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Wegen des Schreibens und Lesens

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Mit wachsendem Wohlbefinden führte ich Beatrice immer tiefer in meine besondere unterirdische Welt hinein. Sie musste längst begriffen haben, dass wir uns nicht mehr unter dem Haus befanden, in dem sich das Antiquariat befand. Ich fand es erstaunlich, dass sie sich so bedingungslos auf alles einließ, was sich ihr von nun an darbot. War sie wirklich schon bereit für diese magische Reise, die ich ihr zuteilwerden lassen wollte?

Als wir in den Bereich kamen, wo man die nach oben führende Kellertreppe nicht mehr sehen konnte, band ich das lose Ende der Garnrolle an einen dafür vorgesehenen Haken, der sich auf Augenhöhe im Holz eines Regalträgers befand. „Und schon sind wir auf den Spuren der griechischen Mythologie“, kommentierte ich mein Tun. Dabei spulte ich, Schritt für Schritt, die Rolle ab. „Es ist für mich immer, als wäre ich im Labyrinth des Minotaurus, wenn ich mit dem Seil eine Spur lege.“

„Wenigstens sind es keine Brotkrumen.“ Beatrice war tatsächlich zu Sarkasmus fähig! „Die Tauben würden bestimmt wissen, was zu tun ist.“

Ich konnte mir meine Antwort nicht verkneifen. „Ja, sie wissen, was zu tun ist.“

„In diesem Keller gibt es Tauben?“

„Was denken Sie?“

„Ich denke, …“ Sie verstummte.

Vielleicht sollte ich damit fortfahren, für sie den Reiseleiter zu spielen.

„Wir haben übrigens den Bereich der Reiseberichte und –beschreibungen erreicht. Von Gulliver bis Skylax ist alles vertreten. Marco Polo, Felix Fabri und auch Huttich und Grynäus, alles da. Möchten Sie sich was mitnehmen?“

Sie zog wahllos einen Titel heraus. Sie hatte Hape Kerkeling erwischt. „Ich bin dann mal weg?“

„Wenn Sie möchten.“

Sie steckte das Taschenbuch wieder zurück. „Ziemlich aktuell.“

„Schön, dass ich Sie noch überraschen kann.“

Wieder ließ sie ihre Hände über die Buchrücken gleiten. Es erweckte fast den Eindruck, als könne sie mit ihren Fingern lesen.

„Sie bewahren hier unten auch ein Ebook-Lesegerät auf?“

Mein Lachen wirkte bitter und ich merkte, wie sich meine Mundwinkel angewidert nach unten verzogen. „Ganz bestimmt nicht.“

„Aber was ist dann das hier?“ Neben dem Titel ‚Offt begehrte Beschreibung der newen orientalischen Reise …‘ war ein metallenes Gerät eingeschoben. Es glänzte schwarz und hatte auf eine unbestimmte Art etwas Beruhigendes an sich. Ich erkannte es sofort. „Nein, das ist kein Ebook-Reader“, sagte ich, „schauen Sie sich doch mal das Cover an.“ Sie zog es heraus. Schwarz wie der Rest des Buches war es. Doch in roten Buchstaben stand dort schlicht die Botschaft: „Keine Panik.“ Darunter war ein Display.

Beatrice schob es zurück an seinen Platz.

Dann schritt sie etwas zurück.

Sie holte tief Luft.

„Okay“, sagte sie schließlich. „Was wird hier gespielt? Ich bin nicht vollkommen verblödet. Ich bewege mich seit Tagen von einer Unmöglichkeit zur nächsten. Auch wenn Sie mir mehr oder weniger all das als vollkommen normal verkaufen konnten, überschreiten wir hier seit einigen Minuten die Grenzen des Glaubwürdigen.“

„Die Grenzen des Glaubwürdigen? Dieser Ausdruck könnte von mir sein.“ Ich wandte mich ab und wollte den Weg fortsetzen, doch sie hielt mich fest.

„Keine Ausflüchte mehr. Ich gehe keinen Schritt weiter, wenn Sie mir nicht endlich sagen, wohin das alles führt.“

„Wohin sollte ich Sie schon führen? Zu den Büchern. Das Buchland ist groß.“

„Verdammt nochmal! Jetzt hören Sie endlich auf mit diesen Spielchen. Wo sind wir hier? Und wer sind Sie?“ Sie zögerte. „WAS sind Sie?“

Natürlich hätte ich jetzt antworten können, dass wir im Keller sind. Ich hätte auch antworten können, dass ich Plana heiße und ihr Chef bin. Doch da stand diese Frau vor mir, die aufrichtig wütend und zugleich verzweifelt war. Beides vollkommen zu Recht. Ihre blonden Haare reflektierten das Licht einer Glühbirne und verliehen ihr eine leuchtende Aura. Es war an der Zeit, beschloss ich.

„Ein sehr schlauer Mann hat mal gesagt, dass er sich das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt habe. Und auf den Spuren von diesem Mann, nämlich auf den Spuren von Jorge Luis Borges, bewegen wir uns hier. Dies hier wäre sein Paradies.

Auch den Namen Kurd Laßwitz könnte ich an dieser Stelle erwähnen. Denn hier unten finden wir fast alle möglichen Bücher, ganz so, wie er es sich in seiner Phantasie vorgestellt hat. Aber das führt womöglich zu weit.

Wir befinden uns hier in der ‚Universalbibliothek von Babel‘, könnte man sagen. Willkommen im Utopia der Literatur. Hier finden Sie alles, was das Buchland für die Menschheit bereithält. Durch diese Gänge führt der göttliche Pfad der Kultur.“

Beatrice nickte, schwieg aber. Also erzählte ich weiter.

„Das, was wir gemeinhin als Kultur bezeichnen, könnte man als den Geist der Menschheit bezeichnen. Jeder Einzelne trägt zu diesem großen Ganzen bei. Die einen, weil sie musizieren, die anderen, weil sie malen. Das Gestalten unserer Umwelt, sei es politisch, philosophisch oder religiös, wissenschaftlich oder technisch – das alles ist Teil unserer kollektiven Intelligenz. Der Mensch erhöht sich durch seinen Geist. Das ist es, was uns, soweit wir wissen, vom Tiere trennt.

Durch die Kultur erziehen und lehren wir uns gegenseitig. Wir schaffen uns eine gemeinsame Moral. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Der Beginn einer Kultur findet sich im Dialog. Kommunikation ist der Schlüssel. Und am Anfang stand das Wort. Das Samenkorn für all das, was wir hier unten sehen.“

Irgendwo vor uns summte es in der Dunkelheit. Auch ein dumpfes Poltern war zu hören. Da war ein Knistern und Wispern. Ich versuchte es zu ignorieren.

„Eine Bibliothek ist ein Aufbewahrungsort. Holz, Leder, Leim, Faden, etwas Druckerschwärze und sehr viel Papier. Doch vor allem findet man in ihr Geist. Es ist der Geist der Jahrhunderte. Und der Geist unzähliger Autoren und Schriftsteller, die in ihren Worten fortleben. Aber nicht nur sie. In ihnen leben die Helden und Monster, die Detektive und Mörder, die Romeos und die Julias. Erschaffen durch Kreativität und Willenskraft. Gebündelt und komprimiert auf wenige Zentimeter findet man hier unten ganze Welten.

Man braucht nur einzutauchen, mit dem Kopf voran. Reine Vorstellungskraft formt aus einfachen Schriftzeichen neue Realitäten. Das ist pure Magie. An Orten wie diesem hier wird Phantasie greifbar.

Sie erinnern sich an unser Gespräch? Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. Jedes Buch hier trägt seine eigene Wahrheit. Und jede Wahrheit beeinflusst eine andere. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität sind nirgendwo dünner als in der Nähe von Büchern. Manchmal verwischen diese Grenzen ganz.“

Bea schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie wollen mir doch jetzt nicht erzählen, dass wir in die Bücher hineingehen können?“

Ich lachte. „Verdammt, nein! Sehe ich aus wie Cornelia Funke?“

„Ich dachte mehr an Karl Konrad Koreander“, gab Beatrice zu. Ein zaghaftes Lächeln versuchte den Weg in ihr Gesicht zu finden. Mein Vortrag hatte sie sichtlich verunsichert.

„Nein. Ich hätte zwar gerne eine tragende Rolle in einer Geschichte von Michael Ende gespielt, doch ich bin nur der Protagonist einer viel unbedeutenderen Story.“

„Das müssen Sie mir schon genauer erklären.“

„Nein, das muss ich nicht“, stellte ich fest. „Wenn in einer Geschichte zu viel Information auf einem Haufen kommt, dann nennt man das ‚Infodump‘. Ich möchte von meinem Lektor heute keinen Tadel bekommen.“ Ich griff nach dem Faden. „Es wird Zeit, dass wir zurückgehen.“

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