zeigte die Fantastischen Vier im Kampf gegen ein riesiges, grünes Monster, dass sich aus einem Loch in der Straße wühlte – in seiner Hand hielt es Susan Storm umklammert, ein Mitglied des Superhelden-Quartetts. Nur war das Monster auf dem Shirt nach seinem Ausflug in den Bunker rot gesprenkelt, so wie auch die blauen Anzüge der aufgedruckten Helden und der Rest seines Hemdes.
Milton drückte auf einige Knöpfe an seinem Laptop und sah, wie das grünstichige Bild in 30-facher Geschwindigkeit rückwärts lief. Er stoppte an der Szene, in der er den Bunker betreten hatte, sah sich selbst, grün wie den Hulk, nicht so breit, aber viel bösartiger als der riesige Kerl. Er näherte sich dem Tisch an der Kopfseite des unterirdischen Raumes und wählte eines der Gegenstände aus, die vor ihm ausgebreitet auf der Tischplatte lagen. Es schimmerte hell und scharf. Genauso wie die Netzhaut der weit aufgerissenen Augen seiner Opfer. Milton erkannte das Nachsichtgerät, dass er vor den Augen trug. Er hörte das Gestammel und Gewimmer der Frauen, die bemerkten, dass sie Gesellschaft hatten. Weil er im Kellergeschoss im Stockwerk darüber die Lampe ausgeschaltet hatte, bevor er die Luke öffnete, drang weiterhin kein Licht in das Verlies. Wie damals, als er Suzans Leidensgenossin mit dem Starkstromkabel in einen blutigen Sack verwandelt hatte.
Milton lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, die Hände hinter seinem Kopf ineinander verschränkt, wie ein erfolgreicher Geschäftsmann, der sich über eine gelungene Transaktion freut. Ein Immobilienmakler vielleicht, der gerade per Telefon erfahren hat, dass er einen umfangreichen Deal abgeschlossen hat und eine fette Provision dafür einstreicht. Milton genoss ein zweites Mal, was ihm bereits vor einer halben Stunde Freude bereitete. Er drehte den Ton leiser, denn geflüstert hatte das Brünette nicht mehr.
Soziologie und Psychologie galten in Miltons Kosmos nicht als Wissenschaften, sondern als sinnloses Geschwätz ohne akademischen Inhalt. So würde es ihm auch niemals einfallen, sein eigenes Verhalten zu hinterfragen. Doch selbst die erfahrensten Gutachter würden sich an ihm die Zähne ausbeißen. Er wäre eine neue Kategorie, weit vom Psychopathen aus dem Lehrbuch entfernt. Zwei Jahrzehnte lang hatte es nichts vermisst. Doch nachdem er einmal angefangen hatte, bereitete es ihm nicht nur Freude, anderen Menschen grundlos Schmerzen und Leid zuzufügen. Er war in kurzer Zeit geradezu süchtig danach geworden.
Manche Psychologen schätzen, dass bis zu fünf Prozent der Bevölkerung rund um den Globus genetisch verursacht als Soziopath geboren werden. Diese Experten sehen in fast jedem Manager, in nahezu allen Erfolgsmenschen, einen Geist, der durch einen Mangel an Emotionen und Einsicht geprägt ist. Als einen Menschen, der lügt, manipuliert und andere beherrschen will. Der weder Reue noch Scham kennt, nicht in der Lage ist, aus Fehlern zu lernen und an sich selbst zuerst denkt.
All das genügte in Miltons Fall nicht annähernd für einen Erklärungsversuch. Es gab keinen Namen, für das was er war. In diesem Sinne war er eine neuartige Spezies. So etwas wie eine neue Krankheit, die von Zeit zu Zeit im Dschungel ausbricht. Das menschliche Pendant zu Ebola.
Natürlich war Milton klar, dass er anders war. Er hielt sich für einzigartig, nicht nur in seinem Intellekt, sondern auch in der Differenziertheit seiner Natur. Ein Nerd auf der einen Seite, der, wie Millionen anderer Männer in seinem Alter, Comics sammelt, Videospiele spielt und Star Trek schaut. Ein brillanter Analytiker, der zu einer Koryphäe in seinem wissenschaftlichen Spezialgebiet werden konnte. Ein Mensch mit Neigungen, die kein gesunder Geist erklären kann. Der deutsche Philosoph Arthur Schoppenhauer hat den Satz geprägt: Das Genie wohnt nur eine Etage höher als der Wahnsinn. In Miltons Fall teilten sich Genie und Wahnsinn ein Zimmer.
Natürlich wusste er, dass seine Besonderheit gesellschaftlich nicht akzeptiert war. Dass er sie geheim halten musste. Das störte ihn, denn er konnte seine Erlebnisse mit niemandem teilen, konnte nicht damit prahlen. So wie er seinen persönlichen Rekord bei einem Computerspiel per Facebook verbreitete.
Im Kino sorgt ein Charakter wie Milton für Gänsehaut und feuchte Hände, für einen gewünschten Schauer in der beruhigenden Gewissheit, dass dieses Monster nur der Phantasie entsprungen ist. Milton jedoch war real. So real wie sein kleines Doku-Filmchen, das er sich gerade anschaute. Und als es endete, ein weiteres Mal. Und dann noch einmal. Und noch einmal.
Suzan spielte darin nur eine Nebenrolle. Sie war froh und dankbar, dass er sich nicht mit ihr beschäftigte, und gleichzeitig schämte sie sich dafür. Die nächsten 20 Minuten kamen ihr wie 20 Stunden vor. Wie 20 Tage. Der Frau mit den brünetten Haaren, Yvonne, erschienen sie endlos.