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ОглавлениеMilton zog die Schublade seiner Kommode auf. Lionel und Harold hatten sich zu einer Runde »Master of Monster« angemeldet, ein Spiel, bei dem es darum geht, mit seinen Karten die des Gegners zu bezwingen. Eine Art Autoquartett für große Jungs. Zumindest, was den Preis angeht.
Er suchte die Dose aus poliertem Edelstahl, in der das aktuelle Ergänzungsdeck des Kartenspiels verkauft wurde. Irgendwie mussten die 79,95 Dollar ja gerechtfertigt sein.
Milton durchwühlte die Schublade, konnte die Kartenkiste jedoch nicht finden. Dafür umschlossen seine Finger ein kleines Holzkästchen. Behutsam zog er es heraus.
Die kleine Holzkiste war ungefähr so groß wie eine Zigarettenschachtel. Den Deckel verzierte eine aufwändige Einlagearbeit, die einen Drachen darstellte, helles Holz in dunklem Holz.
Milton klappte das Kästchen auf und sah hinein. Darin lag, in einem Bett aus dunkelblauem Samt, ein Hörgerät. Das Hörgerät seiner Oma.
Langsam, wie in Zeitlupe, nahm er es aus der Holzschachtel. Omas Hörgerät war kein Modell auf dem neuesten Stand, das sich im Ohr verbarg und unsichtbar getragen werden konnte. Omas Hörgerät aus den 80-er Jahren erinnerte an eine fleischige Auster aus hartem Kunststoff, die hinter Omas Ohr einen schmerzhaften Abdruck hinterließ, weshalb sie das Hörgerät selten benutzt hatte. Ein Bügel aus transparentem Kunststoff führte zum Lautsprecher, der so geformt war, dass er in eine Ohrmuschel passen sollte, ohne zu verrutschen. Doch das war leider Theorie. Milton schaltete das Gerät an und verzog das Gesicht, als es in seinem Ohr kreischte: Er drehte an einem kleinen Rad und regulierte die Lautstärke, bis das Pfeifen leiser wurde.
Die Geräusche seiner Umgebung stürmten in erhöhter Lautstärke auf ihn ein. Der Kühlschrank brummte in Miltons Ohr so laut wie ein Dieselgenerator. Die Heizung rauschte, als säße er am Strand und nicht am Schreibtisch in seinem Wohnzimmer.
Und dann hörte er sie. Oma! Ganz leise zunächst, aber mit ihrer unverkennbaren Stimme. »Milton?«, rief sie ihn. »Bist du das, mein Junge?« Omas Stimme wurde beständig lauter und verständlicher.
»Milton, bist du das, mein Junge?«
»Oma«, antwortete Milton. »Oma, ich bin hier. Hörst du mich?«
»Milton, mein lieber Junge. Wie geht es dir?«
»Oma! Du fehlst mir!« Tatsächlich wurde ihm das erst jetzt klar.
»Ich weiß, Milton. Du fehlst Oma auch. Wie kommst du klar ohne deine Oma?«
»Ich bin lieb, Oma!«
»Das ist mir klar. Du warst immer ein lieber Junge.«
Eine Pause. Und dann: »Du hast nicht vergessen, was Oma dir über die Frauen gesagt hat?«
Milton zögerte. Er dachte an die Zellen in Opas Bunker. »Nein...«
»Milton, enttäusche deine Oma nicht. Frauen sind böse. Frauen sind schlecht. Sie wollen dir nichts Gutes! Sie verlassen Dich. Sie lassen Dich alleine. Sie sind undankbare Geschöpfe. Und schmutzig.«
»Ich tue ihnen auch nichts Gutes«, sagte Milton und dachte erneut an die Dunkelheit unter dem Keller. Er nickte dabei, als würde er seiner Oma gegenüberstehen.
»Was tust du ihnen denn?« Sheldon bemerkte eine Schärfe in Omas Stimme.
Er machte den Mund auf, bleib jedoch stumm.
»Was tust du welchen Frauen an?«, wollte Oma wissen.
Milton war nicht in der Lage, ein Wort zu formen.
»Wie werden später darüber reden«, sagte seine Großmutter. Die letzten Silben verklangen leise, als würde ein Diskjockey bei den letzten Rhythmen eines Musikstücks die Lautstärke herunterdrehen.
Milton räusperte sich. Er setzte mehrmals an, bis ein Geräusch aus seiner Kehle drang.
»Oma?«
Keine Antwort.
»Oma, ich hör dich nicht mehr?«
Keine Silbe.
»Oma!« Miltons Stimme wurde dünn und schrill. »Ich habe nicht vergessen, was du mir über Frauen gesagt hast! Sie sind schlecht und wollen mir nichts Gutes! Oma!«
Stille.
»Oma!« Miltons Stimme überschlug sich.
Oma war weg. Milton hörte nur noch das Rauschen der Heizung und den brummenden Kühlschrank.
Er nahm das Hörgerät aus der Ohrmuschel und schaltete es aus. Danach legte er es mit zitternden Fingern auf das blaue Samt im Innern des Kästchens, klappte den Deckel zu, zog die Schublade auf und legte es hinein. Dabei stießen seine Finger an etwas Kaltes. Seine Hand griff zu und zog die Metallkiste mit den Monsterkarten heraus. Wo war die denn vorhin gewesen?
Milton öffnete die Kiste und holte die Karten heraus.
Kurze Zeit später klingelte seine Türklingel. Milton hob die Hand und schaute auf seine Armbanduhr. Seine Finger blieben ruhig dabei. »Typisch«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Unzuverlässig wie immer. Sieben Minuten zu spät.«