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Wandelnder Tod

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Die Fahrstuhltür glitt auf. Vor uns lag mein Arbeitszimmer. Alles wie immer. Doch wir spürten es beide. Subtil. Es glitt mit kalten Fingern über unser Unterbewusstsein. Meine Nackenhaare richteten sich auf. Beatrice schüttelte es kaum merklich.

„Ist es hier kälter als sonst?“, fragte sie und rieb sich dabei unbewusst über die Arme.

Mein Atem kondensierte vor meinem Mund. Das beantwortete ihre Frage ohne Worte. Doch die gefallene Temperatur allein machte die Veränderung nicht aus. Was war es?

Die Tür zum Verkaufsraum stand offen. Die Tür zur Straße ebenso. Kalter Wind wehte herein. So kalt wie im tiefsten Sibirischen Winter. Ich eilte nach vorne, humpelte auf die Straße. Sie lag menschenleer da, bedeckt von Rauhreif und Eis. Kein Mensch, kein Fahrzeug weit und breit. „Was geht hier vor?“

Die Welt hatte ihre Farben verloren. Alles schien nur noch aus groben Umrissen und Schraffuren zu bestehen, erinnerte an eine Skizze, die mit fahrigem Bleistift auf grobem Papier gezeichnet worden war.

An der Bushaltestelle lag etwas auf dem glänzenden Asphalt. „Mein Mantel“, entfuhr es Beatrice. Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Ingo!“

Ich konnte mir nicht vorstellen, was der Mantel mit Ingo zu tun haben sollte, doch als Beatrice in panischer Angst zu dem Stoffhaufen lief, bemühte ich mich, einigermaßen mit ihr Schritt zu halten.

Sie hob den Mantel auf, tastete ihn ab. Erleichtert zog sie Ingos Kladde aus der Innentasche heraus. „Ingo. Oh, mein Gott. Ich dachte schon …“

Die Luft veränderte sich und das Grau von den Fassaden schien wie Tünche im Regen herabzulaufen. Es sammelte sich in den Schatten, kroch von dort auf zu uns und erhob sich schließlich zu einer nachtschwarzen Silhouette. Die Stimme, die nun zu uns sprach war dünn und verwaschen, so als gehöre sie nicht in unsere Realität. Diese Einschätzung entsprach vielleicht sogar der Wahrheit.

„Es reicht nicht ganz“, sagte die Stimme. „Hier draußen habe ich noch nicht genügend Wirklichkeit. Die Macht deiner Freunde hat die Grenzen noch nicht ausreichend aufgeweicht. Aber das wird kommen.“

Beatrice kniff die Augen zusammen. „Tod?“

„Ingo wird mir nicht entgehen. Niemand kann das. Meine Bilanz wird aufgehen.“ Er sprach mit mir, ignorierte Beatrice vollkommen. „Die sechs Wochen sind bald vorbei. Dann kann ich mir das Buch nehmen, es greifen und tilgen.“

„Das. Wirst. Du. Nicht“, schrie Beatrice und warf sich mit aller Kraft gegen die Gestalt.

Es gab keinen Aufprall. Das Schwarz stob auseinander wie ein körperloser Nebel. Beatrice fiel hindurch, stürzte auf ihre Hände und Knie und blieb weinend dort unten.

Tod verschwand, mit ihm die seltsame Leblosigkeit um uns herum. Die Sonne brach durch die Wolkendecke, gab der Welt die Farben zurück. Ein Wind wirbelte um uns herum, blies die Kälte fort und kurz darauf traten die ersten Leute wieder auf die Straße, wie Statisten, die auf ihr Stichwort gewartet hatten. Ein vorbeifahrendes Auto hupte lautstark und wütend, um uns darauf aufmerksam zu machen, dass wir uns mitten auf der Fahrbahn befanden. Erste neugierige Blicke trafen uns.

„Meine Bea.“ Ich sprach es zum ersten Mal laut aus. Es hörte sich richtig an. „Wir können hier nicht bleiben.“

Ich half ihr beim Aufstehen, führte sie zurück in den vermeintlichen Schutz meines Antiquariats. „Beinahe hätte er Ingos Buch geholt“, stellte Beatrice entsetzt fest. Dabei ließ sie sich ermattet in den Ohrensessel fallen. „Er wollte damit zu Ingo.“

Im Regal über ihr stand das Regal mit den Lexika. Auch ein sehr spezielles über Spirituosen gehörte zu dieser Sammlung. Hin und wieder zog ich es heraus, denn dahinter verbargen sich eine Flasche Weinbrand und zwei Cognacschwenker. Das war vollkommen unmagisch und nur für Notfälle. Ich hielt mich nicht mit den üblichen Konventionen auf und schenkte großzügig ein. Heute wäre es mir egal gewesen, wenn mich jemand einen Banausen geschimpft hätte. „Hier, meine Liebe“, sagte ich und streckte Bea eines der beiden Gläser entgegen. „Auf den Schrecken.“

Die ersten Schlucke nahmen uns die noch allgegenwärtige Kälte aus den Gliedern. Die darauf folgenden Schlucke vertrieben die Kälte aus unseren Herzen. Beas Wangen röteten sich ein wenig.

„Warum wollte er mit dem Buch zu Ingo? Viel leichter wäre es für ihn gewesen, damit zurück in sein Reich zu gehen.“ Beatrice leerte ihr Glas und schaute mich dann fragend an.

„Es war unser Glück, dass er es zu Ingo bringen wollte. Seine Manifestation ist anscheinend noch nicht stark genug. So weit kann er sich noch nicht vom Buchland entfernen.“

„Aber der Tod ist ein Bestandteil unserer Welt.“

Ich legte den Kopf schief und zog vielsagend die Augenbrauen hoch. „Natürlich wird gestorben; aber bislang ist mir die Tatsache verborgen geblieben, dass Tod als leiblicher Gevatter mit Sense und Sanduhr durch die Straßen marschiert. Nur für uns beide ist er eine leibliche Personifizierung. Ein fester Bestandteil im Buchland … Aber inzwischen ist er erstarkt …“

Entsetzen machte sich in Beatrice’ Zügen breit. „Er wird stärker?“

„Das Buchland ist stärker geworden“, erklärte ich ruhig. Die Zeichen waren untrüglich. Schon allein das verjüngte Erscheinungsbild der angrenzenden Häuser war ein mächtiges Indiz. „Er ist Teil davon. Somit wird auch er mächtiger.“

„Warum wird das Buchland stärker?“ Natürlich musste sie diese Frage stellen.

„Weil du wieder schreibst“, hätte ich beinahe geantwortet. Aber dann hätte vermutlich alles sofort an Ort und Stelle geendet. Also sagte ich nur: „Ich weiß es nicht genau.“ Diese Halbwahrheit konnte ich einigermaßen glaubhaft vermitteln. „Aber viel wichtiger ist die Frage, wie viel Zeit uns noch bleibt. Tod wird langsam ungeduldig. Wenn er darauf drängt, seine Buchführung in Ordnung zu bringen, dann dauert es bestimmt nicht mehr lange, bis Ingos eigentliche Zeit abläuft. Wissen Sie noch das Datum für sein planmäßiges …“, ich hasste mich dafür, dass ich es so ausdrückte, „… Ableben?“

Beatrice sog hörbar die Luft ein. Doch dann griff sie unvermittelt nach der Kladde, blätterte die letzte Seite auf. Ganz unten stand noch immer der einzelne Satz: „Ingo starb.“ Eine Verabredung mit dem Schicksal. Ich rief mir den plötzlichen infernalen Sturm in Erinnerung. Mit diesem einen Satz ließ sich das Universum besänftigen. Er war ein Ankerseil zur letzten Bestimmung, gebunden an die Realität. Doch Tod genügte das nicht. Ihm verlangte es danach, dass seine Bücher stimmten.

Beatrice hielt die Kladde hoch, ließ das Licht der Deckenlampe flach über das Papier gleiten. Zart glänzten die Abdrücke der fortradierten Bleistiftstriche. Das Datum hatte rechts oben gestanden.

„Wir haben nur noch drei Tage“, stellte sie tonlos fest.

Ein Buch in so kurzer Zeit zu schreiben, musste ich mir eingestehen, erwies sich als vollkommen unmöglich. Insbesondere, weil Beatrice nun vollkommen andere Absichten hegte: „Ich muss Ingo und die Kladde vor Tod schützen.“

Ich kannte ihre Antwort, trotzdem musste ich fragen: „Und das Buch?“

„Vergessen Sie es. Ich habe andere Sorgen.“

Das Wispern um uns herum schwoll zu einem lautlosen Schrei an. Es schmerzte mir nicht in den Ohren. Es schmerzte tief in meinem Bewusstsein. Ich krümmte mich zusammen. Sämtliche Kraft, die noch in mir wohnte, verpuffte. Mir wurde schwarz vor Augen. Dann vergaß ich, wo ich war. Dann vergaß ich, wer ich war. Mir war, als löste ich mich förmlich auf in einem Strudel aus Nichts. Die Panik fiel von mir ab und eine grenzenlose Ruhe umfasste mich. Wie ein Gewand legte ich meine Gefühle ab, verlor mich.

Ein Stift glitt über handgeschöpftes Papier. Leise, langsam, aber stetig. Mit Bedacht wurde Zeile um Zeile geschrieben. Ein faszinierender Anblick.

Schon erreichte die Mine den untersten Rand des Blattes, formulierte den letzten Satz, der noch auf den verbleibenden Platz passte: „Ich denke, also bin ich!“ Ich hatte das vor kurzem erst selbst gesagt. War dies mein Buch?

Kaum fertig geschrieben löste sich das Graphit vom Papier. Die Worte flogen mir entgegen, drangen mir unter die Haut, erfüllten mich und ließen mich wieder mir selbst bewusst sein.

Die Wirklichkeit holte mich zurück ins Hier und Jetzt. Meine Lider flatterten kurz, bis ich sie wieder unter Kontrolle brachte. Verwundert stellte ich fest, dass ich nicht zusammengebrochen war. Ich stand noch immer vor Beatrice.

„Vergessens Sie es. Ich habe andere Sorgen“, sagte sie und bescherte mir ein sehr, sehr intensives Déjà-vu.

Es gelang mir dennoch meine Gedanken zu sammeln. Grübelnd griff ich nach meiner Pfeife, die mich auf dem Sekretär fertig gestopft erwartete. Hatte ich sie dort hingelegt? Aufgeschlagen darunter lag eine unversehrte Ausgabe von ‚Beeton’s Christmas Annual‘. Das Titelbild im Jugendstil pries ‚A Study in Scarlet‘ als Titelgeschichte an. Sherlock Holmes?

„Jetzt könnten wir ein wenig Hilfe gut gebrauchen“, murmelte ich, während ich paffend dem Tabak Feuer gab. Beinahe rechnete ich damit, dass sich unverzüglich die Ladentür öffnen und zwei Herren aufrechten Ganges hereinschreiten würden. Leider blieb die personelle Unterstützung aus. Also begnügte ich mich mit der Pfeife und einem Zitat: „Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache.“

„Wie bitte?“ Natürlich konnte Beatrice meinen wirren Äußerungen nicht folgen.

„Sie sagten, dass Sie andere Sorgen haben. Ich kann Ihnen nicht verbieten, jetzt nach Hause zu gehen. Nehmen Sie die Kladde mit und bewachen Sie Ingo und dieses Büchlein. Glauben Sie, dass sich der Tod von Ihnen aufhalten lässt? Welche Chancen rechnen Sie sich aus, wenn Sie ihm in den eigenen vier Wänden entgegentreten?

Die Grenzen zwischen unserer Wirklichkeit und der Wirklichkeit der Bücher dort unten ist durchlässig geworden. Tod wird stärker. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es im gelingt, Sie in Ihrer Wohnung zu erreichen. Er wird die Kladde an sich nehmen.“

„Aber was kann ich tun?“

„Wir könnten eine andere Richtung einschlagen. Holen Sie Ingo hierher. Gehen wir gemeinsam ins Buchland.“ In mir reifte ein Plan, den ich zeitgleich in Worte fasste.

„Dort ist Tod bereits mächtig. Warum sollten wir ihm entgegengehen?“

„Er weiß nicht, wo mein Buch steht. Er hat es mir selbst gesagt! Mein Lebensbuch ist nicht in seiner Buchführung. Es muss ein gutes Versteck sein. Ingos Buch sollte dort auch gut aufgehoben sein. Unterwegs dorthin sollten Sie Ingos Geschichte schreiben. Und Sie sollten sie zu einem Ende bringen, so dass nichts mehr nachträglich geändert werden muss.“ Erstaunlich wie schnell mein Gehirn arbeitete. Fast hatte ich den Eindruck, als wären dies nicht meine Ideen, die ich gerade laut aussprach. Ich verstummte. Doch die Worte in mir flossen weiter.

„Beatrice muss einen Blick in ‚das Buch der letzten Wahrheit‘ werfen.“ Was sollte das nun wieder bedeuten?

Beatrice stellte eine viel elementarere Frage: „Wissen Sie denn, wo Ihr Buch steht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich kann nur raten. Allerdings hat Tod eine Vermutung, die ich mit ihm teile.“ Dann erzählte ich Beatrice von dem Gespräch, das ich mit Tod geführt hatte, kurz nachdem Beatrice damit angefangen hatte, Ingos Leben neu zu schreiben. „Er hat angedeutet, dass er zwischen den Romanen suchen würde“, schloss ich meine Ausführungen.

„Hm“, machte Beatrice. Es lag etwas Hoffnungsloses in ihren Gesichtszügen. „Zwischen den Romanen. Ein bisschen ungenau, oder? Ich meine: Wie viele Romane lagern dort unten? Wir könnten dort unten monatelang umherirren, sämtliche Buchrücken der Reihe nach abklappern und würden Ihr Buch trotzdem nicht finden. Und selbst wenn wir es finden würden, hätten wir nichts gewonnen. Alle Gänge sind offen. Sie bieten keinen Schutz.“

Beatrice ging zum Sekretär, schlug die Kladde vor sich auf. Umstandslos zog sie eine Schublade heraus und nahm sich einen Bleistift. Mir war bislang nicht aufgefallen, mit welcher Selbstverständlichkeit sie sich im Antiquariat bewegte. Sie war inzwischen ein fester Bestandteil von ihm geworden.

Meine Freunde sprachen plötzlich wieder. Ich lauschte ihrem Wispern. Ungestüm und so hastig, dass es fast nicht mehr verständlich war, drang es auf mich ein. Auch Beatrice schien es zu hören. Der Stift in ihrer Hand verharrte einen Zentimeter über dem Papier, während sie in die Stille des Raumes hineinlauschte. „Wenn alle durcheinander reden, verstehe ich kein Wort“, protestierte sie schließlich. Mir ging es genau so. Aber das gab ich natürlich nicht zu. Stattdessen tat ich so, als würde ich nun die Führung wieder übernehmen. Entschlossen trat ich hinter Beatrice, drückte sanft ihre Hand herunter, bis der Stift das Papier berührte. „Schreiben Sie.“

Und sie schrieb. Sie schrieb, dass Ingo sich gerade die Jacke anzog, dass er hinaus in den Flur ging, dass er gewissenhaft die Tür hinter sich abschloss, eilig – aber vorsichtig – die Treppe hinunterging und dass er in den Bus einstieg.

„Sie müssen ihm keine Schritt für Schritt Anleitung geben“, sagte ich. Doch Beatrice ließ sich von meinem Einwand nicht beirren. Schon beschrieb sie, wie Ingo nochmals aufstehen musste, um noch eine Fahrkarte zu lösen. Ein genervtes Seufzen konnte ich mir nicht verkneifen.

„Ich bin der Autor“, erklärte Beatrice trotzig. Ihre Augen funkelten mich kurz herausfordernd an. Dann fügte sie noch einen Satz hinzu, mit dem sie erzählte, dass Ingo vergnügt ein Liedchen pfiff.

„Jetzt müssen wir nur noch warten“, stellte Beatrice fest. Sie rutschte mit meinem Stuhl zurück und legte die Füße hoch. Bei aller damit verbundenen Respektlosigkeit, achtete sie wenigstens sorgsam darauf, nicht versehentlich auf Ingos Kladde zu treten.

„Es ist ein merkwürdiges Gefühl, die Macht über ein Leben auszuüben“, sagte sie. Sie drückte dabei mit ihrem Rücken die Lehne des Stuhls so weit zurück, wie es dessen Gelenke erlaubten. Dabei wippte sie unstet mit den Knien. Ihre Wut war verpufft, ihre Angst schien im Griff. Was übrig blieb, war eine Beatrice, die ich kaum einzuschätzen wagte. Da lag etwas mehr als nur Zufriedenheit in ihren Zügen. Ein Hauch von Selbstgefälligkeit lag in der Luft.

„Ingo ist mein Protagonist. Er muss tun, was ich ihm schreibe“, sagte Beatrice.

„Gefällt es Ihnen?“

Mit Daumen und Zeigefinger massierte sie sich den Nasenrücken. „Es ist besser als …“ Sie hielt inne, unterbrach sich selbst. „Nein, ist es nicht. Es ist nicht besser als früher. Es gefällt mir nicht.“ Schon perlte ihr Selbstbewusstsein ab wie Wassertropfen von einer Lotusblüte. „Aber es ist gut, wenigstens einmal im Leben die Führung zu übernehmen. Ich war immer nur ein Nebendarsteller in den Geschichten anderer. Die graue Maus, die niemand beachten musste. Die Ereignisse haben mich immer nur mitgerissen. Ich habe mich treiben lassen.

Das ist nun zum ersten Mal anders. Ich brauche nur den Stift zu zücken und bin der Gebieter über einen echten, lebenden Protagonisten.“

Sanft schob ich Beas Füße hinunter und setzte mich auf die Tischkante des Sekretärs. Dann sog ich kräftig den Rauch der Pfeife ein um alsdann ein paar Kringel aus Qualm in die Luft zu blasen. Gebieter sein, dachte ich bei mir, das kann in der Tat ein wenig selbstgefällig machen. Die Macht, die einem Autor innewohnt, kann mitunter sehr verführerisch sein. Doch ich gestattete mir einen Einwand: „Der Leser ist der wahre Gebieter über eine Geschichte.“

„Der Leser?“

„Ja. Der Leser. Autoren können zwar das Schicksal formulieren, doch in der Hand des Lesers liegt die Macht, die Geschichte zum Leben zu erwecken. Durch ihn wird die Zukunft zur Gegenwart geführt, so dass sie schließlich zur Vergangenheit wird. Beschließt der Leser am Ende einer Seite, nicht umzublättern, sind die Protagonisten auf ewig dazu verdammt, in der Zeit zu verharren.“ Ich deutete auf die Bücher, die uns umgaben. „Das alles ist nur Papier. Die Seele, die ihnen eingehaucht wurde, ist so gut wie tot. Erst ein Leser schenkt den Worten tatsächliches Leben. Es ist ein Prozess, der nur so lange andauert, wie der Leser seinen Geist darin einbringt.“

Beatrice nickte. Schwieg. Lauschte. Und sie schien auf irgendetwas zu warten …

„… Beruhigend“, sagte sie schließlich. „Wer auch immer unser Buch betrachtet, hat beschlossen weiterzulesen.“ Das Lächeln, das ich so sehr vermisst hatte, eroberte das Gesicht von meiner Bea zurück. Das Lachen, das sie mir schenkte, musste ich einfach erwidern. Auch wenn dieser Moment etwas ausgesprochen Surreales an sich gehabt hatte.

„Ich sehe, wir verstehen uns“, stellte ich immer noch schmunzelnd fest. „Wie lange wird es dauern, bis Ihr Mann eintrifft?“

„Die Busfahrt dauert ungefähr zwanzig Minuten.“

Ich schaute auf meine Taschenuhr. „Wir könnten die Zeit nutzen, um etwas zu lesen“, schlug ich vor.

Beatrice stand auf und schritt die Regale ab. „Steht Ihnen der Sinn nach etwas Bestimmten?“ Dabei ließ sie wieder die Finger an den Buchrücken entlanggleiten. Eine Angewohnheit, die mir inzwischen lieb geworden war. „Nein, nichts Bestimmtes. Lassen Sie die Bücher eine Wahl treffen.“ Ich war fest davon überzeugt, dass meine Freunde dazu bereit waren. Einige Schritte entfernt von mir hielt Beatrice inne. Es wirkte, als wären ihre Finger an einem der Bücher plötzlich festgeklebt. Sie zog es heraus, las die Überschrift auf dem Titelbild: „Magritte?“

Ich zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Kunst?“

„Ein Bildband über den Künstler Magritte.“

Nicht gerade das, was ich erwartet hatte. Würde Beatrice mir daraus vorlesen, hätte es für mich vermutlich keinen Genesungseffekt. Die Botschaft meiner Freunde musste also anderer Natur sein.

Zu dem Schluss kam auch Beatrice. Sie schlug eine beliebig gewählte Seite auf. Hochglanzpapier zeigte die Fotografie eines Ölgemäldes. Zu erkennen war eine vor einem Fenster aufgestellte Staffelei. Sie verdeckte die dahinterliegende Landschaft, die zugleich auf dem Bild zu sehen war. Motiv und Realität bildeten eine Symbiose. Beatrice las mir den Begleittext vor: „Der im Gemälde dargestellte Baum verbirgt den Baum, der sich außerhalb des Raumes dahinter befindet. Er existiert im Geist des Betrachters tatsächlich nun gleichzeitig, sowohl innerhalb des Raumes im Gemälde und außerhalb in der wirklichen Landschaft.“

„Ein Spiel mit der Betrachtung der Wirklichkeit“, kommentierte ich irritiert, „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass uns das im Moment nicht weiterbringt.“

Beatrice nickte, legte Magritte zur Seite, griff ein weiteres Mal in ein Buchregal und zog William Shakespeare hervor. „Wie wäre es mit Hamlet?“

„Sein oder nicht sein?“ Ein vages Unwohlsein machte sich in mir breit. „Romeo und Julia wäre mir beinahe lieber.“

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