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Reflexionen

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Als ich wach wurde, hatte ich das Gefühl, dass ich den ganzen Roman gerade gehört hatte. Das war unmöglich. ‚Der Name der Rose‘ ist ein sehr umfangreiches Buch, das viele Stunden Lesezeit verlangte. Außerdem hatte ich geschlafen. Tatsächlich dürfte ich von dem Vorgelesenen kaum was mitbekommen haben.

Andererseits verspürte ich noch immer den Geruch des Feuers in meiner Nase. Der Brand in der Bibliothek des Klosters … in meinem Traum schien ich dabei gewesen zu sein.

„Das Feuer ist ausgegangen“, sagte Beatrice. Schlaftrunken rieb sie sich die Augen. Wir richteten uns auf. Nur langsam glitt ich in die Wirklichkeit zurück. Wir waren noch immer auf dieser Lichtung zwischen den Bücherregalen. Die Hütte war hinter uns. Ein größerer Aschehaufen vor uns. Die Reste unseres ungewöhnlichen Lagerfeuers waren noch nicht vollkommen erkaltet.

Der Buchbinder saß auf der Treppe zur Veranda und winkte uns beiden mit einer lässigen Handbewegung zu. „Gut geschlafen?“

„Gnnnf“, antwortete Beatrice, während sie ihren Körper reckte und streckte. Ich hätte es nicht besser sagen können. Tatsächlich fühlte ich mich erfrischt und seit langem war ich erstmals wieder vollkommen schmerzfrei.

„Das Vorlesen war gut“, stellte ich fest.

„Es war mir ein Vergnügen“, sagte der Buchbinder freundlich, „ich lese gerne vor. Bücher entfalten ihre Magie auf eine ganz besondere Weise, wenn sie vorgetragen werden.“

„Wie lange haben wir geschlafen?“ Beatrice legte ihre Benommenheit ab und tauschte sie gegen Wachsamkeit. Irgendetwas schien sie misstrauisch gemacht zu haben.

„Keine Ahnung. Vielleicht ein paar Stunden, oder so. Für mich ist die Zeit hier unten nicht wichtig. Keine Sonne, keine Sterne, kein Hell oder Dunkel. Selbst wenn ich sehen könnte, stünde ich hier außerhalb der Zeit.“

Die Unruhe, die Beatrice nun erfasste, ließ sich nicht verbergen. „Wo ist Ingo?“

Stimmt. Sein Fehlen war mir bislang gar nicht aufgefallen. Wann war er verschwunden?

„Wenn ich mich recht entsinne, dann ist er vor einer ganzen Weile zum Abort verschwunden“, stellte der Buchbinder fest.

Alarmiert sprang Beatrice auf, eilte zur Rückseite der Hütte. „Ingo“, rief sie, „Ingo!“

Ich beschloss, mir den Weg zu sparen. „Er ist nicht mehr da, oder?“

Der Buchbinder lächelte. „Nein. Er ist gegangen, direkt nachdem er sich erleichtert hatte. Er weiß jetzt, wo dein Buch ist. Es besteht für mich kein Zweifel daran, dass er es vor dir erreichen möchte.“

Meine Kehle wurde trocken. Dass Ingo mein Buch vor mir erreichen wollte, ließ nichts Gutes ahnen.

„Du musst wissen“, erklärte der Buchbinder, „dass Ingo dem Tod näher ist als dem Leben. Seine Alkoholsucht hatte ihn so geschwächt, dass es ein Leichtes …“

„Er hat seit Wochen nicht mehr getrunken“, unterbrach ich.

„Deshalb ist er noch lange nicht gesund. Inzwischen würde er wohl sterbend im Krankenhaus liegen, hätte Beatrice nicht in seinem Lebensbuch herumgeschrieben. Im Augenblick halten ihn nur ihre Worte am Leben. In ihm steckt der Tod. Tod wartet in ihm. Tod handelt durch ihn.“

Langsam dämmerten mir die sich daraus ergebenden Konsequenzen.

Trotzdem musste ich es hören. „Was will er mit meinem Buch?“

„Wenn es Tod nur um Ingo gehen würde, dann hätte er die Kladde niemals Beatrice in die Hand gedrückt.“

„Es ging also immer nur um mein Lebensbuch?“

„Er kann gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Er bekommt Ingo. Er bekommt dich … Vielleicht bekommt er das ganze Buchland. All diese kleinen Seelen, geschaffen von Schriftstellern, Künstlern, Philosophen, Denkern. Sie alle kribbeln ihm unter der Haut, wie er sagt. Sie alle sind ihm bislang unerreichbar von der Klinge gesprungen. Er kann sie nicht erreichen, weil sie unsterblich zwischen den Buchdeckeln ruhen. Jedes Mal, wenn ein Leser ihre Zeilen liest, erwachen sie zu neuem Leben. Jetzt kann er sie alle haben … Er kann seine Buchführung zu einem Abschluss bringen.“

„Wie will er das anstellen?“

„Alles hängt von Beatrice ab. Wenn Ingo stirbt, verliert sie ihren letzten Halt. Sie würde daran zerbrechen und nicht eine Zeile schreiben. Aber sie muss ihr Buch schreiben. Wenn sie es nicht schreibt, dann wird es das Buchland nicht mehr geben. Viel mehr noch: Wenn sie es nicht schreibt, dann wird es das Buchland niemals gegeben haben.“ Das alles sagte der Buchbinder vollkommen ruhig, gerade so, als würde ihn nichts davon betreffen.

„Es wäre schön gewesen, wenn wir das schon vor unserem Nickerchen erfahren hätten“, stellte ich pikiert fest. Wir hatten viel zu viel Zeit verloren.

„Dann hättet ihr keine Rast eingelegt und wäret direkt aufgebrochen. Es ist aber wichtig, dass du bei Kräften und bei klarem Verstand bist, wenn ihr die Kammer der ungeschriebenen Bücher erreicht.“

„Warum?“, fragte ich. „Was erwartet mich dort?“

„Der Tod.“

„Ich will nicht sterben“, sagte ich, bemüht das Entsetzen zu unterdrücken.

Der Buchbinder legte den Kopf in den Nacken, lachte freudlos. „Wer will das schon? Vielleicht meine ich dies aber auch gar nicht im wörtlichen Sinne. Immerhin ist Tod ja auch in persona unterwegs, nicht wahr?“

Beatrice kam zurück. Tränen benetzten ihr Gesicht. Also behielt ich die meisten Neuigkeiten für mich. Ich erzählte ihr nur, wohin Ingo unterwegs war. Mehr nicht. Was würde es nutzen, wenn Bea wusste, dass Ingo den Tod in sich trug? Sie würde es vielleicht mit Besessenheit gleichsetzen. Nun … im Grunde war es genau das. Aber neben dem Schnitter war eben auch noch ein Stück Ingo in ihm.

Ich fragte mich, wie viel von dem, was ich auf unserer Wanderung an Ingo kennengelernt hatte, tatsächlich Ingo war. Der sympathische Typ, der mich gestützt hatte? Der Typ, der heimlich gesoffen hatte? Der Typ mit dem Radiergummi? Nein. Nicht der Typ mit dem Radiergummi. Aber etwas sagte mir, dass der Radiergummi wichtig war …

Ich grübelte. Beatrice grübelte. Und das ganze Buchland um uns herum war verstummt, schien auch zu grübeln. „Was hat das zu bedeuten?“ Mit Verwunderung stellte ich fest, dass mir diese Frage über die Lippen entfleucht war.

Der Buchbinder erhob sich und ging mit leicht hervorgehobenen Armen zur Haustür zurück. An der Wand lehnte ein etwa zwei Meter langer Stab aus Kupfer. Das Metall war glatt und schnörkellos. Am oberen Ende wurde er breiter und flach. Am unteren Ende wies er einige Zacken auf. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass es ein Schlüsselbart war.

Mit einiger Mühe hob der Buchbinder den überdimensionalen Schlüssel und kam uns dann damit entgegen.

„Es bedeutet“, nahm er meinen Satz auf, „dass ihr euch beeilen solltet. Ihr habt hier genug Zeit verbracht.“

Beatrice betrachtete mich skeptisch. „Wir werden Ingo nicht einholen können. Sein Vorsprung ist zu groß.“

„Nein“, sagte der Buchbinder, „Ingo ist zu Fuß unterwegs. Mit dem richtigen Gefährt habt ihr ihn schnell eingeholt.“

Ich dachte an die engen Durchgänge zwischen den Buchregalen. „Kein Fahrzeug kann uns …“

Der Buchbinder gebot mir mit ausgestreckter Hand Einhalt. Ich verstummte.

Tous chemins vont à Rome, sprach Jean de La Fontaine “, erklärte er mir. Anschließend lieferte er beiläufig die mir bekannte Übersetzung: „Alle Wege führen nach Rom.“ Mit diesen Worten rammte er den Schlüssel an eine vermeintlich beliebige Stelle in den Boden. Mit einem Klicken rastete der Metallstab in irgendeinem Mechanismus ein. Klack! Dann drehte der Buchbinder langsam und eine Bodenluke hob sich aus dem Staub hervor. Sie öffnete sich und rasselnd drückte sich ein Maschinentelegraph aus dem Boden hervor. Es war ein Abbild des Meinen, hoch oben im Antiquariat. Der Buchbinder tastete danach. Flatternd griffen seine Finger die runde Scheibe ab, den Schalthebel, die Schriftflächen. „Bäh!“, machte er. „Altmodischer Schnickschnack!“, trat alsdann gegen den Sockel des Geräts, griff nach seinem Schlüssel und drehte ihn abermals.

Genauso schnell, wie der Maschinentelegraph aufgetaucht war, verschwand er wieder.

Aus dem gleichen Bodenloch fuhr kurz darauf eine moderne Schalttafel empor. Einige rhythmisch blinkende Knöpfe bildeten darauf ein Quadrat. „Geht doch“, kommentierte der Blinde, drückte auf den erstbesten Knopf, woraufhin sich vor uns der Boden teilte und einen in Stein geschlagenen Abstieg freigab. Fackeln säumten die weißgetünchten Backsteinwände, tauchten den Gang in unruhiges Licht. „Wie geschmackvoll“, stellte ich fest und dachte dabei an die Treppe, die aus dem Antiquariat hinab ins Buchland führte. Meine Freunde und ihre Magie schienen ihre Umwelt immer auf ähnliche Weise zu gestalten.

Beatrice schickte sich an, den Weg nach unten anzutreten. Der Buchbinder hielt sie zurück. „Geschmackvoll? Ja“, sagte er, „Doch ich denke, dass wir nicht nach optischen Effekten euer Fortkommen gestalten sollten. Wir können die Angelegenheit auch pragmatisch angehen.“ Er drückte eine weitere Tastenkombination auf der Schalttafel, der Boden schloss sich, öffnete sich und bewies mit dem folgenden Anblick, dass meine Macht hier unten bei weitem begrenzter war, als die des blinden Buchbinders: Er hatte jetzt einen abwärtsführenden Weg geschaffen, der als durchaus praktisch zu bewerten war. Kinder hätten sich dafür sicherlich begeistern können. „Eine Rutsche?“

„Für jemanden, der schlecht zu Fuß ist, ist eine Reise auf dem Allerwertesten bestimmt eine lustige Sache.“ Lag da etwa Schadenfreude in den Zügen des Mannes?

Der Buchbinder zog den überdimensionalen Schlüssel aus dem Boden und lehnte ihn wieder an die Wand.

„Etwas groß, das Teil“, merkte ich an. „Muss damit etwas kompensiert werden?“

„Ja.“ Mit ernstem Ton konterte der Buchbinder meine anzügliche Äußerung, „Ich kompensiere fehlendes Augenlicht. … Die beiden kleineren Schlüssel finde ich nicht mehr.“

Die Rutsche war aus bläulich glänzendem Metall. Sie schlängelte sich durch eine fluoreszierende Röhre in eine unbestimmbare Tiefe. Mir war mulmig zumute, als ich mich auf meinen Hosenboden setzte, um Beatrice zu folgen. Als ich endlich den Mut gefasst hatte und mich mit beiden Händen abstieß, hörte ich weiter unten Beatrice vor Freude jauchzen. Für den Moment hatte sie ihre Sorge um Ingo abgelegt und gab sich ganz der rasanten Fahrt hin. Ich muss zugeben, dass auch mir der Puls vor Aufregung in die Höhe schoß und die Fahrt mir ein Lachen entlockte. Die Kurven warfen uns hin und her, Wellen im Boden ließen uns manchmal für Millisekunden den Bodenkontakt verlieren und mehr als einmal hatte ich das Gefühl, ich hätte einen Überschlag oder sogar einen Looping gemacht.

Irgendwann kamen wir an den vom Buchbinder gesetzten Bestimmungsort an. Überrascht stellten wir fest, dass uns die Rutschpartie an einen Ort geführt hatte, den wir aus anderer Perspektive bereits kannten: Wir befanden uns am entgegen gelegenen Ufer des Sees in der Halle der entbehrlichen Bücher.

Ich orientierte mich kurz. Hinter uns lag die endlos hoch gemauerte Wand, unterbrochen von zahlreichen Halbsäulen. In ihr klaffte ein schmuckloses Loch, das einem steinernen Mund gleich, das Ende der Rutschbahn markierte und in diesem Augenblick den Buchbinder ausspuckte. Wir standen auf einem schmalen Strand aus angeschwemmtem und getrocknetem Papiermatsch. Vor uns führte ein Bootssteg etwa zwanzig Meter weit über den Wortbrei hinaus auf den See. Fest an dem beinahe schwarzen Holz vertäut lag ein Motorboot. Ich konnte am Heck den Namen erkennen: „Pilar“.

„Nun“, sagte der Buchbinder heiter. Er klopfte mir kameradschaftlich auf die Schulter, „alter Mann, es ist Zeit, dass du mit deiner Bea auf das Meer hinaus fährst. Mit dem Motorboot seid ihr schneller als Ingo. Einmal quer hinüber zur anderen Seite, dann mit dem Aufzug ganz nach oben. Einfacher kann es nicht sein.

Für mich ist es nun an der Zeit, von euch Abschied zu nehmen.“ Als Beatrice und ich an Bord der Pilar stiegen, blieb der Buchbinder also am Ufer zurück. Die Hände in den Hosentaschen seiner ausgebeulten Hosen vergraben, wippte er auf den Fußballen vor und zurück. Den Hals leicht gereckt, die blicklosen Augen in unsere Richtung gewandt, wartete er darauf, dass wir die Taue lösten und die Motoren starteten.

„Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen“, sagte er, „Beatrice. Du bist genau so, wie ich dich mir vorgestellt habe.“

Beatrice zog das letzte Tau an Bord. Ich stand inzwischen am Steuerrad und drehte den Zündschlüssel. Die beiden Diesel ertönten mit einem satten Gurgeln.

Beatrice’ Frage ging beinahe im Klang der Maschine unter. „Wieso haben Sie sich mich vorgestellt?“

Ich drückte den Schubhebel sanft nach vorne und wir nahmen Fahrt auf. Der Buchbinder winkte uns herzlich. „Ich habe selbstverständlich von dir gelesen, meine Liebe.“

Schon unterband die Distanz zwischen uns jedes fortführende Gespräch. Und das war mir fürs Erste auch recht. Beatrice würde in den kommenden Stunden genug mit Ingo zu tun haben.

Die Pilar drückte sich über die vermeintliche Wasseroberfläche und eine Gischt aus flüssigem Papier und Tinte, mattem Licht und verflüssigten Gedanken spritzte seitwärts vom Bug fort. Der Wind wehte uns die Haare aus dem Gesicht, trug uns den Duft alter, feuchter Bücher in die Nasen. Das leicht modrige Bukett war nicht unangenehm und mir keinesfalls unvertraut. Ich schloss kurz die Augen, nahm diese Eindrücke in mich auf und erkannte wieder einmal mehr, dass ich hierher gehörte. Nicht die Stadt, die Straße oder mein Antiquariat waren mein Zuhause. Nein, hier unten in dem labyrinthischen Buchland fühlte ich mich mit jeder Faser meines Seins wohl und geborgen. Insbesondere, wenn ich meine Bea an meiner Seite wusste.

Es war einer der denkwürdigsten Augenblicke meines Lebens, als sich Beatrice just in diesem Augenblick neben mich stellte und einen Arm um meine Hüfte legte. Mein Herz setzte einen Schlag aus und ich fühlte mich, wie ein grüner Jüngling, der sich unerwartet im ersten Strahl der wärmenden Liebe sonnen durfte. Doch ihre Form der Zuneigung durfte ich nicht falsch verstehen. Ihr stand nur Freundschaft im Sinn. Allenfalls die Gefühle, die ein Kind dem Vater gegenüber empfindet, durfte ich mir von ihr erhoffen.

„Ist es nicht seltsam?“ Während sie dies fragte, legte sie ihren Kopf an meine Schulter.

„Was?“ Wenig galant und gar nicht souverän, Herr Plana, schalt ich mich.

„Dass wir hier miteinander ein Abenteuer erleben. Wir beide. Herr Plana und ich … – Nicht Ingo und Ich“, erklärte Beatrice. „Ich meine: Ingo ist mein Mann. Statt mit ihm gemeinsam zu kämpfen, habe ich den Eindruck, als wäre er plötzlich ein Gegner, den ich überlisten müsste.“

Ich dachte kurz darüber nach, Beatrice reinen Wein einzuschenken. Ingo und der Tod in einer Person. Im Augenblick schien Ingo tatsächlich ein Gegner zu sein. Würde sie es verstehen? Gewiss nicht. Diese Information würde mir nur die Gunst des Augenblicks zunichte machen. Und ich genoss, dass Beas Hand mich in solch vertrauter Geste berührte.

„Es fühlt sich irgendwie nicht falsch an“, sagte sie. Ihr Lächeln war ehrlich. Was für ein Anblick! „Irgendwie gehören wir zusammen. Sie und Ich.“

Überglücklich dachte ich: „Meine Bea!“ Und doch fragte ich mich, wohin dieser Dialog uns führen würde.

Doch Bea griff nach meiner Hand. Verbundenheit. Freundschaft … Oder etwas anderes?

Mein Herr Plana.“

Das Land der Bücher ist schon immer ein Ort der Träume, Wünsche und Hoffnungen gewesen. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass es auch ein Land der unerfüllten Erwartungen und verborgenen Botschaften ist. Ich ermahnte mich, dies nicht zu vergessen.

Die Pilar war ein schlichtes Schiff. Das Angeln auf dem Meer brauchte keinen Luxus. Ich saß auf einem geflochtenen Sitz, hielt mit der Linken das kleine Steuerrad und richtete meinen Blick durch die Frontscheiben fest auf die glatte Oberfläche des Sees. Ein Bein hatte ich dabei lässig auf der hölzernen Konsole vor mir hochgelegt. Ich stellte mir vor, wie einst Hemingway auf dieser kleinen Kommandobrücke gesessen haben musste. Es fühlte sich für mich … erhebend an.

Beatrice hatte neben mir den kleinen Durchgang zur Kajüte frei gemacht, stieg die Stufen hinunter und inspizierte die dortigen Gegebenheiten. Doch das eigentliche Herzstück der Pilar stand eindeutig hinter mir: Fest montiert auf dem Deck stand dieser monströse Stuhl, der Fighting Chair, auf dem man sich wie auf einem Folterinstrument festschnallen konnte, um die Leinen nach einem riesigen Marlin auszulegen.

„Schade. Alle Schränke leer.“ Beatrice kam wieder hoch an meine Seite. „Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht gewesen.“

Ich nickte, während ich das Boot an einer aus dem Wasser ragenden Steinsäule vorbeimanövrierte.

„Können Sie mir erklären, warum die Pilar hier unten ist? Soweit ich weiß, steht sie eigentlich auf Kuba“, fragte Beatrice.

„Dort steht sie immer noch“, erklärte ich. „Im Buchland treten die Dinge immer auf die Weise in Erscheinung, wie sie geschrieben stehen. Hemingways Pilar hat er höchstselbst in seinem Roman ‚Der alte Mann und das Meer‘ verewigt. Erst dadurch wurde sie zu einem Teil des Buchlandes und kann sich hier manifestieren.“

Beatrice kaute nachdenklich auf der Unterlippe und resümierte im Geiste wohl ihre Zeit seit sie das Buchland Schritt für Schritt kennenlernte. „So wie die Geldnote oben im Antiquariat?“

Wieder nickte ich.

„Verstehe.“ Tastend griff sie nach dem auf Hochglanz lackierten Holz der Konsole. Sie prüfte anscheinend seine Festigkeit.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich, leicht amüsiert.

„So weit“, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln, „wenn man bedenkt, dass ich auf einem Stück Fiktion über die Untiefen erdachter Gewässer mit Höchsttempo schippere.“

„Fiktion … Realität. Erdachtes und Wahrheit. Darüber haben wir uns doch schon ausgiebig unterhalten.“

„Schon“, gab Beatrice zu, „aber es ist was anderes, wenn wir hypothetisch darüber plaudern, ob die Realität eine Phantasie sein könnte … Oder ob wir ganz konkret den umgekehrten Weg gehen und aus der Phantasie unsere Realität erschaffen.“

„Sie überraschen mich immer wieder, liebe Beatrice. In einem Augenblick akzeptieren Sie, dass Sie auf Pegasos reiten und ein Lebensbuch Ihres Mannes in den Händen halten können, um dann wiederum plötzlich zu bezweifeln, was um Sie herum geschieht.“

„Das etwas um mich herum geschieht, bezweifle ich nicht.“ Beatrice wirkte zerknirscht, als sie gestand: „Ich kann es mir aber nicht mehr ansatzweise erklären. Ich komme mir vor, wie ein Protagonist in einem Roman … Es ergibt alles keinen Sinn.“

Nun, wenn ich mich recht entsinne, gab das Buch der letzten Wahrheit recht eindeutige Hinweise. Ich fragte mich, wie sehr Beatrice mit ihren Überlegungen an der Oberfläche unserer Wahrheit kratzte. „Aldous Huxley hat mal gesagt, dass das Fatale an Romanen ist, dass sie zu viel Sinn ergeben. Die Wirklichkeit ergibt, seiner Meinung nach, nie einen Sinn”, zitierte ich – betont gelassen.

Mit einem Schulterzucken, das wirklich alles zu bedeuten vermochte, tat Beatrice meine Aussage ab. Sie trat ans Heck und ließ sich nach kurzem Zögern in den Stuhl fallen. Dann kramte sie in ihrer Umhängetasche. Zunächst dachte ich, dass sie Ingos Buch herausnehmen wollte. Es überraschte mich, dass sie noch ein Zweites mit sich trug, denn sie hielt plötzlich die andere Kladde in den Händen. Die, die ich ihr am Tage nach ihrer zurückgenommenen Kündigung geschenkt hatte. Die, die aus handgeschöpftem Papier gebunden war. Die, die ich ihr zum Schreiben geschenkt hatte.

Sie zückte ihren Bleistift, setzte ihn vorsichtig auf das oberste Blatt und schrieb ein paar Worte. Dann hob sie den Kopf, drehte ihn in meine Richtung. Als sich unsere Blicke trafen, hob sie verlegen eine Augenbraue. „Nur Notizen“, sagte sie. Es sollte unverbindlich klingen. „Ich mache mir nur Notizen.“

„Natürlich.“ Ein glückliches und überaus zufriedenes Lächeln konnte ich mir nicht verkneifen. Im Sinne größtmöglicher Diskretion legte ich meine Aufmerksamkeit wieder ganz auf die Steuerung des Schiffes, das sich seinen ungewöhnlichen Weg durch das Buchland bahnte.

Das andere Ufer kam in Sicht. Ich fragte mich, ob wir es geschafft hatten, Ingo zu überholen, oder ob er längst mit dem Fahrstuhl nach oben in die Turmkammer gefahren war. Bei dieser Vorstellung schnürte sich mir der Hals zu.

Der Tod erwartete mich. Der Buchbinder wusste mit den Worten, die er sprach präzise umzugehen. Es war kein Zufall, dass er diese Wortwahl getroffen hatte. Ich musste mich also darauf einstellen, dass ich unter Umständen sterben könnte. Die Frage war vielleicht nur noch, zu welchem Preis ich mein Leben lassen wollte.

Trotz des Dröhnens der Motoren konnte ich hören, wie Beatrice’ Bleistift mit einem wispernden Geräusch über das Papier kratzte, als wollte er der Kladde etwas erzählen. „Wir haben es gleich geschafft“, rief ich nach hinten. Der Stift verstummte und Beatrice lief entlang der Außenreling zum Bug, als könne sie die Fahrt von dort aus beschleunigen.

Auf dem Fighting Chair hatte sie ihre Tasche zurück gelassen. Beide Bücher lugten daraus hervor. Bleistifte und Kugelschreiber waren in einem kleinen Seitenfach eingeklemmt.

Eine gute Gelegenheit, die ich mir nicht nehmen lassen durfte. Ich klemmte das Ruder fest, nahm mir rasch die Tasche, zog einen Kugelschreiber hervor und …

Ich hielt inne. Viel Zeit blieb mir nicht und ich musste mich schnell entscheiden. Ingos Kladde oder das andere Büchlein. Wo hinein sollte ich schnell ein paar Sätze schreiben?

„Vertrauen“, flüsterte ich mir zu. Ja, ich sollte auf Ingo vertrauen. Und gleichfalls auf Bea. Und auf die Macht der Bücher. Vielleicht auch auf mich.

Also ließ ich Ingos Buch links liegen.

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