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Vom Gewicht der Worte

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Die Bücher um mich herum, die sich unter einem staubigen Mantel zu verbergen suchten, schienen leise zu wispern. Sie erzählten sich ihre Geschichten, während sie darauf warteten, einen unschuldigen Leser zu finden, in den sie ihre Saat pflanzen konnten.

Sie offenbarten Welten, die für kommende Generationen eingefangen und ihnen zwischen die Seiten gepresst worden waren. Sie verschenkten gerne die Gedanken, die bedeutungsschwer mit Tinte aus der Feder geflossen waren.

Ich selbst saß an meinem Sekretär, hatte einen großen Folianten aufgeschlagen und folgte den handgeschriebenen Zeilen mit meinem Zeigefinger. Der weiße Stoff des Handschuhs trennte meine Haut von dem Pergament.

Buchstaben, Worte, Zeilen. Sie entführten mich in eine andere Zeit, lange vergangen.

Die Türglocke läutete und nur widerwillig riss ich mich von meiner kostbaren Lektüre los. Ich griff nach meinem Stock und mühte mich nach vorne in den Verkaufsraum. Die Sonne strahlte hell durch das Schaufenster herein und im Gegenlicht konnte ich nur die Silhouette der Frau erkennen, die nun vor dem Tresen stand. Hochgewachsen und nicht zu dünn. Recht attraktiv für eine Frau mittleren Alters.

Mein Blick streifte kurz das Zifferblatt der Wanduhr. Genau neun Uhr.

„Guten Morgen, Frau Liber. Schön, Sie kennenzulernen.“

Ich reichte ihr meine Hand zum Gruß, während sie noch ein wenig erstaunt dreinblickte. Bevor sie fragen konnte, sagte ich vergnügt: „Pünktlich auf die Minute. Das zeugt von Verlässlichkeit. Das ist doch schon mal vielversprechend.“

Mit einem Lächeln legte sie ihre Verwunderung ab. Es war, als würde die Sonne gleich noch einmal so hell den Raum erfüllen. „Dann müssen Sie Herr Plana sein.“ Und als ich ihr abwartend keine Antwort gab, fügte sie unsicher ein „Guten Tag“ hinzu.

Der Weg bis zur Ladentür war zehn schmerzhafte Schritte entfernt. Als ich sie erreichte, drehte ich das kleine Schildchen, das in der Scheibe baumelte um. „Geschlossen.“

„Ich denke, dass wir uns in Ruhe unterhalten sollten.“

Danach führte ich sie in das Arbeitszimmer. Ich brauchte ihr nicht ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, dass sie mit Erstaunen und Bewunderung die vollen Regale betrachtete. Die Buchrücken verhießen für jeden Bibliophilen die Erfüllung aller Wünsche.

„Bitte“, ich deutete auf den Ohrensessel in der Ecke des Raumes, der von einer antiken Leselampe überragt wurde, „nehmen Sie doch Platz.“ Ich selbst setzte mich auf meinen Bürostuhl am Sekretär. Gut fünf Meter trennten uns. Das empfand ich als durchaus angenehm.

„Eine beeindruckende Sammlung“, stellte sie fest.

Ich nickte. „Das sind nur die gängigsten Werke. Ein Buchgeschäft sollte verschiedene Titel griffbereit haben. Der Weg in den Keller ist mir“, ich deutete auf meine Gehhilfe, „auf Dauer zu mühsam.“

„Im Keller sind noch mehr Bücher?“

„Natürlich“, sagte ich. Ich musste feststellen, dass es mir Vergnügen bereitete, ein wenig anzugeben. „Hier oben ist nur ein kleiner Teil der antiquarischen Titel. Die Spitze des Eisbergs, wenn Sie so wollen.“

Ich schlug den Folianten vorsichtig zu.

Sie reckte den Hals, um die Schrift auf dem Leder zu entziffern.

„Nur etwas lateinische Belletristik“, merkte ich an und erlaubte mir dabei, etwas die Mundwinkel anzuheben. „Eine lausige Übersetzung und Interpretation aus dem Griechischen. Sie hat mit dem Ursprungstext nur noch wenig gemein. Aber es ist bis zu einem gewissen Grade unterhaltsam. Wenn Platon gewusst hätte, was man mit seiner Idee alles machen würde, hätte er vermutlich darauf verzichtet, den Mythos zu verfassen.“

Im obersten Fach des Sekretärs lag eine aufgeschlagene Programmzeitschrift. Ich nahm sie und deutete auf einen kleinen Eintrag. „Stargate – Atlantis“, sagte ich verächtlich schnaubend und pfefferte dann das Heft in den Papierkorb. „Fernsehen ist wie Opium. Es hält vom Denken ab.“

Ich wandte mich ihr wieder zu. „Aber zurück zu Ihnen. Haben Sie Ihre Bewerbungsunterlagen dabei?“

Sie griff in ihre Handtasche. Es war ein schlichtes schwarzes Modell und passte durchaus zu ihr. „Graue Maus“, flüsterte es leise in mir.

Sie zitterte leicht, wie mir schien, als sie einen Umschlag hervorholte. Im Din-A4-Format, Altpapier, mit der Schreibmaschine beschriftet. Bevor sie aufstehen konnte, um mir ihre darin steckende Bewerbungsmappe zu reichen, sagte ich: „Legen Sie sie auf den Teewagen. Ich werde sie mir vielleicht später ansehen.“

Ja, es war gemein, dass ich ihr das Wort „vielleicht“ unterschob. Aber ich hatte mir vorgenommen, ihr das Spiel nicht zu leicht zu machen.

„Und dann“, sagte ich, „nehmen Sie doch bitte das Buch mit dem braunen Einband aus dem Regal. In der untersten Reihe, das dritte von links.“ Sie tat wie ihr geheißen und machte Anstalten, es mir zu bringen. Ich hob die Hand. „Aber nein, ich bitte Sie. Ich kenne das Buch bereits. Kennen Sie es auch?“

Sie las den Einband. „Die 1,000,000 Pfundnote und andere humoristische Erzählungen und Skizzen von Mark Twain.“ Ihre Stimme klang erstaunt. „Mark Twain habe ich noch nicht gelesen“, gab sie zu. Ich konnte ihr ansehen, dass sie befürchtete, sie hätte nun schlechte Karten für eine Anstellung in meinem Hause.

„Eine fatale Lücke“, stellte ich fest, „die Sie unbedingt schließen müssen.“ Mein Tadel war ehrlich und aufrichtig, aber vielleicht etwas zu heftig hervorgebracht. Sie zog den Kopf ein und ein Hauch von Mitleid erfasste mich. Wie verzweifelt mochte sie sein, dass sie unbedingt eine Anstellung in meinem staubigen Antiquariat brauchte?

Ich senkte also meinen Tonfall wieder und bat sie, mir ein paar Seiten aus dem Buch vorzulesen.

„Ich soll Ihnen vorlesen?“

„Ja, natürlich. Sie wollen doch diese Stelle, oder?“ Ich schmunzelte. „Um hier verkaufen zu dürfen, brauchen Sie eine besondere Eigenschaft: Sie müssen die Seele der Bücher erkennen.“

„Die Seele der Bücher?“

„Ja! Sie müssen das Gewicht jedes Wortes spüren, die Gedanken des Autors fühlen, die Welt der Protagonisten erfahren, hineinschlüpfen zwischen die Seiten und die Druckerschwärze schmecken können.“ Mit einem tiefen Atemzug sog ich Luft ein. „Erwecken Sie das Papier in Ihrer Hand mit Ihrer Stimme zum Leben und geben sie ihm dadurch Bedeutung.

… Lesen Sie!“

Sie las die ersten acht Zeilen recht zögerlich und leise. Immer wieder stockte sie im Text und blickte mich unsicher an.

„Frau Liber, glauben Sie“, unterbrach ich sie schließlich, „dass Mark Twain ein besonders unerfahrener und geistig kraftloser Mann war? Oder glauben Sie, dass Mister Adams, der Hauptdarsteller dieser Geschichte, mit seinen 27 Jahren etwas besonders Langweiliges zu berichten hat?“

Mit einem Räuspern begann sie den Text von Neuem. Mit nun lauter Stimme fand sie sich in der Welt Londons wieder und nahm mich mit in dieses kostbar eingerichtete Zimmer, in welchem zwei ältliche Herren saßen.

Ich schloss meine Augen, konzentrierte mich auf die Silben, die mir im Raume entgegenschwebten und ließ die Zeit verstreichen.

Nachdem sie die letzte Zeile vorgelesen hatte, sagte ich den Satz, den ich eigentlich schon zu Beginn des Bewerbungsgesprächs hätte sagen können. „Sie sind eingestellt.“ Mit einem leisen Stöhnen erhob ich mich, durchschritt den Raum und reichte ihr höflich meine Hand. „Darf ich Sie der Einfachheit halber beim Vornamen nennen?“

„Beatrice“, sagte sie. Tausend Fragen schienen ihr ins Gesicht geschrieben. Die vordergründigste war wohl die nach meinem Vornamen. Doch diese Antwort sowie die Antwort auf die restlichen 999 Fragen blieb ich ihr schuldig. Stattdessen sagte ich: „Gut, Beatrice. Morgen kommen Sie um die gleiche Zeit wieder her. Frühstücken Sie gut, denn es gibt viel für Sie zu tun.“

Ich führte sie zur Tür. Beim Hinausgehen fiel ihr Blick auf den kleinen Bilderrahmen neben dem Lichtschalter. „Ist das …“, setzte sie an, „ich meine …“

„Natürlich ist sie das“, sagte ich und schob Bea sanft aber bestimmt hinaus auf die Straße.

„Ein vielversprechender Anfang“, sagte ich zu mir. „So fangen Romane an.“ Dabei beugte ich mich zu dem Bilderrahmen hinunter und betrachtete mit großem Amüsement den großen Geldschein, der hinter der Glasscheibe ruhte.

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