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Bücher mit sieben Siegeln

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Die Nacht hatte ihre schwarze Decke über der Stadt ausgebreitet und der kühle Herbstwind rüttelte an den Fensterläden, als wolle er mit aller Kraft in mein kleines Wohnzimmer eindringen. Doch ich hörte ihn kaum. Das Raunen und Wispern umgab mich wieder. Intensiv und mit aller Beharrlichkeit machten die leisen Stimmen ihre Vorschläge. Doch auch ihnen schenkte ich kaum Beachtung.

Beatrice war längst wieder nach Hause gegangen. Vermutlich saß sie gerade vor dem Fernseher. Ihr Mann Ingo saß vielleicht neben ihr auf dem Sofa, verzweifelt bemüht, seinen Trost auf dem Boden einer Flasche zu finden. Sein Egoismus erzürnte mich. Versunken in seinem Selbstmitleid, machte er Beatrice nur noch mehr Kummer. Statt einander aufzurichten, riss er beide sehenden Auges in den Abgrund. „Das hat meine Bea nicht verdient“, flüsterte ich.

Plötzlich umfing mich Schweigen.

Und auch ich war darüber überrascht, dass ich sie als „meine“ Bea bezeichnet hatte. Ich erforschte meine Gedanken. Ja, es war meine Bea. Ich mochte ihre Art. Sie konnte ebenso resolut wie zerbrechlich sein. Sie hatte verdammt nochmal verdient, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

„Sie wird ihr Buch schreiben. Das verspreche ich euch. Nicht nur für die Turmkammer und nicht nur für das Buchland. Sie wird um ihr Leben schreiben.“

Der Anfang war ja bereits gemacht. Jetzt ging es darum, den nächsten Schritt zu tun. „Ich werde morgen eure Hilfe brauchen. Es ist an der Zeit, dass ich Beatrice die mächtigen Winkel eures Reiches zeige. Wenn ihr wirklich möchtet, dass sie für euch schreibt, dann solltet ihr alles in eurer Macht stehende tun, um sie dort zu schützen.“

Unsere Reise würde nicht ungefährlich werden.

Doch der nächste Morgen begann zunächst einmal ganz alltäglich. Kaum hatte Beatrice die Ladentür geöffnet, strömten schon die ersten Kunden hinein. Es war beachtlich, wie viele Leute auf einmal den Weg in mein Geschäft suchten. Das lag zum Teil daran, dass die geänderte Schaufensterdekoration durchaus seine Wirkung tat. Aber ich spürte, dass auch die Bücher unter den geänderten Umständen erstarkt waren. Sie entfalteten ihre Magie von Tag zu Tag mehr. Ich hatte sie zur Schlacht gerufen und sie rüsteten auf.

Vor allem machte sich das bei den Kunden bemerkbar, die schon ein Buch in den letzten Tagen in meinem Geschäft gekauft hatten. Herr Mermann brachte es mit wenigen euphorischen Sätzen auf den Punkt: „Herr Plana, ich bin erstaunt. Ich habe mir vorvorgestern zwei Vernes bei Ihnen zugelegt. Beide Romane kannte ich noch aus meiner Kindheit.“ Er holte tief Luft. „Was soll ich sagen? Es war seltsam. Es war phantastisch! Ich habe die beiden letzten Nächte durchgelesen. Nie war ich so gefesselt.“

Es klang wie ein hohler, billiger Werbespruch, als ich antwortete: „Das ist, weil Sie die Bücher nicht einfach irgendwo gekauft haben.“ Aber genau das war vermutlich die Wahrheit. Anders als im Internetshop oder im Buchclub war ein kleines Buchgeschäft, wie das meine, von jedem einzelnen verkauften Exemplar abhängig. Das wussten die Bücher. Und deshalb strengten sie sich beim Leser entsprechend mehr an. So oder wenigstens so ähnlich musste es sein. Es war zumindest ein für mich einleuchtender Erklärungsversuch.

Auch Beatrice gab alles. Sie empfing alle Leute gleich freundlich und beriet sie mit außerordentlicher Fachkompetenz. Insbesondere zu aktuellen Titeln bewies sie ein gutes Wissen. Keine Frage: Buchhändlerin war nicht nur ihr Beruf, sondern auch ihre Berufung.

Die Zeit floss uns geradezu davon und mir wurde rasch klar, dass ich unseren weiteren Ausflug in das Buchland notgedrungen verschieben musste. Dennoch hoffte ich, dass wir vielleicht wenigstens einen kleinen Abstecher in den Keller unternehmen konnten.

„Wir haben knapp zwanzig Vorbestellungen für morgen“, erklärte mir Beatrice voller Enthusiasmus in der Mittagspause. Sie wedelte mit einem großen Bogen Papier. Darauf hatte sie die Titel- und Autorenangaben notiert. Daneben waren die Namen und Adressen der Kunden fein säuberlich notiert. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir in so kurzer Zeit den Laden in Schwung bringen könnten.“

Ich nickte. „Das ist in der Tat ein gutes Zeichen. Eine gute Geschäftsstraße braucht ein Zugpferd.“ Ich dachte an Frank, den Friseur. Früher war sein Salon der Publikumsmagnet im Viertel gewesen. Bei ihm unterhielt man sich, holte sich, während man frisiert wurde, den neuesten Klatsch und Tratsch. Die gewechselten Worte waren beinahe wichtiger als die aufwändige Dauerwelle. Wie sehr sich die Zeiten geändert hatten. Vielleicht hatten wir ja wirklich eine Chance, einige Menschen wieder hierher zu locken. Auch bei mir wurden Worte gewechselt, wenngleich sie nur auf Papier gebannt waren.

„Gehen wir zusammen in den Keller?“ Beatrice strahlte ob ihres Verkaufserfolges. Sie schien jegliche Scheu vor dem Keller abgelegt zu haben. Sie wollte nur Nachschub für ihren – nein – meinen Laden holen.

Bevor ich antworten konnte, fiel neben mir ein Buch aus dem Regal. Verdutzt bückte ich mich danach. Es war ein Coelho mit der Überschrift „Der Sieger bleibt allein.“ Ich verstand.

„Ach, Beatrice“, sagte ich, „es wäre mir recht, wenn Sie das allein schaffen könnten. Nach dem Ansturm brauchen meine Knochen wohl noch eine kleine Pause.“

Wie selbstverständlich drehte Beatrice an dem Maschinentelegraphen, bis die Kellertür für sie bereitstand und nur einen Augenblick später war sie auch schon verschwunden.

Natürlich freute ich mich, dass Beatrice ihren Erfolg genoss und den Keller obendrein so routiniert besuchen konnte. Dennoch murmelte ich misstrauisch: „Was habt ihr vor?“ Doch das ansonsten so hartnäckige Wispern um mich herum war verstummt. „Ich hoffe, ihr wisst, was ihr tut. Eure Ungeduld hat schon einmal fast alles zunichte gemacht.“

Ich vernahm einige Beschwichtigungsversuche. Sie hörten sich in meinen Ohren halbherzig und nicht unbedingt beruhigend an. Mich packte ein übler Verdacht. „Es ist mein Plan, den ihr umsetzen wollt. Nicht wahr? Und ihr wollt es allein tun. Ohne mich.“ Zorn überkam mich wie eine dunkle, rote Woge. „Ist das euer Dank?“

Plötzlich veränderte sich die Luft. Bleischwer lastete sie auf mir. Das Licht im Raum sickerte davon, ließ mich in einem glimmenden Zwielicht zurück. Meine Glieder verloren alle Kraft. Ich sank auf den Boden, rang nach Luft.

„Dank?“ Das Wispern der vielen Stimmen vereinigte sich, sprach machtvoll in mir. „Bedenke, wer du bist. Erinnere dich, wem du deine Macht zu verdanken hast.“

„Aber“, keuchte ich, „ihr könnt sie doch nicht allein dieser großen Gefahr entgegenschicken. Wer soll sie schützen?“

„Glaubst du, dass es in deinen Befähigungen liegt, sie vor irgendetwas zu bewahren? Oder ist es vielleicht deine Eitelkeit, die danach verlangt, gemeinsam mit ihr den Großen Büchern gegenüberzustehen?“

„Wird sie in ihnen lesen?“

„Nein … Noch nicht.“ Die Stimme verlor sich, während sie sprach. Übrig blieb wieder das Flüstern der unzähligen Stimmen.

Vorsichtig versuchte ich mich aufzurichten und es gelang mir tatsächlich. Ich humpelte zu meinem Stock, legte mein Körpergewicht auf ihn. Es waren nicht die Schmerzen, es war die Machtlosigkeit; noch nie hatte ich mich so alt und schwach gefühlt wie in diesem Moment.

Humpelnd schleppte ich mich zu dem Maschinentelegraphen, hieb den Regler ganz nach unten. Die Wand glitt zur Seite und surrend schob sich mir das Sichtrohr eines Periskops entgegen. Darunter waren zahlreiche Räder angebracht. Im Keller konnte ich damit einige kleine Spiegel und Prismen steuern …

Der Buchwagen war bereits mit einem Großteil der bestellten Bücher gefüllt. Er stand vor der Treppe, unschuldig und leblos. Der ganze Keller schien wie ausgestorben und von Beatrice war weit und breit keine Spur zu sehen.

Ich drehte das Periskop ganz nach rechts und stellte die Linse neu ein. Mein Blick fokussierte sich die Wand entlang bis zu einem Prisma, das ein kleines unscharfes Bild widerspiegelte. Jetzt drehte ich eines der Rädchen, bis sich das Bild im Prisma schärfte. Doch ich sah nur einen verlassenen Gang. Auf dem Boden lag eine Schnur und führte in die Tiefe geradewegs in die hinteren Bereiche. „Gutes Mädchen“, flüsterte ich, denn Beatrice hatte offensichtlich nicht alle Vorsicht fahren lassen. Ich zoomte mich durch den Gang. Körperlos bewegte sich mein Blick bis zum nächsten Prisma. Daran befestigt waren auch einige Linsen, Spiegel und Rohre. Wieder nachjustieren. Ich kannte den Weg, den sie Beatrice gelockt hatten. Wie mochten sie es angestellt haben? Mit Geräuschen oder dem Wispern oder einfach eine Spur aus Brotkrumen? Es wäre ihnen zuzutrauen.

Kreative Menschen sind neugierig. Und ohne Zweifel war Beatrice kreativ. Ansonsten bliebe das ganze Spiel fruchtlos. Doch selbst Wolfgang hatte es gespürt: Beatrice strahlte es durch jede Pore aus, ohne dass es ihr selbst bewusst gewesen wäre. Gerade das machte sie so faszinierend.

Gerne hätte ich einige Zeilen ihres ersten Manuskripts gelesen. Doch es war tatsächlich für immer verloren. Hoffentlich würde es zu einem zweiten Schreibversuch kommen. Es wäre unverzeihlich, wenn ihr Talent ungenutzt bliebe. Gerade in der heutigen Zeit brauchte es wirklich neue Ideen. Die Literatur versumpfte seit Jahren im eigenen Dreck. Auf der einen Seite stand der Kommerz, der nur sein Zielpublikum bediente, das er selbst geschaffen hatte. Auf der anderen Seite warteten die Roes und andere Stümper, die durch die neuen Medien in der Lage waren, ohne Sinn und Verstand alles auf den Markt zu werfen, was ihnen aus den Fingern floss. Manche waren sogar dazu bereit, dafür zu bezahlen.

Es oblag mir nicht, über Qualität zu wachen. Die Groschenhefte vergangener Zeiten hatten sich manchmal recht überraschend als besonders wertvoll erwiesen. Doch es war meinem wachsamen Auge nicht entgangen, dass das Buchland vor einem schmerzlichen Umbruch stand.

Kunst darf nicht reglementiert werden. Sie muss frei sein. Allerdings darf sie auch nicht in die Beliebigkeit abdriften, sonst verliert sie ihren Wert für die Gesellschaft.

Der Gang endete unvermittelt an einer eisernen Tür. Ornamente schmückten ihren Rand und wundervoll geschmiedete Symbole nahmen den Raum dazwischen ein. Im oberen Drittel waren außerdem untereinander zwei kreisrunde Motive eingelassen. Je vier Buchstaben, kreuzförmig darin angeordnet, ergaben die Worte „VITA“ und „MORS.“ Außerdem waren zahlreiche Totenschädel eingeprägt. Sie lächelten auf ihre sehr spezielle Weise den Betrachter an und ließen keinen Zweifel aufkommen, was hinter diesem Portal warten könnte.

Im vollkommenen Gegensatz zu den angsteinflößenden Bildern stand in goldenen Lettern über dem Rahmen „Siehe, ich komme; im Buch ist von mir geschrieben. “

Ich rückte von dem Sehrohr ab, schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Stimmen um mich herum. Ich lud sie ein, meinen Geist mit mir zu teilen. Und sie nahmen es an. Ich hörte sie in mir. Sie erzählten mir von dem, was sich gerade hinter dem Portal zutrug …

Hinter Beatrice hatte sich das Portal geschlossen. Sie stand auf einem von gleißendem Sonnenlicht gefluteten Acker. Angenehm warm trug die Luft süßliche Gerüche zu ihr. Von dem Kellergewölbe, das sie hinter sich gelassen hatte, war nichts mehr zu sehen. Da war nur die eiserne Tür, die frei in einer endlosen braunen Landschaft stand. Einige Kornblumen wuchsen schüchtern zwischen den von der letzten Ernte übrig gebliebenen Getreidestoppeln.

Etwa zwanzig Schritte entfernt stand ein Baum. Prachtvoll gewachsen trug er an der linken Seite weißen Blütenschmuck. Der obere Teil seiner Krone stand in vollem Laub. Die rechte Seite dagegen war braun und welk. Vereinzelt hingen dort verlockend rote Äpfel.

Unter dem Baum stand ein großer, schlichter Schreibtisch. Er wirkte ebenso deplatziert wie der Aktenschrank, der aus der Rinde des Baumes herauszuwachsen schien. Gefüllt mit kleinen Kladden, Heften und Ordnern, nahm er einen grotesken Platz in dem mächtigen Baumstamm ein.

Auf dem Boden, ohne erkennbares Muster verteilt, steckten einige Schriftrollen und Bücher. Sie wirkten kostbar, doch es schien, als hätte sie jemand in den Ackerboden eingepflanzt.

Es war ein ganz und gar surreales Bild, das sich vor Beatrice ausbreitete und die Sense, die im monströsen Wurzelwerk hinter dem Schreibtisch lag, verbesserte den beklemmenden Eindruck der Szenerie nicht.

„Komm ruhig näher“, sagte der junge Mann, der an dem Schreibtisch saß. „Hab keine Scheu.“

Beatrice konnte nicht anders. Ihre Füße trugen sie dem Tisch entgegen. „Wo bin ich hier?“

„Buchhaltung.“ Die Antwort wirkte genau so unwirklich wie alles andere hier. Der Mann blätterte in einem Buch, das vor ihm aufgeschlagen auf der Tischplatte lag. Gekleidet in einen schwarzen Anzug, ein schwarzes Hemd und eine weiße Fliege, wirkte er fast väterlich. Es lag etwas Vertrautes in seinen Gesichtszügen. Bea betrachtete ihn, als hätte sie ihn schon einmal gesehen. Vielleicht vermutete sie, dass er mal ein Partygast gewesen war, den man ihr flüchtig vorgestellt hatte, den sie aber schon kurze Zeit später wieder vergessen hatte. Unsicher fragte sie schließlich: „Kennen wir uns?“

„Wir sind uns schon einige Male begegnet. Bei deinen Eltern und deiner Tochter zum Beispiel.“

Beatrice wurde schwindelig. Sie schwankte leicht. Ihr Kopf erschien ihr wie in Watte gepackt. Sie wollte weiterfragen. Doch ihr fiel nur eine ganz andere Frage ein: „Sind wir immer noch im Buchland?“

Der Fremde legte den Kopf schief. „In gewisser Weise … Es gibt Bücher, die sind mit Wissen gefüllt. Solche wirst du hier an diesem Orte nicht finden. Es gibt auch Bücher, die sind mit Gefühl erfüllt. Sie haben bei mir keinen Platz. Es gibt Bücher, die werden von Phantasie getragen. Für mich sind solche Bücher nicht von Wert.“

„Aber du schreibst doch in dieses Buch dort vor dir.“

„Ich schreibe so etwas Ähnliches wie Zahlen. Ich bin nur ein Buchhalter, kein Autor. Alles, was ich in meinen Rechnungen addiere, wird zum Ende subtrahiert. Unter dem Strich muss immer null herauskommen.“

Beatrice dachte an die Buchstaben in der Tür: „VITA“ – das Leben. „MORS“ – der Tod. Beatrice verstand endlich. Ja, addieren und subtrahieren …

Sie dachte an ihre Eltern. Sie dachte an ihre Tochter. Sie alle waren gegangen vor ihrer Zeit. „Aber wenn nichts übrig bleibt … Was ist dann der Sinn des Lebens?“

„Keine Ahnung. Ich schreibe nur dem Leben Rechnung. Das, was das Leben umgibt, steht in den Büchern dort vorne.“

Beatrice schaute zu den Büchern, die im Boden steckten.

„Bücher des Glaubens?“

„Bücher des Glaubens … Jaaaaa. Diese Beschreibung passt ziemlich gut. Es sind die ‚großen Bücher‘. Sie wachsen auf meinem Acker ziemlich gut.“

Beatrice wagte sich näher an den Mann heran. Sie umschritt sogar den Tisch. Dann streckte sie die Hände aus und versuchte nach den Kladden im Regal zu greifen. Doch kurz bevor ihre Fingerspitzen die Kartonagen berühren konnten, schien sich die Perspektive zu verschieben. Ihre Finger schrumpften. Erschrocken zog sie die Hand zurück.

„In dieses Regal passen zur Zeit etwa sieben Milliarden Hefte. Ein kleiner …“ Der Mann lächelte vielsagend. „… Trick. Möchtest du einen Blick in eines werfen?“

Ohne sich von seinem Stuhl zu erheben, streckte er sich nach hinten, griff ohne Mühe nach einer Kladde in der Mitte, zog sie heraus und hielt sie Beatrice entgegen.

Liniert, Din-A4. Schwarzer Einband mit roten Ecken. Sie las das aufgeklebte Etikett: „Rachel Liber.“

Bevor Beatrice danach greifen konnte, zog der Mann es wieder zurück, warf selbst einen Blick auf das Etikett. „Oh, ich bitte um Verzeihung. Da habe ich zielsicher ein abgelaufenes erwischt.“ Mit einer schwungvollen Bewegung warf er die Kladde in den Papierkorb vor seinen Füßen. Sie fiel wie in Zeitlupe und löste sich in ein Nichts auf, bevor sie den Boden berührte.

„Nein“, schrie Beatrice, hob den Papierkorb in panischer Verzweiflung und drehte ihn um. Nichts viel heraus.

Der Mann schüttelte bedauernd den Kopf, zog dann die unterste Schublade seines Schreibtischs auf und entnahm einen Handfeger und eine Kehrschaufel. Damit kehrte er das Nichts wieder auf und kippte es zurück in den Eimer.

„Alles muss seine Ordnung haben“, erklärte er nüchtern. „Für die Revision ist es bei weitem zu früh. Außerdem wollte ich dir eigentlich ein anderes Buch zeigen. Freunde von dir haben mich gebeten, dir einen Blick dorthinein zu gestatten. Ich habe zwar keine Ahnung, was sie sich davon versprechen, doch ich bin ein freundlicher Geselle und kann ihnen ihre Bitte nicht abschlagen.“

Wieder langte er in das Regal. Dieses Mal nahm er das Büchlein daneben, prüfte die Aufschrift und warf es Beatrice entgegen. „Ingo Liber“, rief der Mann. „Seine Bilanz steht schon lange im Soll. Ein absolutes Ärgernis. Ich vermute, die Schlussabrechnung ist in Kürze fällig.“

Beatrice fing die Kladde auf … dachte nicht lange nach … und stopfte sie sich unter den Hosenbund. Dann rannte sie los. Der Mann sprang von seinem Stuhl auf, die Sense flog in seine Hand. „Meine Liebe!“ Seine Worte klangen nicht wütend: Sie klangen mahnend. „Meine Liebe, ich bitte dich …“ Doch Beatrice wollte nicht mehr reden. Sie stürmte zurück zur Tür und prallte mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Die Tür schwang auf, sie stürzte hindurch und fiel … und fiel … und fiel …

Schreiend trudelte sie ins Bodenlose, bis sie das Bewusstsein verlor.

Ich öffnete meine Augen und atmete tief ein. Benommen versuchte ich, wieder richtig zu mir zu kommen. Was war da gerade alles passiert? War es passiert? „Bea“, entfuhr es mir. Nichts konnte mich halten. Ich eilte die Kellertreppe hinunter, die Schmerzen verdrängend. In Sorge um Beatrice ließ ich alle Vorsicht fahren, humpelte so schnell es mir möglich war den Weg entlang, den ich eben noch beobachtet hatte. „Beatrice“, rief ich immer wieder, bis ich sie schließlich entdeckte.

Ich fand sie in dem Gang mit den Biographien des vergangenen Jahrtausends. ‚Ecce homo‘, ‚Ich‘ und ‚Die letzten Lebensjahre 1963-1967‘ ruhten einträchtig in den Regalen.

Das eiserne Portal war spurlos verschwunden. Nur Beatrice lag allein auf den grauen Fliesen, das Gesicht nach unten, wie tot da. „Ihr hättet sie nicht allein dorthin gehen lassen sollen!“ Ich richtete meine Anklage in den leeren Gang. „Ich hätte sie beschützen müssen.“

Ängstlich ließ ich mich neben sie auf die Knie fallen und ergriff in größter Sorge ihre Hand. Sie war warm! Meine Finger schoben sich zum Handgelenk. Erleichtert stellte ich fest, dass ihr Puls ruhig und regelmäßig gegen meinen Daumen schlug. Entgegen meinen schlimmsten Befürchtungen erkannte ich, dass sie auch ansonsten unverletzt geblieben war.

Ich tätschelte sanft ihre Wange. Beatrice stöhnte unruhig, warf den Kopf einige Male unruhig hin und her, als wäre sie in einem bösen Traum gefangen. „Wachen Sie auf“, flüsterte ich ihr sanft zu, und beim Klang meiner fast tonlosen Stimme kam sie tatsächlich langsam zu sich.

„Was ist passiert?“ Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, konnte ich in ihren Zügen lesen, wie ihr die Erinnerungen entgegenschlugen. Ängstlich schaute sie sich um. Doch von dem Fremden war keine Spur mehr zu sehen.

Das Buchland schien nun den Atem anzuhalten. Es richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf uns, rückte ganz nahe an Beatrice heran, nur um zu hören, was sie als nächstes sagen würde. Die Spannung war fast greifbar. Wie würde sie auf all das reagieren?

„Ich habe Hunger.“

Buchland

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