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Der blinde Buchbinder
ОглавлениеKaum hatte Beatrice die beiden Sätze gesagt, geriet alles erneut in Bewegung. Die Buchstaben, die eben noch einer Textur gleichend, alles bedeckt hatten, verschwammen vor den Augen, lösten sich schließlich auf und gaben die ursprüngliche Natur aller Gegenstände preis. Die ganze Metamorphose, die sich eben abgespielt hatte, verlief nun rückwärts, bis nur noch Bücher, Regale und das Buchland, wie ich es kannte, zurückblieben.
Beatrice war schon auf dem Weg zu uns zurück, bahnte sich zielsicher einen Weg, durch das Labyrinth, bis zu dem Durchgang, der sich für sie bereitwillig öffnete. Als sie das Schild erreichte und sich suchend umblickte, rief Ingo nach ihr. „Hier sind wir.“ Er schickte sich an, nach unten zu klettern. Ich hielt ihn zurück und einer Eingebung folgend forderte ich Beatrice mit beiden Händen winkend auf, ebenfalls die Leiter hinaufzusteigen.
„Warum möchten Sie Bea hier oben haben?“ Ingo schien nicht einverstanden. Aber das war mir egal. Ich war auch nicht damit einverstanden, dass dieser Mann aus dem Hals roch, als ob er eine Schnapsbrennerei geplündert hätte. Wie viel von dem Zeug mochte in dem Flachmann gewesen sein? Und wieviel war jetzt noch drin?
Es war beruhigend zu wissen, dass sein Vorrat begrenzt war.
„Die Regale stehen hier so dicht, dass wir hier oben schneller vorankommen“, erklärte ich. „Wenn ein Regal zu Ende ist, können wir mit einem großen Schritt auf das nächste wechseln.“
„Gut“, sagte Ingo. Als ob ich sein Einverständnis bräuchte! Mir entfuhr ein verächtliches Schnauben, das Ingo aber geflissentlich ignorierte. Er schaute hinunter, behielt Beatrice bei jedem Schritt, den sie tat, im Auge.
Ich nutzte die kurze Pause, setzte mich an den Rand und ließ die Beine über dem Abgrund baumeln.
Ein seltsames Gefühl beschlich mich, denn ich erkannte, dass ich keine Angst vor der Tiefe hatte. Aus irgendeinem Grund ahnte ich, dass in meinem Buch nicht geschrieben stand, dass ich hier in die Tiefe stürzen würde. Und es gab nur einen, der dies vielleicht ändern wollte. Doch Tod wusste nicht, wo mein Buch aufbewahrt wurde. Ingo, dessen Buch und meine Bea waren unter meinen Fittichen. Ich war auf dem besten Wege, dem Schnitter gehörig ins Handwerk zu pfuschen.
Ich konzentrierte mich auf das Wispern, das mich immer noch begleitete. Meine geschwätzigen Freunde plapperten alle gemeinsam drauflos, bemühten sich um meine Aufmerksamkeit. Beatrice hatte uns fast erreicht, als ich endlich verstand, worauf mich das Flüstern aufmerksam machen wollte: Ingo hielt einen Radiergummi in der linken Hand.
Beatrice ergriff Ingos ausgestreckte Rechte und zog sich auf das Regaldach. „Wow“, kommentierte sie die ungewohnte Perspektive. Doch bevor sie mehr sagen konnte, schlang Ingo seine Arme um ihren Körper und drückte sie fest an sich.
„Ich hatte solche Angst um dich“, raunte er in ihr Ohr. „Was ist da gerade passiert?“
Beatrice blickte kurz zu mir. Es lagen viele Fragen in ihren Augen. Und es lag eine Antwort in ihrem Herzen. Doch sie begriff diese Antwort noch nicht.
„Das war … das Buch der letzten Wahrheit“, stammelte sie.
„Welche Wahrheit?“ Die Irritation stand Ingo ins Gesicht geschrieben. Beatrice rang mit ihrer Erkenntnis, konnte sie aber nicht in Worte kleiden. Also sprang ich für sie ein. Sarkasmus und Ironie schienen mir jetzt das richtige Mittel zu sein. „Die Letzte.“
Ingo löste die Umarmung, fixierte mich wütend. Eine giftige Erwiderung lag ihm wohl schon auf der Zunge, doch schließlich sagte er an Beatrice gerichtet nur: „Dein Chef möchte, dass wir hier oben weitergehen.“
Also gingen wir hier oben weiter. Dabei verloren wir kein weiteres Wort über Beatrice’ kleinen Ausflug ins Abseits unserer Route. Ingo grübelte über die letzte Wahrheit. Oder eventuell schmollte er auch, ob meiner Frechheit. Mir entging nicht, dass er einige Male an dem Flachmann nippte.
Beatrice ging vor ihm her. Auch sie war geistig vollkommen abwesend. Manchmal sah ich, dass ihr Mund unablässig, aber lautlos, „Das Geschriebene ist Realität“ formte.
Auch mir ging dieser Satz nicht aus dem Sinn. Was mochte diese letzte Wahrheit für uns bedeuten? Außerdem versuchte ich mir über Ingo klar zu werden. Mir passte es weder, dass er trank, noch dass er ein Werkzeug für sein Lebensbuch griffbereit hielt. Außerdem machte es mich misstrauisch, dass er das Buchland als eine Selbstverständlichkeit hinnahm. All die neuen, unfassbaren Eindrücke, die auf ihn einstürmten, schienen ihn nicht im Geringsten zu überraschen. Konnte es sein, dass diese Person tatsächlich so abgestumpft war?
Ingo zückte abermals den Flachmann, kippte den restlichen Inhalt in sich hinein. Mit hektischem Klopfen probierte er, auch den letzten Tropfen herauszuschlagen. Danach schien er zu versuchen, das Metall auszuwringen.
Unsere Blicke trafen sich. Wut blitzte mir entgegen. Doch dann wandelte sich sein Gesicht genauso unvermittelt in ein Abbild der Verlegenheit. Abgestumpft wirkte das dann doch nicht. Er war bereits wieder in seine alte Sucht verfallen. Der Mann war einfach nur krank, sagte ich mir. Und auch, wenn diese Krankheit selbst verschuldet war, so sollte ich doch wenigstens Mitleid mit ihm empfinden. Ich musste mir eingestehen, dass mir das schwer fiel. Sehr schwer.
Beatrice blieb stehen, schaute sich nach uns um und sah den Flachmann in Ingos Hand. „Du trinkst?“ Der entsetzte Vorwurf wurde nicht vom Papier geschluckt. Ein Echo hallte durch die Regale, als ob sich die Bücher Ingos Versagen weitererzählen würden
„Ich hab’s mir eingeteilt. Es war nur, um die Nerven zu beruhigen. Ehrlich“, rechtfertigte sich Ingo. Verzweiflung lag in seiner Stimme. „Ich hab’s im Griff.“ Eine kühne Behauptung, angesichts der Tatsache, dass der Flachmann leer war. „Ich kann jederzeit aufhören.“ Ingo holte hastig aus und warf die Flasche so weit er konnte von sich. Scheppernd fiel sie irgendwo zwischen die Regale. „Siehst du! Es macht mir nichts aus.“
Beatrice Miene wirkte wie versteinert. Sie griff in ihre Tasche und zog die Kladde heraus und zückte den Bleistift.
„Bea“, rief Ingo flehentlich, „gib mir eine Chance!“
„Du hattest deine Chance“, stieß Beatrice hervor. Sie blätterte, suchte die Stelle mit dem Satz, den ich geschrieben hatte. Sie würde sich nicht damit aufhalten, den Satz zu tilgen. Sie würde ihn einfach durchstreichen, zukritzeln, für immer unkenntlich machen.
„Beatrice“, sagte ich ruhig, aber mit all meiner mir gebliebenen Autorität, „lassen Sie es. Es wäre falsch.“ Ich wusste nicht, ob ich mir dies selbst glauben wollte, doch Beatrice verharrte kurz und nickte dann. Dabei presste sie die Lippen so fest aufeinander, dass ihr Mund nur noch ein schmaler Strich zu sein schien.
„Wir sollten weitergehen“, beschloss sie schließlich. Die Kladde verschwand wieder in ihrer Tasche.
„Danke“, brachte Ingo mit einem Keuchen hervor.
„Ich glaube nicht“, sagte ich aus tiefstem Herzen, „dass Sie mir dafür danken sollten.“ Mit diesen Worten ließ ich ihn zunächst stehen, folgte Beatrice. Dann bemerkte ich, dass Ingo nicht hinterher kam. Er stand wie angewurzelt dort, wo wir ihn zurückgelassen hatten. Zitternd. Kraftlos. Hoffnungslos.
Also schluckte ich meine Missachtung runter. Sie würde niemandem helfen. „Kommen Sie.“ Ich gab meiner Stimme etwas Aufmunterndes. „Es ist nicht mehr weit. Wir haben es fast geschafft.“
Ingo straffte sich, hob den Kopf und schloss zu mir auf. „Danke“, sagte er nochmals. Dieses Mal legte ich meinen Arm um ihn. Nicht, dass ich ihn stützen konnte, aber die Geste zählte.
Und so schritten wir oberhalb der mit Büchern eingefassten Schluchten, getragen vom Holz und der Kultur der ganzen Welt. Unsere Gratwanderung wurde nur gelegentlich kurz gestoppt, wenn die Strecke der eigentlich endlos anmutenden Regale durch eine Wegesschlucht unterbrochen wurde. Doch ein großer Schritt von einem zum nächsten Regal reichte immer vollkommen aus. Zwischendurch warf ich den einen oder anderen Blick nach unten, orientierte mich an Schildern, die mir durch Nummern und Buchstaben unseren Standort verrieten.
„Gleich sind wir da“, sagte ich endlich, „wir sollten die nächste Leiter, die kommt, zum Abstieg nutzen.“ Nun standen wir im Westflügel, wieder mit festem Grund unter unseren Füßen. Vor uns das Regal 2012.
Mich erfasste ein gewisses Unwohlsein. Hier im Westflügel, so kam es mir vor, würde ich gleich meinem Schicksal begegnen. Mein Buch, mein Leben. Nicht einfach eine Biografie, sondern das, was tatsächlich geschehen ist, geschieht und … geschehen wird. Wenn ich wollte, dann konnte ich einen Blick in meine Zukunft werfen. Ich war mir nicht sicher, ob dies vernünftig wäre. Aber die Versuchung war groß.
Auch Ingo wirkte aufgeregt. Ich war mir nicht sicher, ob es daran lag, dass Beatrice sein Buch hier verstecken wollte, oder ob es einen anderen Grund hierfür gab. Aber es entging mir nicht, dass er den Radiergummi noch immer griffbereit hielt und ihn unstet zwischen den Fingern hin und her gleiten ließ.
„Ich sollte mir langsam überlegen, wie ich Ingos Buch weiterschreibe“, sagte Beatrice zu mir. „Es muss etwas sein, das nicht mehr umgeschrieben wird. Wenn wir es hier versteckt haben, werden wir wohl kaum wiederkommen, um es ständig nachzubessern.“ Während sie sprach, ignorierte sie ihren Mann vollkommen. Sein künftiger Werdegang stand für Beatrice anscheinend einzig in ihrer und in meiner Macht.
„Denken Sie nicht, dass mein letzter Eintrag reicht?“ Ich hatte es kaum ausgesprochen, da biss ich mir auf die Lippen. Ich Dummkopf!
Beatrice schnaubte verächtlich. Wo waren nur all die liebevollen Empfindungen hin, die sie ihrem Mann im Antiquariat entgegengebracht hatte? Das war nur ein paar Stunden her, doch es fühlte sich wie Jahre an. „Er hat nicht nur zu sich selbst gefunden“, sagte Beatrice. In jeder Silbe lag tiefstes Bedauern. Oder war es unterdrückter Hass? „Auch den Alkohol hat er ohne lange Suche gefunden. Es ist der Beweis, dass ich in seiner Geschichte nichts auslassen darf. Wenn ich ihn beschützen will, dann dürfen keine Freiräume bleiben.“
„Ich … ich … bin doch nicht dein Gefangener“, stammelte Ingo. Sein Gesicht war ein Abbild des Schreckens. Doch Beatrice ignorierte ihn gänzlich.
„Wie stellen Sie sich das vor?“ Ich versuchte es mit Logik. „Sie können ihm doch nicht sein gesamtes Leben hier unten vorschreiben, ohne zu wissen, was für Geschehnisse in der Zukunft auf Sie und Ihren Mann warten. Sie können weder den Urlaub in zwei Jahren planen noch die zu erwartenden Toilettenbesuche des nächsten Monats bereits eintragen. Ihnen bleiben gar nicht genug Seiten, um lückenlos sein Leben zu schreiben.“
„Ich muss … Irgendwie.“ Man konnte Beatrice ansehen, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wie sie dies anstellen wollte. Das letzte Wort war somit noch nicht gesprochen. Sie wandte sich dem Regal zu und begann mit der Suche nach meinem Buch.
„Warte“, rief Ingo in einem verzweifelten Anfall von Hilfsbereitschaft, „ich helfe dir.“ Da kämpfte jemand um seine Rehabilitation. Ich widerstand der Versuchung, resigniert mit dem Kopf zu schütteln.
Die Suche nach meinem Buch stellte sich als schwerer als angenommen heraus. Ich schätzte die Anzahl der Bücher in diesem Regal auf etwas mehr als fünfhundert Titel. Es waren allesamt Hardcover (wie beruhigend, dass mein Leben nicht eine billige Kladde oder ein Paperback war), die allerdings nicht auf dem Buchrücken beschriftet waren. Wir mussten jedes Buch einzeln herausziehen, die Überschrift auf dem Buchdeckel lesen, das Buch zurückschieben und dann das nächste nehmen. Mit unserer anfänglichen Suche aufs Geratewohl hatten wir wenig Aussicht auf Erfolg. Also begannen wir alsbald mit einer systematischen Methode. Jeder nahm sich eine Reihe vor und arbeitete sich von links nach rechts durch. Dies war überaus anstrengend, denn diese Schmöker waren ausgesprochen umfangreich. Viele hundert Seiten, gefasst in hölzernen Deckeln, die wiederum mit Leinen bespannt waren. Da kamen allerhand Kilogramm zusammen, die von uns bewegt wurden.
Schon bald musste ich mich ermattet am Fuße des gegenüberliegenden Regals niederlassen, während Beatrice und Ingo weitersuchten.
Beatrice glaubte, dass ich sie nicht hören konnte, als sie Ingo leise zuflüsterte: „Ich glaube, dass ich Herrn Plana wieder etwas vorlesen sollte.“ Mal wieder hatte ihre Stimmung gewechselt. Wie schön. Sie konnte mit Ingo sachlich reden.
Aber auch Ingo durchlebte gerade einen erstaunlichen Gemütswandel. Mir erschien es, als würde sich plötzlich eine andere Person in ihm regen, als er überaus aufmerksam fragte: „Was hat es mit dem Vorlesen auf sich?“
Beatrice schien die Veränderung nicht zu bemerken. „Ich weiß es nicht genau. Und das, was ich weiß, kann ich nicht richtig erklären.“
„Versuch es“, drängte Ingo.
„Nun … Weißt du … Bücher sind nicht nur praktische Beförderungsmittel für Geschichten. Sie nehmen etwas Leben vom Schriftsteller. Oder vielmehr gibt der Schriftsteller etwas von seinem Leben.“
„Er erfindet auch Leben. Erschafft es neu“, ergänzte Ingo. Erstaunt schaute Beatrice ihren Mann an. Für Ingo waren dies bestimmt ungewöhnliche Erkenntnisse.
„So in der Art, ja. Vielleicht trägt Herr Plana zu wenig eigenes Leben in sich. Auf irgendeine Weise lassen ihn aber die Bücher aufleben. Auch Kalliope hat so etwas angedeutet.“
Ingo legte den Kopf schief. „Kalliope?“
„Die Muse. Ich bin ihr begegnet.“ Es klang beinahe alltäglich, wie Beatrice es erwähnte. Als ob die antike Gestalt ihre alte Schulkameradin gewesen wäre. „Sie sagte, Plana trage zu wenig Eigenes in sich. Oder so ähnlich.“
Ingo nickte. „Verstehe.“ Nachdenklich nahm er die Suche wieder auf. „Du solltest ihm wirklich etwas vorlesen. Ich suche alleine weiter.“ Der Radiergummi wippte wie eine Zigarette zwischen Mittel- und Zeigefinger auf und ab.
„Ich habe was Gutes für Sie ausgesucht“, sagte Beatrice leise, fast liebevoll, als sie sich neben mich hockte. „Im Regal, an dem wir eben runtergeklettert sind, habe ich einen Sammelband von Thomas Mann gefunden.“
Überrascht zog ich eine Augenbraue hoch. „Hier? Bei der Fantastik?“
„Sämtliche Erzählungen, erster Band“, verlas sie. Dann ließ sie die Seiten willkürlich zwischen den Fingern hindurchgleiten, stoppte an einer zufälligen Stelle und begann irgendwo inmitten des Textes. Ich lauschte ein paar Zeilen, erkannte sie. „Der Tod? Wie motivierend. Manchmal frage ich mich, ob ich jeden Wink, den uns die Bücher geben, wirklich verstehen möchte.“
Besorgnis machte sich in Beas Zügen breit. „Soll ich was anderes lesen?“
„Nein, nein“, wiegelte ich ab, „es wäre eine Schande, nicht ein Stück hiervon zu lesen.“
„Nun ist der Herbst da, und der Sommer wird nicht zurückkehren …. “ So lauschte ich ein weiteres Mal Beas Worten, als sie mir die Geschichte von diesem Vater erzählte, der sich seinen eigenen Tod voraussagt und seine Prophezeiung für sich und seine Tochter selbst erfüllt. Obwohl ich nach der Geschichte einen Kloß im Hals verspürte, erwiesen sich meine Glieder und Muskeln als erstarkt und erfrischt. Ich raffte mich also auf, um die Suche nach meinem Lebensbuch fortzusetzen, da kam uns Ingo, der sich bis zum entferntesten Ende des Regals durchgearbeitet hatte, mit eiligen Schritten entgegen.
„Das solltet ihr euch ansehen!“ Der Klang seiner Stimme verhieß nichts Gutes.
„Hast du’s gefunden?“ Beatrice versuchte ein zuversichtliches Lächeln, das aber schon im Ansatz erstarb, als Ingo mit dem Kopf schüttelte.
„Das wird euch nicht gefallen“, erklärte er, „ich habe den Stellplatz gefunden.“
Ich zog verwirrt die Stirn kraus. „Den Stellplatz?“
„Die Stelle, wo Ihr Buch stehen sollte. Aber es ist nicht da.“
„Woher weißt du denn, wo es stehen sollte?“ Beatrice zweifelte gerade an der Zurechnungsfähigkeit ihres Mannes. Aber ich fragte mich, wie sehr der Inhalt eines Flachmanns die Urteilskraft eines geübten Trinkers beeinflussen konnte. Zumal Ingo nicht betrunken wirkte. Im Gegenteil: Er wirkte erstaunlich agil. Keine Spur seiner Sucht zeichnete ihn und sein Gemüt schien erregt und nicht so entrückt wie vor der Suche.
An Beatrice’ Gemütswandlungen hatte ich mich ja gewöhnt. Doch ich hätte nicht gedacht, dass auch Ingo seine Stimmungen und obendrein sein körperliches Befinden ähnlich rasch ändern konnte. Misstrauen keimte in mir.
„Das müsst ihr euch selbst ansehen“, sagte Ingo, fasste Beatrice bei der Hand und zog sie mit sich. Ich folgte. Am Ende des Regals angekommen, sahen wir, was Ingo meinte: Dicht an dicht, wie Zähne in einem Mund, standen die Bücher in der Reihe. Und einer Zahnlücke gleichend, fehlte ein Buch. Ein geisterhaftes Leuchten, wie fluoreszierender blauer Nebel, lauerte in dem Loch, gab die Umrisse eines Bandes wieder.
„Was ist das?“, fragte Beatrice.
„Keine …“, sagte Ingo.
„… Ahnung“, sagte ich.
Vorsichtig ließ ich meine Hand in die Lücke gleiten, tastete nach dem Dunst, der aber körperlos meinem Griff entfloh. Stattdessen spürte ich ein Stück Karton, das am angrenzenden Buch lehnte. Ich zog es hervor.
„Eine Postkarte“, entfuhr es Beatrice erstaunt.
„Ja“, sagte Ingo, „ich hab sie mir eben schon angeschaut. Lies, was drauf steht.“
Beatrice nahm mir die Karte aus der Hand. „Vorankündigung. Regalplatz Artikel 19081972. Lesen Sie die Abenteuer des tapferen Herrn Plana und seiner treuen Freunde. Tauchen Sie ein in das Buchland. ISBN-Nummer 9783862821860. Weitergehende Informationen erhalten Sie in der Buchbinderei.“
Eine schweigsame Minute schloss sich an.
Dann sagte Beatrice: „Was hat das …“ Sie brach den Satz ab.
„Keine …“ sagte Ingo.
„… Ahnung“, sagte ich.
„Herr Plana, ist Ihnen nicht gut? Sie sind auf einmal so blass?“ Ingo griff mir stützend unter die Arme.
Ich schüttelte ihn ab. „Nein, nein, mir geht es gut.“
Jedoch zeigte auch Beatrice ihre Besorgnis: „Soll ich Ihnen noch etwas vorlesen?“
„Verdammt! Nein“, entfuhr es mir. „Mir geht es gut.“
Ich dachte an meine Gedanken von neulich. Zuerst war ich der Strippenzieher. Dann kam ich mir vor wie eine Marionette. Und jetzt … musste ich feststellen, dass man mir die Fäden, nach denen ich tanzte, einfach durchtrennt hatte. Wir saßen hier in einer Sackgasse. Wir hatten weder mein Buch gefunden noch hatten wir Ingos Buch in Sicherheit gebracht. Unser Ziel geriet außer Sichtweite.
„Sollen wir die Kladde einfach hierlassen?“, fragte Beatrice.
„Nein“, riefen Ingo und ich gleichzeitig. Ich wusste, warum ich nichts davon hielt: Tod hatte vielleicht hier schon nach meinem Buch gesucht und es genausowenig gefunden wie wir. Aber hier war ein Ort, an dem er es finden könnte. Und Ingos Buch würde er hier somit auch finden. Mir war dies klar. Mir. Aber Ingo? Warum wollte er sein Buch nicht hierlassen?
Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, doch er blieb eine Erklärung schuldig.
Stattdessen fragte er nur knapp: „Was machen wir jetzt?“
„Sollen wir denn nicht lieber zu dem Buchbinder gehen?“ Beatrice griff nach dem letzten Strohhalm. „Er hat doch angeblich Informationen.“
Ich seufzte aus tiefster Brust. „Wissen Sie, wo wir ihn finden können?“
„Wissen Sie es denn nicht? Sie sind doch schließlich der Auktoral.“
„Ich wünschte …“ Wie sollte ich das jetzt formulieren? „Ich wünschte, ich könnte mehr sagen. Eine Buchbinderei ist mir hier unten noch nicht begegnet.“
„Wo kommen die ganzen Bücher denn her?“ Ingo nahm die Karte an sich, betrachtete sie nochmals kurz und schob sie dann zurück an ihren angestammten Platz.
„Eine gute Frage“, stellte ich fest. Dabei bemühte ich mich besonders wissend und souverän zu wirken. Insgeheim hoffte ich darauf, dass mir meine Freunde eine brauchbare Antwort zuflüstern würden. Vielleicht lag es an ihrem speziellen Sinn für Humor, dass sie schwiegen. Nun gut, dann galt es, zu improvisieren. Mit einem „Gehen wir“, überging ich Ingo und setzte eine neue Marschroute fest: zurück zum Antiquariat.
Wir liefen dieses Mal nicht über die Regaldächer. Der Boden erschien mir im Augenblick reizvoller. Die Minuten verstrichen und wir passierten all die literarischen Schätze. Und während ich noch grübelte, welche Optionen uns denn nun blieben, gab das Buchland ganz von selbst ein weiteres seiner mir noch unbekannten Geheimnisse preis. Als wir den Wegweiser wieder erreichten, wäre ich um ein Haar an ihm vorbei gegangen, ohne ihn besonders zu beachten. Doch Beatrice griff nach meiner Schulter und deutete auf die kleinen Schilder, die im Zwielicht glänzten. Auf wundersame Weise hatten sich einige der Buchstaben gewandelt.
Zwar wiesen die Pfeile „Zurück“ und „Norden“ noch in ihre angestammten Richtungen. Doch die Angabe „Weiter“ zeigte nicht mehr die Richtung zum Regal 2012. Dort prangte nun nur ein einzelnes Satzzeichen. „?“. Ebenso war Beatrice’ Name verschwunden. Der entsprechende Pfeil verriet uns stattdessen, in welcher Richtung der Buchbinder zu finden war.
Ich hob dankbar die Arme. „Wer hätte gedacht, dass es so einfach sein würde?“
Ein leises Murren richtete meine Aufmerksamkeit auf Ingo.
„Wie bitte?“
Ingo wiederholte seine Worte: „Schade, dass auf dem Schild nicht steht, wo es zum nächsten Restaurant geht.“
Perplex fragte ich: „Hunger?“
Bevor Ingo antworten konnte redete Beatrice dazwischen: „Durst!“
Schuldbewusst ließ Ingo den Kopf zwischen die Schultern sacken. „Eigentlich wäre eine Toilette nicht schlecht. Und … und gegen was zu Essen hätte ich tatsächlich nichts.“
„Du musst pinkeln?“ Für Beatrice schien dieser Sachbestand abstrus zu sein. Andererseits waren wir nun seit einiger Zeit unterwegs. „Wir stecken inmitten eines großen Abenteuers und du musst pinkeln?“
„So profane Angelegenheiten kommen in den besten Geschichten vor“, schmunzelte ich amüsiert. „Das ist menschlich. Ich glaube, dass selbst Romeo und seine Julia hin und wieder austreten mussten.“
Peinlich berührt, versuchte Ingo das Thema zu wechseln. „Gehen wir jetzt zum Buchbinder?“
„Die Gelegenheit könnte nicht besser sein“, sagte ich.
Kaum hatte ich zu Ende gesprochen, da schoben sich die Regale weit auseinander. Knirschend und ächzend bewegten sie sich über die Steinplatten des Bodens, richteten sich neu aus, wie Soldaten, die in Reih’ und Glied ihrem großen Heerführer Spalier stehen. Der Gang, der sich uns nun breit und einladend auftat, führte etwa zweihundert Meter weit. An dessen Ende öffnete er sich in einer Lichtung, auf dessen Mitte eine kleine Holzhütte stand.
Als wir sie erreichten, spähte Ingo durch das einzige kleine Fenster. „Anscheinend ist niemand zu Hause“, stellte er fest. „Es brennt kein Licht. Da drinnen ist es finster wie in der Nacht.“
Beatrice reichte diese Aussage nicht. Sie trat auf die kleine Veranda vor der Tür und klopfte an. Wider meiner Erwartung erklang prompt die Antwort aus dem Inneren der Hütte: „Herein.“
Wir betraten einen Raum, in dem man die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Die Dunkelheit hatte eine fast greifbare Konsistenz. Sie ließ sich nicht allein durch die Abwesenheit von Licht erklären.
„Ich bekomme selten Besuch hier. Schön, dass ihr zu mir gefunden habt.“ Eine Stimme, rauh, ausgefranst und brüchig wie alter Papyrus sprach zu uns. „Neben der Tür müssten Schwefelchen und eine Kerze sein. Falls ihr etwas Licht machen möchtet, dürft ihr euch gerne bedienen. Auf dem Herd steht eine Suppe und hinter dem Haus – he he he – findet ihr bei Bedarf die Gelegenheit, euch Erleichterung zu verschaffen.“
Zischend entzündete sich neben mir ein Streichholz. Beatrice hielt es an den Docht der Kerze, die auf einem Tischchen neben der Tür bereitstand. Die uns umgebende Schwärze floh zum Fenster hinaus …
… und wir erblickten die Werkstatt des Buchmachers. Am Kopfende des kleinen Raums war eine riesige hölzerne Werkbank. Darauf lagen alle möglichen Buchbinderutensilien: Bucheckenzangen, Zwingen, Hohlnietschlagsätze, Poliersteine, eine Ahle, einige Falzbeine in verschiedenen Größen, biegsame Maßstäbe aus Metall, unzählige Messer in verschiedensten Formen und Größen, Winkel und Schienen, lange Nadeln, die dazugehörigen Fäden, Pinsel und drei Leimtöpfe. Auf einem Regalbrett darüber lag ein Stapel Papier, der so hoch aufgestapelt war, dass er leicht zu schwanken schien.
Auf dem Boden neben der Werkbank stand ein zwei mal zwei Meter großer Kleintierkäfig. Hinter dem Gitter wuselten zwei fette, graue Leseratten herum.
… und wir erblickten den Buchmacher. Ein schmächtiger Mann mit Brille, vielleicht um die vierzig, der so gar nicht zu der Stimme passte, die wir eben vernommen hatten. Mit seiner schlichten Bekleidung, der hohen Stirn und den kurzgeschorenen Haaren, wirkte er nicht wie ein Darsteller des Buchlandes. Dieser Typ hätte uns vermutlich oben im Laden als Kunde begegnen können. Hier unten wirkte er deplatziert, wie aus einer anderen Welt.
Auf den zweiten Blick erkannte ich eine Besonderheit an ihm: Die Augen hinter seiner Brille waren geschlossen. Die vorgestreckten Hände und sein leicht schräg geneigter Kopf ließen erahnen, dass er mit den Ohren und den Fingern „sah“. Er war blind.
Der Buchbinder saß hinter der Werkbank, reckte uns sein Gesicht entgegen und lächelte in einer undefinierten Glückseligkeit. „Fühlt euch ganz wie zu Hause.“ Seine Stimme klang nun viel jünger, als habe sie entschieden, sich dem Äußeren des Mannes anzugleichen.
Seine Hände ertasteten ein Buch, das vor ihm auf der Arbeitsfläche lag. Ich schob mich ein Stück vor um die Buchstaben auf dem Ledereinband zu entziffern. ‚William Paley – Natural Theology‘. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich laut vorlas. Vielleicht hatte ich es auch gar nicht. Doch der Buchbinder antwortete trotzdem: „Aus Sicht des Autoren enthält dieses Buch eine schlüssige Beweisführung, dass die Welt und die Geschöpfe auf ihr von Gott erdachte Wesen sind. Paley erschuf sich seine eigene kleine Wahrheit. Tausende seiner Leser folgten seinen Überzeugungen. Einige tun es heute noch.
Es ist eine interessante Lektüre, auch wenn sie von der Wissenschaft längst widerlegt ist, denn sie ist Teil einer wundervollen Analogie zum Konflikt zwischen Theologie, Philosophie und Wissenschaft.“ Der Buchbinder schob das Buch zur Seite. „Aber das tut jetzt und hier kaum was zur Sache. Denke ich. Was darf ich für euch tun?“
„Ich suche mein Buch“, brachte ich heiser hervor. „Im Regal haben wir nur eine Vorankündigung gefunden.“
„Wie wird das Buch heißen?“
„Ich … nehme an, dass es „Plana“ heißen wird“, sagte ich.
„Ein solches Buch ist mir nicht bekannt.“ Der Buchbinder lächelte schelmisch.
„Vielleicht gehört noch der Vorname mit zum Titel“, schlug Beatrice vor, „wie ist Ihr Vorname, Herr Plana?“
Ich holte kurz Luft, öffnete den Mund um zu antworten und schloss ihn dann wieder. Verstört musste ich feststellen, dass ich meinen Vornamen nicht wusste. Ein Gefühl der Panik schnürte mir die Kehle zu.
Bevor ich meine Unwissenheit verlegen eingestehen musste, hob der Buchbinder seine Hände. „Der Vorname wird uns auch nicht weiterhelfen. Aber allem Anschein nach, habt ihr im PLA-Regal gesucht. Dort fehlt nur noch ein Buch.“
„Welches?“, fragte Ingo. „Welchen Titel hat es?“
Der Buchbinder verbreiterte sein Lächeln um einige Zentimeter. Eine Antwort auf die Frage blieb aus. „Das Buch ist noch nicht fertig“, sagte er nur knapp.
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Das Manuskript muss noch in die rechte Form gebracht werden.“
„Aber ich bin doch da.“ Beinahe hatte ich Angst, dass ich mich aufgrund dieser abstrusen Situation plötzlich in nichts auflösen konnte. „Ich muss ein Buch haben, in dem meine Geschichte …“
Der Buchmacher unterbrach mich mit ruhiger, fester Stimme. „Manche Geschichten schreiben sich fast von selbst. Sie sind allgegenwärtig. Die Gefühle sind da. Doch es fehlen noch die Worte. Erst die Worte geben dem Gedanken ihr Gewicht.“
„Das verstehe ich nicht. Ich bin doch da“, sagte ich noch einmal. Wie verzweifelt durfte ich noch werden, ohne, dass meine Begleiter die Achtung vor mir verloren?
„Tja … Es gibt eine Ausgabe. Aber nicht hier. Nicht in dem Regal an dem es VIELLEICHT mal stehen wird.“
Wenn ich recht darüber nachdachte, dann war das ein ziemlich eindeutiger Hinweis.
„Die Kammer der ungeschriebenen Bücher?“, fragte ich.
Der Buchbinder nickte, sprach aber nicht weiter. Er wartete auf meine Reaktion.
Als ich mir sicher sein konnte, dass ich meine Stimme in ausreichendem Maße beherrschen konnte, sagte ich: „Mein Leben käme einer Prophezeiung gleich.“
„Im Bereich der Fantasy-Literatur ist eine Prophezeiung eigentlich nichts Ungewöhnliches“, schmunzelte der Buchbinder. „Aber so würde ich es nicht nennen. Karma, das trifft es schon eher. Alle vorausgegangenen Ereignisse führten unweigerlich zu dem, was du bist und sein wirst.“
„Meine Entscheidungen sind vom Schicksal schon vorherbestimmt? Ich habe keinen freien Willen?“
„Der Mensch kann tun, was er will. Aber er kann nicht wollen, was er will“, erklärte der Buchbinder.
„Das stammt von Albert Einstein“, kommentierte Beatrice.
„Arthur Schopenhauer“, korrigierte ich automatisch.
„Es ist nicht wichtig, wer die Worte verfasst hat. Es ist wichtig, was die Worte mitteilen“, sagte der Buchbinder. Seine überhebliche, arrogante Art erinnerte mich irgendwie an mich selbst. … Ich stellte fest, dass ich ihn nicht leiden konnte.
Angewidert schürzte ich die Lippen. „Was sie uns mitteilen, gefällt mir nicht.“
Der Buchbinder lachte herzlich. „Wer hat behauptet, dass die Wahrheit gefällig sei?“ Dann drehte er lauschend den Kopf in Richtung Tür. Ingo war im Begriff, sich aus dem Raum zu schleichen. „Händewaschen nicht vergessen“, merkte der Buchbinder leise an.
Beatrice inspizierte inzwischen misstrauisch den Käfig mit den Ratten. Ich konnte ihr ansehen, dass sie diese Tiere verabscheute. Zu gut war ihr wohl noch in Erinnerung, was sie mit ihrem Buch gemacht hatten.
„Possierliche kleine Nager“, sagte der Buchbinder. Er stand auf und ging zu Beatrice. Dabei bewies er eine Gewandtheit, als könne er alles in diesem Raume sehen. „Außerdem sind sie besser als jeder Abfalleimer.“ Um seine Aussage zu belegen, griff er hinter sich und nahm eine lose Buchseite von der Werkbank, faltete sie zwei mal und steckte sie dann durch die Gitterstäbe in den Käfig. Das Geräusch, das nun folgte, erinnerte an einen Papierschredder. Allerdings musste es ein Papierschredder sein, der laut schmatzte. Kein Schnipsel blieb übrig.
Beatrice beobachtete, wie der Buchbinder zurück an seinen Platz ging und mit der Arbeit an einem Buchumschlag begann.
„Wie können Sie als Buchbinder arbeiten, wenn Sie nicht sehen, was Sie tun?“, entfuhr es Beatrice verblüfft.
„Ich muss hier nichts sehen können. Meine Wirklichkeit ist hier drin.“ Der Buchbinder deutete auf seine Stirn. „Die Phantasie kann alles zeichnen, was man nicht zu sehen vermag.“
Wie um dies zu belegen, nahm er den Stapel Papier von dem Brett über sich, balancierte ihn geschickt herunter. Das oberste Blatt wurde von einem Lufthauch erfasst und schwebte um ein Haar davon. Doch der Buchbinder fing es auf. „Auch wenn nicht alles immer läuft, wie ich es möchte, so weiß ich doch immer, was geschieht.“
Ich verdrehte genervt die Augen. Beatrice nahm dies zum Anlass den Buchbinder zu testen. „Alles, was geschieht?“
Der Buchbinder schnalzte mit der Zunge. Es klang herausfordernd.
Beatrice fragte: „Weshalb suchen wir nach Herrn Planas Buch?“
„Oh, ich weiß das. Wisst ihr es auch?“ Er spannte den Stapel routiniert in eine Presse ein und drehte mit kräftigen Handbewegungen die Zwingen zusammen. „Nun, ich will es euch sagen: Ihr fürchtet den Tod. Und ihr habt die Hoffnung, ihn austricksen zu können. … Ich kann euch versichern, dass haben schon ganz andere versucht. Man kann ihm nicht entgehen. Er ist euch näher, als ihr denkt.“
Beatrice wirkte erschrocken. „Wie können Sie das wissen?“
„Er ist ein alter Bekannter. Der Tod geht in meinem Hause ein und aus. Kaum ein Buch, das nicht ein Stück von ihm in sich trägt. Ich verpacke ihn immer wieder zwischen Buchdeckel.
Aber er ist nicht zu fürchten. Hier nicht. Wisst ihr … Autoren und ihre Figuren leben in ihren Werken fort. Dieses kleine Stückchen Unsterblichkeit nimmt die Angst vor dem Sterben. Ihr beiden solltet also wirklich nicht den Tod fürchten. Tod ist kein Arschloch. Im Gegenteil: Wenn man ihn recht zu nehmen weiß, kann er ein echter Kumpel sein.“
Unsere Meinungen gingen da auseinander. Aber das behielt ich für mich. Stattdessen beschloss ich, nur noch auf Ingos Rückkehr zu warten, um dann zum Aufbruch zu blasen. Die Kammer der ungeschriebenen Bücher erwartete uns.
Beatrice hatte offensichtlich ähnliche Überlegungen angestellt. Sie zog mich ein paar Schritte fort von unserem Gastgeber.
„Warum wollten die Bücher, dass wir zuerst hier suchen? Sie haben uns doch hierher geleitet. Wir hätten direkt mit dem Fahrstuhl hinauf in den Turm fahren können. Wir verplempern hier unsere Zeit.“
„Vielleicht wollten sie, dass Sie erst das Buch der letzten Wahrheit sehen. Oder sie wollten, dass wir wissen, wo mein Buch mal stehen wird. Unter Umständen ist es wichtig, dass wir den künftigen Platz kennen.“
Bea fragte: „Warum das alles? Warum sagt das Buchland nicht einfach, was es will?“
„Wer das Leben schreiben will, muss zuvor das Leben und das Schreiben kennen“, mischte sich der Buchbinder in das Gespräch ein. Seine guten Ohren entsprachen ganz dem Klischee eines Blinden. „Beatrice, Ihre Aufgabe wird es sein, zu schreiben. Es ist wichtig, dass Sie wissen worüber Sie schreiben möchten.“
„Was hat das damit zu tun?“, schnappte Beatrice. Jetzt konnte ich mir sicher sein, dass sie diesen arroganten Kerl auch nicht leiden mochte.
Meine Bea!
„Mehr als ihr ahnt“, flüsterte der Buchbinder.
„Ich frage mich …“, begann ich.
„… woher ich das alles weiß?“ Der Buchbinder rührte verträumt im Leimtopf. „Wie soll ich das erklären? Vielleicht so: Ein Auktoral weiß alles, was ihm die Bücher mitteilen möchten. Die Bücher wissen alles, was ihnen der Buchbinder zusammenleimt. Ich bin also gewissermaßen eine übergeordnete Instanz.“
In einer ruhigen Minute hatte ich dringend ein Gespräch mit meinen Freunden zu führen.
„Ja“, fügte der Buchbinder seinen Ausführungen oder meinen Gedanken hinzu.
„Bevor ihr geht, schlage ich vor, dass ihr meine Gastfreundschaft noch ein wenig in Anspruch nehmt. Ihr habt bestimmt Hunger. Was haltet ihr von einer kleinen Mahlzeit? Ein kleines Lagerfeuer vor der Tür, Kartoffeln, etwas Speck: Hört sich das für euch verlockend an? Ich würde mich gerne noch mit euch unterhalten und etwas Lesestoff für eine gemütliche Runde ist auch da. Ich lese gerne vor.“ Der letzte Satz des Buchbinders galt mir. Dabei ließ er wissend die linke Augenbraue zucken, als würde er mir zuzwinkern.
Es gab keinen Zweifel, dass mir eine Lesepause gut tun würde. Außerdem knurrte Beatrice’ Magen lautstark bei der Erwähnung von Kartoffeln und Speck. Vielleicht sollten wir wirklich eine halbe Stunde für eine Rast opfern.
Schon bald saßen wir draußen vor der Tür. Umgeben von Bücherregalen, die im Halbdunkel des flackernden Feuerscheins wie ein alter Wald ihre tanzenden Schatten warfen, hielten wir Stöcke über ein prasselndes Lagerfeuer. Hinter uns lag die Holzhütte, über uns nur Schwärze. Man hätte annehmen können, dass wir irgendwo in der freien Wildnis von Narnia unsere Reise unterbrochen hätten.
An den Stöcken hatten wir unser Essen aufgespießt. Der Duft des Fleisches ließ uns das Wasser im Munde zusammenlaufen. Die Gemütlichkeit wurde für mich nur durch eine Tatsache getrübt: Der Buchbinder hatte offensichtlich kein Brennholz vor seiner Hütte. Das Feuer nährte sich von alten Buchdeckeln, ausgefranstem Leinen und vergilbtem Papier. Das waren die Teile von restaurierten Büchern. Um genau zu sein, waren es deren Abfälle.
Beatrice, die zwischen mir und dem Buchbinder saß, bewies, dass sie ähnliche Gefühle verspürte wie ich. Sie flüsterte: „Es ist nicht richtig, Bücher zu verbrennen.“
„Magst du rohe Kartoffeln?“, fragte der Buchbinder.
„Nein … aber ich komme mir vor wie ein Nazi.“
Der Buchbinder verzog das Gesicht. „Nicht nur die Nazis haben Schriften verbrannt. Es ist zu allen Zeiten in unzähligen Nationen geschehen. Zum Beispiel in China, Libyen oder im alten Rom. Christen, Juden und Muslime – sie alle haben gezündelt. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Als ob Gedankengut flammabel wäre! Den verfassten Worten hat es selten geschadet. Manchmal steigerte es sogar ihren Wert. Sie wurden kostbar, für diejenigen, die sie suchten. Wie der Wind den Rauch forttrug, so haben sich die Gedanken vom Papier gelöst und von freien Geistern in alle Welt verbreiten lassen.“
Beatrice zog den Stock zu sich heran. Die Kartoffel dampfte verführerisch. „Trotzdem fühlt es sich nicht richtig an.“
Der Buchbinder nickte. „Natürlich. Ich verstehe, was du meinst. Sei versichert, dass das Feuer keine richtigen Bücher verschlingt. Es sind nur Einzelteile, die ich an Büchern ersetzt habe. Es entsteht wirklich kein Schaden.“
Das schien Beatrice zu genügen. Sie biss in die Kartoffel. Und auch mir war für den Augenblick mein Magen näher als mein Kopf.
Wir aßen schweigend und als der Buchbinder seinen letzten Bissen heruntergeschluckt hatte, griff er hinter sich und holte ein Buch hervor. Ohne Umschweife begann er damit, ein paar Seiten vorzutragen. Ich erkannte schon nach den ersten Sätzen, dass er uns aus einem Umberto Eco vorlas. ‚Der Name der Rose‘.
Beatrice und ich lehnten uns zurück, lauschten der Stimme des Blinden; lauschten der Geschichte von den Mönchen, der Bibliothek, den Gründen, warum jemand wegen eines Buches bereit war, Morde zu begehen und warum jemand bereit war, wegen eines Buches zu sterben …
Das gemütliche Feuer und der gesättigte Magen taten ihre Wirkung und schon legte sich eine bleierne Müdigkeit über uns, deckte uns zu, lullte uns ein. Meine letzten Gedanken richteten sich ganz auf die Erzählung.
Wäre ich nicht plötzlich so benommen gewesen, hätte es mich bestimmt gewundert, dass ein Mann ohne Augenlicht lesen konnte.